Funktionen für die Darstellung
Seitenpfad
Nicht länger geheim
90.000 US-Dokumente zum Afghanistankrieg ins Internet gestellt
Über 40 afghanische Zivilisten wurden am vorigen Freitag getötet, als NATO-Kampfhubschrauber ein Dorf in der Provinz Helmand angriffen. Die NATO-Sprecher reagierten wie üblich: Es gebe „keine Hinweise“ auf Opfer unter der Bevölkerung. NATO-Truppen hätten lediglich „mehrere Kilometer“ von dem Dorf entfernt gegen „Aufständische“ gekämpft. Indessen liegen schon zahlreiche Berichte von Augenzeugen vor, die Journalisten internationaler Medien vor Ort gesammelt haben. Am Montag bestätigte auch ein Sprecher der afghanischen Regierung, dass minestens 45 Zivilisten ums Leben gekommen seien. Später gab das Büro von Präsidenten Hamid Karsai die Zahl der Getöteten mit 52 an.
Eine Fundgrube für den Ablauf solcher „Kollateralschäden“ des NATO-Krieges in Afghanistan sind die rund 92.000 bisher geheimen US-amerikanischen Dokumente, die am Wochenende von Wikileaks ins Internet gestellt wurden. Die Gruppe hat sich die Schaffung größerer Transparenz über die Kriegspolitik der USA und ihrer Verbündeten zur Aufgabe gemacht. Erstmals bekannt wurde Wikileaks im April durch die Veröffentlichung schockierender Videoaufnahmen: Sie zeigten die tödliche Jagd einer US-amerikanischen Hubschrauberbesatzung auf irakische Zivilisten, einschließlich der menschenverachtenden Sprüche der Mordschützen.
Die jetzt öffentlich zugänglichen Militärdokumente stammen aus den Jahren 2004 bis 2009. Sie enthalten unter anderem Schilderungen des Verlaufs militärischer Aktionen, Berichte über zivile Opfer und über versehentliche Verluste in den eigenen Reihen durch „friendly fire“, Untersuchungen über die Bewaffnung der Taliban sowie Geheimdienstakten beispielsweise über vermutete Kontakte zwischen pakistanischen Dienststellen und afghanischen Aufständen.
Wie Wikileaks an diese Zehntausende geheimer Files gelangte, ist bisher noch unbekannt. Um größtmögliche Publizität für die Informationsschätze zu erreichen, hatte die Gruppe einen ungewöhnlichen, aber äußerst wirkungsvollen Weg gewählt: Statt die Dokumente selbst sofort ins Netz zu stellen, machte sie diese schon vor mehreren Monaten gleichzeitig der New York Post, der britischen Tageszeitung Guardian und dem Spiegel zugänglich. Deren Journalisten sichteten und prüften zunächst das umfangreiche Material, bevor sie am gestrigen Montag in großer Aufmachung darüber berichteten. Gleichzeitig stellte Wikileaks einen großen Teil der Geheimakten ins Internet:
http://wikileaks.org/wiki/Afghan_War_Diary,_2004-2010
Die US-Regierung reagierte auf die Veröffentlichung erwartungsgemäß polemisch. In einer am Montagmorgen versandten Stellungnahme behauptete Obamas Nationaler Sicherheitsberater General James Jones, die Bekanntgabe der Dokumente „kann das Leben von Amerikanern und unseren Partnern gefährden“ und sie „bedroht unsere nationale Sicherheit“. Außerdem habe Obama am 1. Dezember 2009 eine „neue Strategie“ für den Afghanistankrieg verkündet, durch die viele in den Geheimpapieren behandelte Missstände abgestellt worden seien.
Journalisten vergleichen jetzt die von Wikileaks zugänglich gemachten Dokumente mit den Pentagon-Papieren, die Daniel Ellsberg 1971 veröffentlichte. Tatsächlich war deren politische Bedeutung allerdings weit größer, weil sie die Lügen aufdeckten, mit denen die US-Regierung das Land in den Vietnamkrieg gesteuert hatte. Die jetzt im Internet vorliegenden Dokumente hingegen scheinen im Wesentlichen schon Bekanntes zu bestätigen und zu vertiefen. Das kann indessen den großen Wert dieser Veröffentlichung und den Mut der Wikileaks-Betreiber nicht schmälern.
Knut Mellenthin
Junge Welt, 27. Juli 2010