KNUT MELLENTHIN

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Präsidentensturz misslungen

Was haben Weißrussland und Palästina gemeinsam? In beiden Ländern verfolgt der freie Westen unerbittlich sein demokratisches Ideal: Mit Strafmaßnahmen drohen - und so lange wählen lassen, bis das Ergebnis endlich den eigenen Interessen und Vorstellungen entspricht.

Nach diesem Prinzip hatten die USA und die europäischen Großmächte schon im September 2001 versucht, den "letzten Diktator Europas", den belarussischen Präsidenten Alexander Lukaschenko, zu stürzen. Schätzungsweise 40 Millionen Dollar hatten damals die US-Regierung sowie zahlreiche "private" Organisationen und Stiftungen der USA und der EU in diesen Versuch investiert. Vergeblich: Lukaschenko siegte mit 75,6 Prozent der Stimmen. Sein wichtigster Herausforderer Wladimir Gontscharik, ein ehemaliger Gewerkschaftsfunktionär, erreichte nur 15,4 Prozent.

Schon damals hatte sich die Opposition, von amerikanischen und europäischen Experten fürsorglich an die Hand genommen, darauf vorbereitet, gleich in der Wahlnacht "Betrug!" zu schreien, zu Demonstrationen aufzurufen und Neuwahlen zu fordern. Die Taktik hatte ein Jahr zuvor, am 5. Oktober 2000, in Jugoslawien zum Sturz von Slobodan Milosevic geführt. Belarus hätte das zweite Glied in einer Kette ferngesteuerter und fremdfinanzierter "demokratischer Revolutionen" werden sollen. Aber in der Wahlnacht des 9. September 2001 versammelten sich in Minsk nur gerade mal 2000 Menschen, um entweder den Sieg von Gontscharik zu feiern oder gegen die "Wahlfälschung" zu protestieren. Kurz nach Bekanntgabe des Ergebnisses löste sich die "Menge" in gedrückter Stimmung auf und ging nach Hause. Es dauerte danach noch bis zum November 2003, bevor der NATO in Georgien die zweite der bestellten "Revolutionen" gelang.

Am 17. Oktober 2004 ließ sich Lukaschenko durch ein Referendum die Option auf eine dritte Amtszeit legalisieren. Von diesem Moment an schien es für westliche Politiker und Medien eine ausgemachte Sache, dass man "den letzten Diktator Europas" bei der nächsten Präsidentenwahl im Jahre 2006 zur Strecke bringen würde. Die "orange Revolution" in der Ukraine im November 2004 verstärkte die Zuversicht, es mit der gleichen Taktik demnächst auch in Belarus zu schaffen. Im Frühjahr 2005 erfanden westliche Werbeagenturen schon einen Namen für das Traumprojekt: "Kornblumen-Revolution" sollte es heißen, denn diese Pflanze gilt in Belarus als eine Art nationales Symbol. Eine pfiffige Idee, denn blau ist auch die Grundfarbe der Fahne der Europäischen Union, unter deren Patronage die sorgfältig geplante "Revolution" stattfinden sollte.

Lukaschenko jedoch zeigte, typisch Diktator, keine Neigung, sich so einfach abservieren zu lassen. Der Westen versuche schon seit zehn Jahren, ihn zu stürzen, aber werde damit auch künftig keinen Erfolg haben, verkündete er. In Belarus werde es keine ferngesteuerte Revolution geben - weder eine Orangen-Revolution noch eine Bananen-Revolution. Mit einem geschickten Schachzug brachte Lukaschenko den Zeitplan der Gegenseite durcheinander: Er verlegte die Präsidentenwahl, die eigentlich erst im September 2006 erwartet worden war, auf den 19. März dieses Jahres. Die Opposition geriet dadurch unerwartet unter Zeitdruck. Erst Anfang Oktober vorigen Jahres gelang die Einigung auf einen gemeinsamen Kandidaten, den politisch fast völlig unbekannten Physiker Alexander Milinkewitsch, der von der nationalistisch-antirussischen "Volksfront" präsentiert worden war. Auf einem Oppositionskongress setzte er sich völlig überraschend mit winzigem Vorsprung gegen den vom Westen favorisierten Vorsitzenden der wirtschaftsliberalen Vereinigten Bürgerpartei, Anatol Lebedko, durch.

Schon während des Oppositionskongresses wurde deutlich, dass das Ziel, sich auf einen einzigen gemeinsamen Kandidaten zu verständigen, nicht erreicht werden würde. Alexander Kosulin, der Vorsitzende der Vereinigten Sozialdemokratischen Partei, meldete ebenfalls seine Kandidatur an. Kosulin war in den Jahren 1998 bis 2001 Bildungsminister unter Lukaschenko gewesen, nachdem er sich zwischen 1988 und 1996 bis zum stellvertretenden Minister hochgedient hatte. Der sozialdemokratischen Partei, die ihn im April 2005 zum Vorsitzenden wählte, war Kosulin erst einen Monat zuvor beigetreten.

Als vierter Kandidat trat Sergej Haidukewitsch zur Präsidentenwahl an. Er führt die Liberaldemokratische Partei, die sich an die rechtsextreme russische Organisation gleichen Namens anlehnt, gilt aber als Verbündeter von Lukaschenko. Haidukewitsch hatte es bei der Wahl im September 2001 auf 2,5 Prozent gebracht. Seit der letzten Parlamentswahl im Oktober 2004 sind die Liberaldemokraten die einzige im Abgeordnetenhaus vertretene Nicht-Regierungspartei.

Fragwürdiges Umfrageergebnis

Nach dem vorläufigen amtlichen Endergebnis hat Lukaschenko die Wahl am 19. März mit 82,6 Prozent klar gewonnen. Bei einer Rekordwahlbeteiligung von 92,6 Prozent hat er nach Angaben der Wahlleitung rund 800.000 Stimmen mehr bekommen als im September 2001, nämlich 5,46 Millionen. Annähernd 400.000 Wähler (6 Prozent) stimmten für Milinkewitsch, 250.000 (3,5 Prozent) für Haidukewitsch und 154.000 (2,3 Prozent) für Kosulin.

Allein die Höhe von Lukaschenkos Wahlsieg gilt der belarussischen Opposition und westlichen Journalisten als Beweis, dass das Ergebnis gefälscht sein müsse. Überzeugend ist dass jedoch nicht. Denn das jetzige Resultat entspricht ziemlich genau dem, das Lukaschenko schon im Juli 1994 erreichte, als er zum ersten Mal in das kurz zuvor neu geschaffene Präsidentenamt gewählt wurde. Und selbst die Kreise, die ihn heute als "letzten Diktator Europas" bezeichnen, geben ohne Einschränkung zu, dass die 1994er Wahl frei, fair und demokratisch war. Lukaschenko war damals auch noch gar nicht in einer Position, die es ihm ermöglicht hätte, die Wahl zu manipulieren.

Das wesentliche Argument, das die Opposition für ihren Vorwurf des Wahlschwindels anführt, ist eine angebliche Umfrage, die durch das private russische Meinungsforschungsinstitut von Juri Lewada durchgeführt worden sein soll. Dabei soll es sich um ein sogenanntes exit poll, also eine Befragung der aus den Wahllokalen Kommenden am Wahltag, gehandelt haben. Sie soll ergeben haben, dass rund 47 Prozent für Lukaschenko und 25 Prozent für Milinkewitsch gestimmt hätten, was der Oppositionsführer flugs zu einem Drittel der Wähler aufrundete.

Diesem Zahlenspiel ist zu entnehmen, dass selbst die Opposition nicht den deutlichen Vorsprung Lukaschenkos in der Volksgunst zu bestreiten wagt, sondern sich darauf beschränkt, einen zweiten Wahlgang herausschinden zu wollen. Der wäre fällig, wenn der Amtsinhaber die absolute Mehrheit verfehlt hätte. Dahinter steckt die Absicht, wie 2004 in der Ukraine, die Zeit bis zum zweiten Wahlgang für Machtdemonstrationen auf der Straße auszunutzen, um das Kräfteverhältnis zu verändern. Schon bei der vorigen Wahl im Jahr 2001 hatte der damalige Herausforderer Gontscharik ein ähnliches angebliches Umfrageergebnis aus dem Hut gezaubert. Demnach hätte Lukaschenko damals lediglich 46 Prozent bekommen und er selbst 40 Prozent.

Das jetzt von der Opposition angeführte angebliche Umfrageergebnis hat einen wesentlichen Schönheitsfehler: Das Lewada-Institut, das den Liberalen Russlands nahe steht, hat nach Angaben der Wahlleitung keine Befragungen am Wahltag durchgeführt. Es wäre dazu nach belarussischem Recht gar nicht legitimiert gewesen. Weil exit polls fragwürdiger westlicher oder pro-westlicher Unternehmen bei den "demokratischen Revolutionen" in Jugoslawien, Georgien und der Ukraine eine zentrale Rolle spielten, hat Lukaschenko sie vorsorglich verbieten lassen. Sondergenehmigungen wurden nur zwei regierungsnahen Organisationen erteilt, die am Sonntag noch während des Wahlvorgangs ihre Ergebnisse veröffentlichen durften.

USA und EU drohen mit Sanktionen

Letztlich bestreitet kaum jemand ernsthaft, dass Lukaschenko in der belarussischen Bevölkerung sehr populär ist und auch ohne polizeiliche Schikanen gegen den Wahlkampf der Opposition klar das Rennen gemacht hätte. Die materiellen Gründe dafür liegen auf der Hand: Der Präsident hat konsequent die vom Imperialismus diktierten "Schocktherapien" und raubkapitalistischen Wirtschaftsexperimente verweigert. Viele Beschädigungen, unter denen Russland und die meisten post-sowjetischen Gesellschaften heute noch leiden, hat das Land dank dieser Politik vermieden. In Belarus sind keine Milliarden-Vermögen in der Hand von wenigen Spekulanten entstanden wie in Russland. Korruption ist dort zwar auch nicht unbekannt, aber sie ist geringer als im größten Teil der früheren Sowjetunion. Das Rentenniveau in Belarus liegt höher als in Russland, der Ukraine oder dem von der US-Regierung gehätschelten Musterländle Georgien. Und vor allem: Die Renten, ebenso wie die Löhne, werden im Gegensatz zu diesen Staaten zuverlässig und pünktlich gezahlt. Großen Wert legt der Präsident auch darauf, die Landwirtschaft und die Landbevölkerung durch gelenkte Investitionen und Subventionen vor den Katastrophen zu schützen, die sich in den meisten post-sowjetischen Gesellschaften ereignet haben.

Es gehört schon große Dreistigkeit und vor allem ein kräftiger Finanz- und Motivationsschub aus dem Ausland dazu, wenn Milinkewitsch und Kosulin vor diesem Hintergrund behaupten, sie seien die eigentlichen Gewinner der Wahl. Für ihre Klage, im Wahlkampf durch ständige Polizeischikanen - wie etwa die Festnahme von Flugblattverteilern - erheblich behindert und benachteiligt worden zu sein, können die Oppositionskandidaten durchaus schwerwiegende Fakten anführen. Aber dass sie am Montagabend in Minsk von vielleicht gerade mal 3000 Anhängern eine "Erklärung des Volks von Belarus" beschließen ließen, in der sie die Wahl für "ungültig" erklärten, kann man nur als lächerliche Farce und Anmaßung bezeichnen. Offensichtlich kommt es ihnen weitaus mehr darauf an, im westlichen Ausland zu punkten, als die Mehrheit der eigenen Bevölkerung zu überzeugen.

Ermutigt werden sie durch die Reaktion der Regierungen in USA und Europa auf den Wahlausgang. Das Stichwort, die Wahl sei "ungültig" und werde "nicht akzeptiert", kam vom Pressesprecher des Weißen Hauses, Scott McClellan. Eine Reihe von Politikern der EU-Gremien, die sich selbst vor allem durch das Fehlen jeglicher demokratischer Legitimation auszeichnen, drohten schon am Montagmorgen mit Sanktionen.

Besonderen Raum nimmt in den westlichen Medien die Reaktion der OSZE (Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa) ein, die mit über 400 Wahlbeobachtern in Belarus präsent war. Bereits Montagmittag lag die erste Stellungnahme der "OSZE-Wahlbeobachtungsmission" vor. Die Präsidentenwahl habe, so hieß es dort, nicht den OSZE-Kriterien für demokratischen Wahlen entsprochen.

Diese Stellungnahme ist freilich selbst ein Anschauungsbeispiel für völlig undemokratische Machtanmaßung. Tatsächlich werden die OSZE-Wahlbeobachter ihre Ergebnisse und Schlussfolgerungen erst in etwa sechs Wochen vorlegen. Dass sie dabei zu übereinstimmenden Aussagen kommen werden, ist höchst unwahrscheinlich. Denn der OSZE gehören mittlerweile 55 Staaten an, darunter beispielsweise Turkmenistan, wo freie Wahlen völlig unbekannt sind. Die Wahlbeobachter aus Russland und den übrigen Ländern der GUS - allesamt auch OSZE-Mitglieder - haben am Montag eine sehr positive (vermutlich allzu positive) Bewertung der Wahl als "frei, offen und transparent" veröffentlicht. Der Leiter der GUS-Beobachtergruppe, Wladimir Ruschailo, kritisierte, "dass das Ausland bei dieser Präsidentenwahl beispiellosen Druck ausgeübt hat".

Und die einseitige offizielle OSZE-Stellungnahme, die zumindest der Position der GUS-Staaten überhaupt nicht Rechnung trägt? Sieht man genauer hin, handelt es sich um persönliche Meinungsäußerungen eines US-Amerikaners, Alcee Hastings, der als "Sonderkoordinator" für die OSZE-Wahlbeobachter in Belarus fungierte und der unter Missbrauch dieses Amts Stellungnahmen im Namen der OSZE abgibt, zu denen er überhaupt nicht legitimiert ist.

In Allen westeuropäischen Stellungnahmen wird übereinstimmend betont, dass die demnächst zu beschließenden "Zwangsmaßnahmen" sich nicht gegen die Bevölkerung von Belarus richten sollen, sondern ausschließlich gegen "die Verantwortlichen des Regimes". Wirtschaftssanktionen stünden deshalb nicht zur Debatte. In erster Linie könnte es um eine Ausweitung des Einreiseverbots für bestimmte Personen sowie um Zugriff auf deren Auslandskonten - sofern denn solche überhaupt bestehen - gehen. Bisher sind von dem Einreiseverbot nur sechs belarussische Beamte und Politiker betroffen. Lukaschenko gehört nicht zu ihnen.

Dass hinter dem Verzicht auf Wirtschaftssanktionen wohl nicht nur humanitäre Rücksicht auf die belarussische Bevölkerung steckt, machte Lukaschenko in seiner ersten Reaktion auf die EU-Drohungen deutlich. Belarus liege "im Herzen Europas", sagte der Präsident. "Mehr als 100 Millionen Tonnen Transitfracht werden durch Belarus von und nach Russland transportiert. Wenn die EU auf diesem Gebiet Probleme bekommen will, kann es sie kriegen." Zum Haushalt der Nachbarstaaten Lettland und Litauen trügen die Wirtschaftsverbindungen mit Belarus rund 30 Prozent bei, so Lukaschenko. Ferner verwies er auf das wachsende Volumen der Transporte von Öl und Erdgas durch Belarus nach Europa.

Opposition trotz Niederlage gestärkt

Aktuell konzentrieren sich die Anstrengungen der USA und der EU darauf, die Regierung in Minsk durch Drohungen zu veranlassen, die Demonstrationen der Opposition im Stadtzentrum weiter gewähren zu lassen, in der Hoffnung, dass es schließlich doch noch zu einer "Volksbewegung" kommt. Der Pressesprecher des US-Präsidenten, Scott McClellan, "warnte" am Montag die belarussischen Behörden, "diejenigen, die ihre politischen Rechte wahrnehmen", zu behindern oder festzunehmen. Am selben Tag wurden in Washington vorm Pentagon Dutzende von Antikriegs-Demonstranten festgenommen, weil sie gegen Polizeiauflagen verstoßen haben. In ganz Europa wird man, vielleicht mit Ausnahme von Andorra, kaum ein einziges Land finden, in dem die Polizei nicht schon oft mit großer Brutalität gegen Demonstranten vorgegangen ist. Das wird freilich den Chor der Heuchler nicht hindern, über den "letzten Diktator Europas" herzufallen, falls die Minsker Polizei ihre bisherige Taktik aufgibt, die Anhänger der Opposition ungehindert gewähren zu lassen.

Nachdem die Regierungsbeamten um Lukaschenko und auch der Präsident selbst vor der Wahl mit überscharfen Sprüchen - wie etwa: man werde illegal Demonstrierende als Terroristen betrachten und behandeln - Nervosität zu erkennen gaben, ließen sie die Polizei in der Wahlnacht und auch am Montag zur allgemeinen Überraschung geradezu mustergültig zurückhaltend agieren. Dazu trug vermutlich wesentlich die Erleichterung bei, dass die Zahl der Demonstranten mit etwa 10000 in der ersten und 5000 in der zweiten Nacht sehr gering blieb, gemessen am Wählerpotential der Opposition von über einer halben Million Menschen.

Auf der anderen Seite wird der Regierung auch bewusst sein, dass die Opposition seit einer Reihe von Jahren nicht mehr so viele Anhänger auf die Beine gebracht hat. Nach der Präsidentenwahl vor fünf Jahren waren nur 2000 Menschen dem Demonstrationsaufruf gefolgt. Lukaschenko wird trotz seiner eindeutigen Bestätigung an den Wahlurnen künftig mit einer gestärkten Opposition rechnen müssen, sofern er sich nicht zu Repressivmaßnahmen verleiten lässt, die vermutlich selbst in Moskau Unwillen auslösen würden.

Knut Mellenthin

Junge Welt, 24.März 2006