KNUT MELLENTHIN

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"Frieden für alle Zeiten"

Der damalige sowjetische Regierungschef Nikita Chruschtschow bezeichnete sie als „größte Rede eines amerikanischen Präsidenten seit Roosevelt“. Sowjetische Medien veröffentlichten sie ungekürzt und unzensiert. Gemeint ist die Ansprache, die John F. Kennedy am 10. Juni 1963 in der mit der Methodistischen Kirche verbundenen American University in Washington hielt. Der 45Jährige hatte sein Amt im Januar 1961 als jüngster Präsident angetreten, der jemals durch Wahl auf diese Position gelangt ist. Fünf Monate nach dieser Rede, am 22. November 1963, starb Kennedy durch ein immer noch unaufgeklärtes Attentat. Sein politischer Gegenspieler und Partner Chruschtschow wurde elf Monate  später, am 14. Oktober 1964, entmachtet. Unter anderem wurde ihm vorgeworfen, bei der Suche nach Kooperationsmöglichkeiten mit dem Westen übereilt und zu nachgiebig vorgegangen zu sein.

Kennedys Rede in der American University kreiste nach den üblichen höflichen Einleitungsworten ausschließlich um ein Thema, „über das allzu oft Ignoranz herrscht und zu selten die Wahrheit wahrgenommen wird, obwohl es das wichtigste Thema der Erde ist: der Weltfrieden“. „Ich spreche von echtem Frieden“, sagte der Präsident, „die Art von Frieden, die das Leben auf Erden lebenswert macht, die Art, die Menschen und Nationen ermöglicht, zu wachsen, zu hoffen und ein besseres Leben für ihre Kinder aufzubauen. Nicht nur Frieden für die Amerikaner, sondern Frieden für alle Männer und Frauen. Nicht nur Frieden in unserer Zeit, sondern Frieden für alle Zeiten.“ 

Er spreche vom Frieden, erläuterte Kennedy, „wegen des neuen Gesichts des Krieges. Totaler Krieg macht keinen Sinn in einer Zeit, wo Großmächte über umfangreiche, relativ unverwundbare Nuklearwaffen verfügen und sich weigern, zu kapitulieren, ohne auf diese Waffen zurückzugreifen . Er macht keinen Sinn in einer Zeit, wo eine einzige Atomwaffe die zehnfache Sprengkraft aller von den alliierten Streitkräften während des Zweiten Weltkriegs eingesetzten Waffen besitzt.“

Nicht nur die Führer der Sowjetunion müssten ihre Einstellung ändern, betonte Kennedy im erstaunlichsten Teil seiner Rede, sondern „auch wir müssen unser Verhalten überprüfen – als Individuen und als Nation -, denn unser Verhalten ist ebenso wesentlich wie ihres“. Es folgten Bekundungen der Anerkennung und Sympathie für das russische Volk und für die Rolle der Sowjetunion im Zweiten Weltkrieg, die ihren Eindruck in Moskau offenbar nicht verfehlten.

Dennoch war es nicht viel, was Kennedy konkret mitzuteilen hatte: Erstens, er habe mit Chruschtschow und mit dem britischen Premierminister Harold Macmillan vereinbart, dass demnächst in Moskau hochrangig besetzte Diskussionen über ein Abkommen zur Einstellung der Atomversuche beginnen sollten. Zweitens, die USA würden auf nukleare Testexplosionen in der Erdatmosphäre verzichten, so lange andere Staaten keine unternehmen würden. 

Tatsächlich führten die Verhandlungen, die im Juli 1963 in Moskau stattfanden, so schnell zum Erfolg – nach nur zwölf Tagen -, dass man annehmen kann, die Sache sei zumindest in großen Zügen schon vor Kennedys Rede zwischen Washington und Moskau abgemacht gewesen. Am 5. August 1963 unterzeichneten die Vertreter der Sowjetunion, der USA und Großbritanniens das sogenannte Begrenzte Teststop-Abkommen. Die Vertragspartner und alle Staaten, die sich ihnen anschlossen,  verzichteten damit auf atomare Versuchsexplosionen in der Atmosphäre, im Weltraum und unter Wasser – nicht jedoch auf unterirdische Versuche. Es dauerte noch 33 Jahre bis zur Unterzeichnung des Comprehensive Nuclear Test Ban Treaty, der auch diese einschloss. Dieser Vertrag ist jedoch bis heute nicht in Kraft getreten, weil ihn unter anderem die USA nicht ratifiziert haben. 

In den 1950er und 1960er Jahren hatten die USA und die Sowjetunion Hunderte von Atomversuchen unternommen. Viele davon fanden über der Erd- oder Wasseroberfläche statt. Die größte Testexplosion, eine sowjetische im Jahre 1961, hatte eine Stärke von mehr als 50 Megatonnen, was etwa 4.000 Hiroshima-Bomben entsprach. Daneben führten auch Großbritannien und Frankreich – dieses seit Februar 1960 – Versuche durch. Militärische Kreise und deren Lobbyisten in den Medien bestritten die damit verbundenen massiven Gesundheitsschäden, obwohl diese schon damals offensichtlich wurden. Von über 2.000 Nukleartests, die im Laufe der Jahrzehnte unternommen wurden, kommen mindestens 1.151 auf das Konto der USA, darunter 331 in der Erdatmosphäre. Russland folgt mit 715 Versuchsexplosionen, Frankreich mit 210, Großbritannien und China mit je 45.

Verhandelt wurde über ein Teststop-Abkommen schon seit 1955. Als „Zeichen guten Willens“ verzichteten die Sowjetunion und die USA von November 1958 bis September 1961 auf überirdische Versuchsexplosionen. Der zentrale Streitpunkt in den Verhandlungen war, dass Moskau einerseits eine totale Einstellung der Atomversuche, also auch der unterirdischen, anstrebte, andererseits aber die zahlreichen internationalen Kontrollen auf dem Territorium der Vertragsstaaten ablehnte, die Washington als Voraussetzung eines solchen Vertrags verlangte. 

Die US-Regierung hatte deshalb schon im April 1959 unter Kennedys republikanischem Vorgänger Dwight D. Eisenhower vorgeschlagen, die Frage der Inspektionen zunächst zurückzustellen und die unterirdischen Versuche aus dem Abkommen auszuklammern. Letztlich hat Chruschtschow seinen Widerstand gegen diesen „Kompromiss“ aufgegeben. In seinen Memoiren begründete er, dass er sich gegen die Kontrollen gewehrt habe, weil sie den Amerikanern möglicherweise Einblick in die tatsächliche relative Schwäche des sowjetischen Atomarsenals hätten geben können.

Da der Zweck der Atomversuche im Wesentlichen darin bestand, immer effektivere Waffen zu entwickeln, bedeutete deren Verbannung aus der Atmosphäre, dass der erhebliche Vorsprung der USA abgesichert wurde und sogar ausgebaut werden konnte. Auf dem Gebiet der unterirdischen Versuche, die weiterhin erlaubt blieben, waren die Vereinigten Staaten der Sowjetunion weit überlegen. Darüber hinaus stellte das Begrenzte Teststop-Abkommen aus Sicht der Kennedy-Administration ein Manöver vor allem gegen China dar, das kurz vor seinem ersten Atomversuch war, aber daneben auch gegen Frankreich, das bereits begonnen hatte, sich als autonome Atommacht zu etablieren.  Beide Staaten haben diesen Vertrag niemals unterzeichnet. China führte am 16. Oktober 1964 seinen ersten Atomversuch durch.   

Während der Verhandlungen über das Abkommen ließ Kennedy sondieren, ob auf sowjetischer Seite Bereitschaft bestand, eine gemeinsame Militäraktion gegen China in Erwägung zu ziehen. Das war offenbar nicht der Fall. Chruschtschow soll sogar geäußert haben, der Besitz eigener Atomwaffen könne auf die chinesischen Führung mäßigend wirken. Trotzdem ist anzunehmen, dass durch das Abkommen das Misstrauen der Chinesen gegen die Sowjetunion verstärkt wurde. Acht Jahre nach Kennedys Rede machte Präsident Richard Nixon sich den Gegensatz zwischen den beiden größten sozialistischen Staaten zunutze, um China gegen die Sowjetunion auszuspielen. 

Zitat aus Kennedys Rede (Commencement Address) an der American University, 10. Juni 1963

Jeder Absolvent dieser Schule, jeder nachdenkliche Bürger, der am Krieg verzweifelt und den Frieden will, sollte damit beginnen, nach innen zu blicken – indem er seine eigene Einstellung zu den Möglichkeiten des Friedens, zur Sowjetunion, zum Verlauf des kalten Krieges, zu Freiheit und Frieden hier bei uns zuhause überprüft.

Als Amerikaner finden wir den Kommunismus zutiefst abstoßend, weil er die persönliche Freiheit und Würde verneint. Aber wir können dennoch das russische Volk hochschätzen für viele Errungenschaften - in der Wissenschaft und im Weltraum, in der Wirtschaft und im industriellen Wachstum, auf kulturellem Gebiet und in mutigen Taten. Unter den vielen Zügen, die die Völker unserer beiden Länder gemeinsam haben, ist keiner stärker als unsere Abscheu gegenüber dem Krieg. Fast einzigartig unter den Großmächten ist, dass wir nie Krieg gegeneinander geführt haben. Und keine Nation hat in der Kriegsgeschichte jemals mehr gelitten als die Sowjetunion im Laufe des Zweiten Weltkriegs. Mindestens 20 Millionen Menschen verloren ihr Leben. Unzählige Millionen Häuser und Höfe wurden verbrannt oder geplündert. (…) Sollte jemals wieder ein totaler Krieg ausbrechen, gleichgültig wie, würden unsere beiden Länder die Hauptziele werden. Es ist eine ironische Tatsache, dass die zwei stärksten Mächte auch die sind, die am meisten der Gefahr der Verwüstung ausgesetzt sind. Alles, was wir aufgebaut haben, alles, wofür wir gearbeitet haben, würde in den ersten 24 Stunden zerstört werden.

Knut Mellenthin

Junge Welt, 8. Juni 2013