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Die Woche, die die Welt veränderte
Vor vierzig Jahren, am 21. Februar 1972, traf Richard Nixon in Peking ein. Es war die erste Reise eines US-Präsidenten in die 1949 gegründete Volksrepublik. Die Visite dauerte bis zum 28. Februar und war damit für einen Staatsbesuch außergewöhnlich lang. Nixon sprach später von „the week that changed the world“. Tatsächlich änderte sich einerseits unglaublich viel, doch andererseits auch erstaunlich wenig. China ist heute zweitgrößte Wirtschaftsmacht der Welt und wichtigster Gläubiger der hochverschuldeten USA. Aber diese liefern immer noch Waffen an das Separatistenregime auf Taiwan, haben Truppen in Südkorea und Japan stationiert, und schicken sich gerade an, die strategische Einkreisung Chinas zu forcieren.
Dass der Präsident der Vereinigten Staaten nach China kam und wenige Stunden nach seiner Ankunft mit dem 78jährigen, damals schon schwer kranken KP-Vorsitzenden Mao Tse-tung zusammentraf, überraschte niemanden mehr. Der eigentliche Paukenschlag lag da schon sieben Monate zurück: Er hatte in der Ankündigung des Besuchs bestanden, die am 15. Juli 1971 gleichzeitig in Los Angeles – Nixons privater Wohnsitz befand sich in der Nähe - und Peking erfolgt war. Das war zum damaligen Zeitpunkt eine echte Sensation, die weltweit kaum jemand für möglich gehalten hätte. Schließlich hatte der einzige Kontakt zwischen beiden Staaten seit 1949 in den sogenannten Botschaftergesprächen bestanden, die zwar nicht wirklich geheim, aber doch ohne Öffentlichkeit mehr oder weniger kontinuierlich geführt wurden. Insgesamt fast 140 mal trafen sich im Laufe der Jahre chinesische und US-Diplomaten zuerst in Genf, später in Warschau, um hauptsächlich praktische Fragen zu erörtern.
Das gemeinsame Kommunique, mit dem Nixons Staatsbesuch angekündigt wurde, hatte dessen 48jähriger Sicherheitsberater Henry Kissinger während eines zweieinhalbtägigen Geheimtreffens in der chinesischen Hauptstadt mit Premierminister Tschu En-lai ausgehandelt. „In den fast sechzig Jahren, die ich im öffentlichen Leben stehe, habe ich keine Persönlichkeit erlebt, die so faszinierend war“, urteilt Kissinger in seinem 2011 erschienenen Buch „China“. Sowohl Tschu, der bei seinem ersten Zusammentreffen mit dem Amerikaner 73 Jahre alt war, als auch Mao starben 1976 – der eine im Januar, der andere acht Monate später. Beide haben also die Aufnahme diplomatischer Beziehungen zwischen China und den USA, die erst 1979 erfolgte, nicht mehr erlebt.
Die ungefähr 48 Stunden, die sich Kissinger vom 9. bis 11. Juli 1971 heimlich in Peking aufhielt, hatte er durch einen Trick vor den internationalen Medien verheimlicht: Während einer längeren Reise durch mehrere asiatische Hauptstädte hatte Nixons Abgesandter im pakistanischen Rawalpindi scheinbar geschwächelt und sich angeblich zur Erholung in eine Bergstation am Fuße des Himalaja zurückgezogen. In Wirklichkeit flog er mit einem kleinen Team von ausgesuchten Mitarbeitern nach China. In Washington hätten von diesem Abstecher nur zwei Personen gewusst, behauptet Kissinger: Richard Nixon und Alexander Haig, der damalige Stabschef des Präsidenten.
Zentrales Aktenmaterial aus dieser Zeit, darunter auch die Gesprächsprotokolle, ist längst freigegeben und heute auch bequem im Internet zugänglich. Es lohnt die Lektüre. Im Gegensatz zum modernen Standardverfahren, bei dem solche Begegnungen von Experten sorgfältig vorbereitet und wesentliche Differenzen schon im Vorfeld des Besuchs abgehandelt werden, prallten damals in Peking die Verhandlungsführer ungefiltert und ohne diplomatische Bandagen direkt aufeinander. Dabei führte Kissinger ständig ein dickes Paket Aufzeichnungen und Hintergrundmaterial, genannt „das Buch“, mit sich, während der chinesische Regierungschef Zeugenberichten zufolge ganz frei sprach und alle benötigten Fakten im Kopf zu haben schien.
Zwei Themen standen bei Kissingers Geheimbesuch im Zentrum der Debatte: Die Taiwan-Frage und der Vietnamkrieg. Es gab am zweiten Tag, dem 10. Juli 1971, eine Situation, in der Tschu auf Ausweichmanöver Kissingers damit reagierte, dass er die chinesischen Positionen zum Taiwan-Thema noch einmal in wenigen Sätzen zusammenfasste und dann fortfuhr: „Wenn die Lösung all dieser Fragen einer späteren Phase überlassen werden soll, wäre dann nicht die Zwischenzeit eine von Spannungen geprägte? Und wenn keins dieser Probleme während des Besuchs Ihres Präsidenten gelöst würde, was wäre dann das Ergebnis seines Besuchs? Nicht nur die Menschen in unserem Land, sondern in der ganzen Welt würden uns diese Frage stellen und würden sie Ihnen stellen. Wenn der Besuch des Präsidenten entschieden und bestätigt wird, sollte es Anstrengungen geben, sich in diese Richtung zu bewegen. Natürlich stellen wir das nicht als Vorbedingung für den Besuch des Präsidenten. Aber wir meinen, dass es als Ergebnis des Besuchs eine bestimmte Richtung der Bemühungen geben muss. Wir haben die Taiwan-Frage immer als unsere innere Angelegenheit betrachtet, die wir selbst lösen müssen. Wenn diese Probleme nur aufgeschoben werden, dann wird der Spannungszustand zwischen unseren beiden Seiten fortbestehen.“
Spannung aber bedeute Chaos, fuhr Tschu fort, sprang plötzlich zur Kriegspropaganda Indiens gegen Pakistan – die Krise um Ostpakistan, das spätere Bangladesch, spitzte sich gerade zu –, und wechselte damit das Thema von einem konfrontativen Gegenstand zu einem anderen, in dessen Beurteilung es Gemeinsamkeiten zwischen Peking und Washington gab. Kissinger nahm den Ball dankbar auf. Kurze Zeit später kam der Chinese jedoch wieder auf den Vietnamkrieg – an diesem Problemkreis waren die Verhandlungsführer schon am Vortag heftig aufeinandergeprallt - und auch auf das Thema Taiwan zurück.
Letztlich wurde während Nixons Besuch im Februar 1972 keine der großen Streitfragen gelöst. Der Vietnamkrieg endete erst mit der Befreiung Saigons am 30. April 1975, nachdem Nixon im Dezember 1972 noch einmal eine massive Bombenkampagne gegen Hanoi und Haiphong angeordnet hatte. Die diplomatischen Beziehungen zwischen den USA und China wurden, wie schon erwähnt, erst zum 1. Januar 1979 aufgenommen, fast sieben Jahre nach dem Besuch.
Am 17. August 1982, in der Amtszeit von Ronald Reagan, gab Washington in einem gemeinsamen Kommunique eine bemerkenswerte Zusicherung ab: „Die Regierung der Vereinigten Staaten stellt fest, dass sie nicht die Absicht hat, eine langfristige Politik der Waffenverkäufe an Taiwan zu verfolgen. Ihre Waffenverkäufe an Taiwan werden weder nach qualitativen noch nach mengenmäßigen Maßstäben den Umfang der letzten Jahre seit Aufnahme der diplomatischen Beziehungen zwischen den USA und China übersteigen. Die Regierung der Vereinigten Staaten hat vor, ihre Waffenverkäufe an Taiwan schrittweise zu verringern, was im Verlauf eines gewissen Zeitraums zu einer abschließenden Lösung führen wird. Mit dieser Feststellung erkennen die USA Chinas konstante Haltung zu einer gründlichen Lösung dieses Problems an. Um die Frage der US-amerikanischen Waffenverkäufe an Taiwan, die in der Geschichte wurzelt, im Laufe eines gewissen Zeitraums zu lösen, werden die beiden Regierungen alle Anstrengungen unternehmen, um Maßnahmen zu ergreifen und förderliche Bedingungen für eine gründliche Erledigung dieses Themas zu schaffen.“
Dreißig Jahre später sorgen die Waffenlieferungen der USA an das Separatistenregime immer noch für kurzzeitige Verstimmungen in Peking, die allerdings mittlerweile reinen Routinecharakter zu haben scheinen. Dass die USA und China in irgendeiner Weise an einer „abschließenden Lösung“ dieses Themas arbeiten, ist zumindest für die Öffentlichkeit ihrer Länder und der Welt nicht zu erkennen.
Letztlich war Nixons „Woche, die die Welt veränderte“, nicht wesentlich mehr als eine großartig inszenierte, pathetische Willensbekundung, dass zwei Staaten, die sich bis dahin nur feindselig und polemisch gegenübergestanden hatten, ohne auf Regierungsebene überhaupt miteinander zu kommunizieren, bei offener Darlegung und vorläufiger Beibehaltung ihrer konträren Positionen bereit waren, einen Weg der Zusammenarbeit auf Allen Ebenen einzuschlagen. Das allein löst noch keine Probleme, schafft aber eine wesentliche Voraussetzung, um überhaupt einen Dialog zu beginnen. Kissinger zitiert in diesem Sinn eine Äußerung Mao Tse-tungs bei seinem Treffen mit Nixon am 21. Januar 1972: „Es ist in Ordnung, gute Gespräche zu führen, selbst wenn keine Vereinbarungen erreicht werden. Denn was nutzt es uns, wenn wir in einer Sackgasse stecken bleiben? Wieso müssen wir unbedingt Ergebnisse erzielen?“
Die Protokolle der damals geführten Gespräche sind, beispielsweise aktuell mit Blick auf die Hass- und Kriegskampagne gegen Iran, ein Anschauungsbeispiel, was tatsächliche Diplomatie ist und was sie unter Umständen zu leisten vermag – aber auch, wo zwangsläufig ihre Grenzen liegen. Das könnte lehrreich sein in einer Zeit verblödender Propaganda, wo alles als Diplomatie bezeichnet wird, bei dem die Streitkräfte der Kontrahenten nicht direkt auf einander schießen. Seien es nun Auftragsmorde, Sabotageakte, Finanzierung separatistischer Terrorgruppen, Wirtschaftssanktionen bis zum Aushungern der „gegnerischen“ Bevölkerung, alle Arten von geheimdienstlichen Operationen zur Manipulierung eines „Regimewechsels“, und schließlich sogar das zur Alltagsroutine gewordene laute Nachdenken über den richtigen Zeitpunkt für die Entfesselung eines Krieges.
US-Präsident Barack Obama behauptet, er habe „alle Optionen auf dem Tisch“. Aber das ist nicht wahr. Eine fehlt zumindest bis jetzt: diplomatische Bemühungen, die diesen Namen verdienen, und Verhandlungen ohne ultimative Maximalforderungen. Das Treffen vom Februar 1972 zeigt in diesem Kontext, dass sich wesentliche Veränderungen in zwischenstaatlichen Beziehungen auch durch Aktionen einleiten lassen, die im ersten Moment und in der Anfangsphase überhaupt keine vorzeigbaren Fortschritte in den zentralen Streitfragen bringen.
Das wurde indessen nicht dadurch erreicht, dass die Meinungsverschiedenheiten und gegensätzlichen Interessen ausgeklammert oder beschönigt wurden. Im Gegenteil: Ein großer Teil der Gespräche während Nixons Besuch und während der beiden vorausgegangenen Reisen Kissingers nach Peking – er kam ein zweites Mal im Oktober 1971 – bestand in der präzisen Darlegung der Standpunkte beider Seite und in der Herausarbeitung der Differenzen. Ein anschauliches Produkt dieser Herangehensweise ist das sogenannte Schanghai-Kommunique, mit dem die Begegnung vom Februar 1972 abgeschlossen wurde. Es besteht aus drei Teilen: Zunächst fasste die chinesische Seite ihre Sicht der Dinge zusammen, dann die US-amerikanische. Im dritten Teil folgten die Feststellungen, in denen beide Seiten übereinzustimmen behaupteten.
Nach Kissingers Schilderung hatte Tschu En-lai diese Form unter Berufung auf eine Anweisung Mao Tse-tungs vorgeschlagen, als er im Oktober 1972 zum zweiten Mal in Peking verhandelte. In seinem Buch schreibt Kissinger dazu: „Ich war zunächst wie vor den Kopf geschlagen. Aber als ich darüber nachdachte, schien das unorthodoxe Format durchaus die Probleme beider Seiten zu lösen. Jede konnte ihre Grundüberzeugungen bekräftigen und damit die Öffentlichkeit im eigenen Land sowie besorgte Verbündete beruhigen. Die Differenzen waren seit zwei Jahrzehnten bekannt. Der Kontrast würde die erreichten Übereinkünfte deutlich hervortreten und die positiven Schlussfolgerungen viel glaubhafter erscheinen lassen.“
Der Republikaner Richard Nixon war aufgrund seiner politischen Biographie der richtige Mann für die schwierige Aufgabe, in den Beziehungen zur Volksrepublik „das Eis zu brechen“ und diese strategische Neuorientierung im eigenen Land mit Erfolg politisch-propagandistisch zu verkaufen. Die Demokraten, Liberalen und Kriegsgegner, die ihn ansonsten hassten und ihre Einstellung auch nicht änderten, hatte er in dieser Frage dennoch praktisch hinter sich. Und in seinem eigenen Lager gab es nur wenige, die dem antikommunistischen Hardliner, kalten Krieger und Freund der Taiwan-Lobby eine unstatthafte Beschwichtigungspolitik gegenüber dem Feind vorwerfen mochten.
Nixon hatte seine politische Laufbahn 1946 als 33Jähriger mit der Wahl zum Kongressabgeordneten begonnen. 1951 zog er als Senator für Kalifornien in den Senat ein. Nur zwei Jahre später wurde er Vizepräsident unter Dwight D. Eisenhower und behielt diesen Posten bis zum Ende von dessen Amtszeit 1961. Seine außergewöhnliche Blitzkarriere, der keine reichen Familienverhältnisse zugrunde lagen, verdankte Nixon wesentlich seiner Rolle während der McCarthy-Ära, der Hexenjagd auf „Kommunisten“, Liberale und Demokraten. Als Mitglied des Ausschusses für unamerikanische Umtriebe tat er sich um 1950 besonders beim Anprangern angeblicher kommunistischer Einflussagenten hervor, die das Außenministerium der USA und den gesamten diplomatischen Dienst unterwandert haben sollten.
Nixon kam auf seine politische Vergangenheit im Gespräch mit den Chinesen von sich aus zu sprechen. Beim ersten Treffen mit Tschu En-lai am 21. Februar wurde erwähnt, dass der frühere US-Außenminister John Forster Dulles sich 1954 am Rande der Genfer Korea- und Indochina-Konferenz geweigert hatte, dem chinesischen Premierminister die Hand zu geben. Der achtzehn Jahre zurückliegende Affront war offenbar immer noch als schwere Kränkung in lebhafter Erinnerung. An diesem Punkt sagte Nixon: „Wir haben mit alten Verhaltensmustern gebrochen. Wir betrachten jedes Land aufgrund seines eigenen Verhaltens, statt alle Länder in einen Topf zu werfen und zu sagen, dass sie sich alle in völliger Finsternis befänden, weil sie eine bestimmte Art von Philosophie haben. Und ich möchte dem Premierminister ganz ehrlich sagen, dass meine Standpunkte, weil ich der Eisenhower-Regierung angehörte, zu jener Zeit ähnlich waren wie die von Mr. Dulles. Aber die Welt hat sich seit damals geändert, und das Verhältnis zwischen der Volksrepublik und den Vereinigten Staaten muss sich gleichfalls ändern.“
Dass Nixons Sicht auf die Welt und den künftigen Platz Chinas darin sich geändert hatte, konnten aufmerksame Beobachter, wie es sie in Peking gab, vermuten, seit in der Oktoberausgabe 1967 der Zeitschrift Foreign Affairs sein Artikel „Asien nach Vietnam“ erschienen war. Der Republikaner, der damals gerade im Präsidentschaftswahlkampf stand, zollte darin zwar den gängigen Klischees über „Rotchina“ seinen Tribut, sprach aber auch die strategische Überlegung aus, „dass wir es uns auf lange Sicht nicht leisten können, China für immer außerhalb der Familie der Nationen zu lassen, wo es seine Phantasien nährt, seinen Hass pflegt und seine Nachbarn bedroht. Auf diesem kleinen Planeten ist kein Platz dafür, dass eine Milliarde seiner potenziell fähigsten Menschen in zorniger Isolation lebt“.
Dem Artikel und Nixons ersten Handlungen nach seinem Amtsantritt als 37. Präsident der USA im Januar 1969 war allerdings nicht zu entnehmen, dass er entwickelte Vorstellungen hatte, wie dieses strategische Ziel zu erreichen sein könnte oder dass er es überhaupt mit planmäßigen Schritten anzugehen versuchte. In der Zwischenzeit hatte die überraschende Tet-Offensive der vom Norden unterstützten südvietnamesischen Befreiungskräfte (Januar-Februar 1968) das Vertrauen der US-amerikanischen Öffentlichkeit in die Möglichkeit eines militärischen Sieges in Vietnam, wo die Vereinigten Staaten damals mehr als 500.000 Soldaten stationiert hatten, schwer erschüttert. Im Mai 1968 hatten Friedensverhandlungen in Paris begonnen, die sich aber anfangs sehr zäh gestalteten.
Der neue Präsident Nixon stellte zwar eine massive Reduzierung der Interventionstruppen in Aussicht und leitete diese auch tatsächlich ein. Auf der anderen Seite weitete er den Bombenkrieg gegen Kambodscha und Laos noch mehr aus. Im März 1970 wurde der neutralistische kambodschanische König Sihanuk von pro-imperialistischen Militärs gestürzt. Alle Welt vermutete dahinter die Hand der CIA, auch wenn Washington offiziell dementierte. Am 1. Mai 1970 begannen offene Bodenoperationen US-amerikanischer Truppen auf kambodschanischem Gebiet, die bis Ende Juni 1970 dauerten.
Nixon verfolgte damals das Konzept einer „Vietnamisierung“ des Krieges, das in ähnlichen Konstellationen als „Irakisierung“ oder „Afghanisierung“ immer wieder neu belebt wird, wenn die Interventionspolitik der USA in einer Sackgasse steckt. Im Wesentlichen bedeutete das: Herunterfahren der direkten eigenen Truppenpräsenz bei gleichzeitiger Steigerung der Unterstützung kollaborierender einheimischer Kräfte. Nixon hielt an dieser Strategie auch nach seinem Besuch in China unverändert fest. Letztlich war es der Kongress, der diese Politik stoppte, indem er dem Präsidenten die Finanzmittel zu deren Umsetzung zusammenstrich und praktisch verweigerte. Die Demokraten besaßen im Abgeordnetenhaus und im Senat schon seit der Wahl vom November 1968 eine Mehrheit, die sie zwei Jahre später noch ausbauen konnten.
Ein offensichtliches Ergebnis – und wohl auch der zunächst angestrebte Hauptzweck – der demonstrativen „Annäherung“ zwischen den USA und China war, dass die damit eingeleitete Entwicklung die Handlungsoptionen beider Seiten bereicherte und erweiterte. Das betraf vor allem ihre Beziehungen zur Sowjetunion. In dem so entstehenden Kräftedreieck hatte Washington die vorteilhafteste Position, weil es mit beiden anderen Staaten interaktionsfähig war und sie tendenziell gegeneinander ausspielen konnte. Dagegen konnte die Feindschaft zwischen der Sowjetunion und China, die sich seit Ende des 1950er Jahre entwickelt hatte und die im Frühjahr 1969 sogar zu heftigen militärischen Zusammenstößen geführt hatte, noch auf Jahre hin als zuverlässige Konstante gelten.
So lange Tschu En-lai im Zusammenspiel mit Mao Tse-tung die Außenpolitik der Volksrepublik bestimmte, beruhte diese im Wesentlichen auf einer materialistischen Analyse der Widersprüche und einer antiimperialistischen Grundorientierung. Anfang 1974 jedoch „verschwand“ Tschu „von der Bildfläche“, wie Kissinger es in seinem China-Buch ausdrückt, und wurde in seiner Rolle als führender Verhandlungspartner der USA durch Deng Hsiao-ping abgelöst. Ob dieser Wechsel nur durch eine Krebserkrankung des Premierministers verursacht war oder auch politische Hintergründe hatte, ist ungeklärt.
In der Folgezeit, vor allem nach dem Tod von Mao und Tschu im Jahre 1976, entwickelte sich die chinesische Beschreibung der Weltlage in eine hysterische Richtung, die mit den Realitäten immer weniger im Einklang stand. Peking wurde, zusammen mit den sich damals formierenden Neokonservativen der USA, zum Vorposten einer Denkschule, die der Sowjetunion nicht bloß alle nur vorstellbaren „aggressiven Ambitionen“ unterstellte, sondern diese Sichtweise auch durch hemmungslose Propagandalügen zu verkaufen strebte. Leonid Breschnew, Generalsekretär der KPdSU seit 1966, wurde zum „neuen Hitler“. Jede westliche Politiklinie, die auf Kooperation mit der Sowjetunion gestimmt war, wurde als „Appeasement“ verdächtigt und diffamiert, während sich jeder Kriegshetzer darauf verlassen konnte, von der chinesischen Propaganda als „wachsam“ gelobt zu werden. Aber das ist ein anderes Kapitel, das nun auch schon wieder weit hinter uns liegt. Wir leben, zum Glück, in einer Zeit, in der sich Russland und China auf ihre gemeinsamen Interessen zu besinnen scheinen.
Knut Mellenthin
Junge Welt, 21. Februar 2012