KNUT MELLENTHIN

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Tödliche Soldaten

Untersuchungsbericht erhebt Vorwürfe gegen den Vorgesetzten von US-Soldaten, die afghanische Zivilisten ermordeten

Die Morde US-amerikanischer Soldaten an afghanischen Zivilisten wurden durch den Führungsstil des Kommandanten der Einheit begünstigt. Das ist laut SPIEGEL das Ergebnis eines geheimen Untersuchungsberichts der Armee, der dem Hamburger Nachrichtenmagazin anscheinend exklusiv zugespielt wurde. Warum der SPIEGEL aus dem ihm angeblich vorliegenden Papier von 532 Seiten Umfang nur einen kurzen Artikel machte, der die Vorwürfe nicht präzise beschreibt, sondern eher bagatellisiert, bleibt unklar.

Mit der Rolle von Oberst Harry Tunnell im Skandal um das sogenannte Kill Team hatten sich US-amerikanische Medien schon im Oktober vorigen Jahres beschäftigt. Dabei waren weitaus mehr Details zu Tage gekommen als jetzt im SPIEGEL erwähnt werden. Fünf Soldaten sind seit Herbst 2010 angeklagt, bei ihrem Einsatz in der afghanischen Provinz Kandahar mindestens drei „Zivilisten“ absichtlich, planmäßig und völlig außerhalb jeder Kampftätigkeit getötet zu haben. Anschließend wurden die Morde durch falsche Indizien, wie etwa eine abgelegte Handgranate oder Kalschnikow, und durch Absprachen zwischen den Beteiligten als „Selbstverteidigung“ gegen einen Angriff getarnt. Fürs Familienalbum fotografierten die Täter sich gegenseitig in zynischen Posen mit den Leichen und trennten Finger oder Zehen als „Trophäen“ ab. Tunnel war Chef der Fünften Stryker Combat Brigade – einer Einheit mit insgesamt rund 3800 Mann –, zu der das Killer Team gehörte.

Laut SPIEGEL wird dem Oberst, der zuvor 2003 und 2004 im Irak stationiert war, im Untersuchungsbericht vorgeworfen, er habe „sich für eine aggressive Kriegführung eingesetzt und andere Aufgaben vernachlässigt“. „Damit habe er gegen die vorgegebene Strategie verstoßen, Vertrauen bei der Bevölkerung aufzubauen.“ Wörtlich wird aus dem 532-Seiten-Dokument der Satz zitiert: „Tunnels Unachtsamkeit für administrative Aufgaben hat möglicherweise geholfen, ein Klima zu schaffen, in dem Fehlverhalten passieren konnte.“

Das ist allerdings eine stark verharmlosende Aussage, die vom wesentlichen Sachverhalt ablenkt. Als die Brigade im Juni 2009 nach Afghanistan verlegt wurde, machte Tunnell von Anfang an kein Geheimnis aus seiner tiefen Verachtung für die damals gerade ausgegebene neue Linie, etwas weniger schnell am Abzug zu sein, unnötige „zivile“ Opfer zu vermeiden, „die Bevölkerung zu schützen“ und „die Herzen und Hirne der Menschen zu gewinnen“. US-amerikanische Zeitungen zitierten im Oktober 2010 Aussagen Tunnells, dass die verordneten Methoden nicht funktionieren könnten und dass „militärische Führer auf die Vernichtung des Feindes konzentriert bleiben müssen“. Es sei „buchstäblich unmöglich, irgendeinen überzeugten Terroristen, der Amerika hasst, dazu zu bringen, seinen Standpunkt zu ändern. Sie müssen rücksichtslos angegriffen werden.“ Einzig und allein wirksam seien genau jene Methoden, „über die die politische Korrektheit uns zu sprechen verbietet“. Im Irak hatte er seine Untergebenen angewiesen, die Bevölkerung durch gewalttätiges und erschreckendes Auftreten einzuschüchtern. Als Tunnell nach den „nicht-tödlichen Bemühungen“ seiner Brigade gefragt wurde, soll er geantwortet haben: „Ich habe keinen einzigen nicht-tödlichen Soldaten in meiner Brigade.“

Einer dieser tödlichen Soldaten, Jeremy N. Morlock, wurde am 23. März wegen Mordes zu 24 Jahren Gefängnis verurteilt. Nach Angaben seiner Anwälte könnte er in sieben Jahren entlassen werden. Er hatte sich den Ermittlern als Kronzeuge gegen seine Mitangeklagten zur Verfügung gestellt.

Knut Mellenthin

Junge Welt, 4. April 2011