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"Du sollst dem Ochsen, der für Dich drischt, nicht das Maul verbinden!"
Tiere, Menschen, Religionen
Seit rund 10.000 Jahren leben Haus- und Nutztiere in enger Gemeinschaft mit dem Menschen. Bei der Herausbildung der menschlichen Zivilisation haben sie eine hervorragende Rolle gespielt. Die Zähmung und Ausnutzung von Herdentieren wie Ziegen und Schafen stellt ein wichtiges Zwischenglied und eine entscheidende Voraussetzung der Entwicklung vom steinzeitlichen Jäger zum seßhaften Bauern und zur Stadtkultur dar.
In den großen Religionen hat das besondere Verhältnis des Menschen zu seinen Haus- und Nutztieren viele Spuren hinterlassen. Damit beschäftigt sich das in diesem Jahr erschienene, von Wolf-Rüdiger Schmidt herausgegebene Buch "Geliebte und andere Tiere im Judentum, Christentum und Islam". Der Untertitel "Vom Elend der Kreatur in unserer Zivilisation" sagt bereits aus, worum es geht.
Allgemein gesprochen muß leider festgestellt werden, daß das praktische Verhalten der Menschen gegenüber den ihnen anvertrauten, von ihnen benutzten Tieren sehr weit hinter den hohen ethischen Ansprüchen zurückbleibt, die in den geheiligten Texten der großen europäisch-vorderasiatisch-nordafrikanischen Religionsgemeinschaften formuliert sind. Aber das gilt bekanntlich für die vielfältigen Bereiche des zwischenmenschlichen Miteinanders ganz genau so: Die Menschen haben sehr klare und weitgehende Begriffe davon, was gutes, gerechtes und solidarisches Handeln wäre, aber sie tun allzu oft etwas anderes und sogar das Gegenteil.
"Der Gerechte kennt die Seele seines Viehs"
Beginnen wir zunächst beim Judentum, das die entscheidende geistige Quelle für die christlichen Religionsgemeinschaften ebenso wie für den Islam darstellt. Daß man "dem Ochsen, der da drischt, nicht das Maul verbinden soll", ist eine biblische Maxime, die zumindest den Älteren unter uns noch als Sprichwort gut bekannt ist. Die Ermahnung zielt auf den Brauch, die in alten Zeiten zum Dreschen des Getreides eingesetzen Tiere durch Maulfesseln oder Maulkörbe daran zu hindern, vom Gegenstand ihrer mühseligen Arbeit zu naschen. Im weiteren Sinn ist gemeint: Du sollst dem, der für Dich arbeitet, seinen gerechten Anteil und Lohn nicht vorenthalten. Das gilt auch, aber eben nicht nur, für den Umgang der Menschen miteinander.
An den Festtagen der jüdischen Religion, besonders am Schabbat, sind auch die Tiere von jeglicher Arbeit befreit. Wer ein Tier hält, ist ihm gegenüber zur Fürsorge und Rücksichtnahme verpflichtet. Als Abraham für seinen Sohn Isaak eine Braut sucht, schickt er seinen erfahrensten Knecht los. Woran erkennt dieser "die Richtige": Als er an einem Brunnen ein hübsches Mädchen trifft und sie um einen Becher Wasser bittet, erfüllt sie nicht nur seinen Wunsch, sondern sagt: "Ich will auch für deine Kamele schöpfen, bis sie alle getrunken haben." - Es fällt schwer, in diesem Verhalten der jungen Rebekka das Nützlichkeitsdenken - Kamele gehörten zum wertvollsten Besitz der Menschen und mußten entsprechend sorgsam behandelt werden - mechanisch zu trennen vom schlichten Mitgefühl mit den Tieren. Sicher besaß sie ein gutes Herz ebenso wie einen umsichtigen Verstand.
In der Geschichte vom Propheten Jona lesen wir, wie Gott die große Stadt Ninive im Zweistromland, dem heutigen Irak, wegen der schlimmen Sünden ihrer Bewohner vernichten will. Aber, so erfahren wir dann, Gott entscheidet sich anders, denn es tut ihm leid um die Stadt, "in der mehr als 120.000 Menschen leben, die nicht wissen, was rechts oder links ist, dazu auch viele Tiere". Der Gott des Alten Testaments liebt alle seine Geschöpfe, wie uns auch die Erzählung von Noah und der Sintflut lehrt: Ein Paar von Allen Tieren muß in der Arche geborgen und gerettet werden, damit von der Vielfalt der Arten auch nicht eine einzige verlorengehe.
In den Sprüchen Salomos heißt es: "Der Gerechte kennt die Seele seines Viehs". Der hebräische Ausdruck "Die Seele kennen" bedeutet: wissen, wie jemandem zumute ist, sich in einen anderen hineinversetzen können. Die Luther-Bibel übersetzt daher dem Sinn nach richtig und auch für uns Heutige verständlich: "Der Gerechte erbarmt sich seines Viehs". - Allerdings geht dabei vom Originaltext doch ein nicht unwichtiger Teil verloren: das Tier hat eine Seele, hat Gefühle wie wir.
Wie Mohammed die Katze schlafen ließ
Der Islam entstand als Religion einer Kultur, die noch stark nomadisch geprägt war, also auf die Nutzung von Tieren in besonders hohem Maß angewiesen war. An erster Stelle ist hier das Kamel zu nennen, ohne dessen Hilfe die Durchquerung und Erschließung der großen arabischen und nordafrikanischen Wüstenräume überhaupt nicht möglich gewesen wäre. "In der Wüste sind Mensch und Tier untrennbar wie die Knie des Kamels", sagt ein Sprichwort der Beduinen.
Im Gegensatz zu Mitteleuropa, wo "Kamel" als Schimpfwort gilt, vor allem in Zusammenhang mit Dummheit, stehen in der islamischen Welt die positiven Eigenschaften des großen, kräftigen, ausdauernden und anspruchslosen Tieres im Vordergrund. Als "Gamal" oder "Kamal" ist es bei Muslimen ein sehr beliebter Männername.
"Laßt das Kamel auf Gottes Erde weiden und tut ihm nichts Böses an!", fordert der Koran von den Gläubigen. Die Schöpfung ist ein Geschenk Gottes an die Menschen. Indem wir die verschiedenen Produkte der Tiere genießen, aber auch indem wir uns an ihrer Schönheit freuen, sollen wir uns immer aufs Neue an die Barmherzigkeit und Fürsorge Gottes erinnern. Allah kennt jedes einzelne Geschöpf auf Erden und dessen Aufenthaltsort; er versorgt sie alle.
Legenden berichten von der Liebe des Propheten Mohammed zu Tieren. Als er einmal zum Gebet aufstehen wollte, bemerkte er, daß sich eine Katze auf den weiten Ärmel seines Mantels zum Schlafen gelegt hatte. Daraufhin trennte er dieses Stoffstück mit einem Messer vorsichtig ab, um das Tier nicht zu stören und dennoch beten zu können. Ein Mann, der vor den Augen eines Tieres das Schlachtermesser schärfte, wurde von Mohammed wegen dieser Grausamkeit getadelt. Es wird auch berichtet, daß der Prophet eines Tages ein angebundenes, abgemagertes Kamel fand, das bei seinem Anblick große Tränen weinte. Darauf hin habe Mohammed dem Halter schwere Vorwürfe gemacht: "Fürchtest Du nicht Allah um dieses Tieres willen, über das er Dir Macht gegeben hat?"
Renate Beyer, die das Kapitel über "Geliebte und andere Tiere im Islam" geschrieben hat, konfrontiert die Koran-Zitate und frommen Erzählungen immer wieder mit Berichten aus dem heutigen Alltag in Ägypten: die unglaubliche Quälerei und Gedankenlosigkeit auf dem Tiermarkt in Kairo; schlimme, trostlose Zustände beim Kamelhandel, der heute meist in den Schlachthof führt. Viel davon hat mit dem technischen Fortschritt einerseits und der Armut der Menschen andererseits zu tun. In der modernen arabischen Gesellschaft ist das Kamel als Transportmittel und Arbeitstier zunehmend überflüssig geworden; nun sinkt es zum billigen Fleischlieferanten für die Unterschichten herab und wird entsprechend geringschätzig behandelt.
Ähnliches stellt Hanna Rheinz in dem Buch für die israelische Gesellschaft fest: Ideal und Wirklichkeit klaffen auch dort weit auseinander. Die religiösen Vorschriften zum Schutz der Tiere fanden lange Zeit in der israelischen Gesellschaft wenig Beachtung. Quälerische Massentierhaltung in den Kibbuzim und Tierversuche beispielsweise wurden kaum kritisch in Frage gestellt. Erst 1994-95 wurde ein Tierschutzgesetz verabschiedet. Immerhin wird heute, wie Frau Rheinz schreibt, die Tierschutzbewegung von der Regierung finanziell unterstützt. Das israelische Erziehungsministerium fördert Projekte an den Schulen, in denen Kindern und Jugendlichen Kenntnisse über den Umgang mit Tieren und artgerechte Tierhaltung vermittelt werden soll.
Ehrfurcht vor dem Leben
Im christlichen Neuen Testament ist zum Thema "Mensch und Tier" kaum Erbauliches zu finden. Offenbar ist von Jesus keine Äußerung oder Handlung überliefert, die speziell dem Schutz der Tiere gilt oder eine Zuneigung des Heilands zu unseren tierischen Mitgeschöpfen ausdrückt.
Wiederholt kommen Tiere in Gleichnissen vor, mit deren Hilfe Jesus seinen Anhängern Fragen der Religion und Moral erläutert. Dabei wird aber jedesmal davon ausgegangen, daß die Tiere in einer imaginären Rangordnung der Geschöpfe weit unter dem Menschen einzuordnen sind. "Schaut Euch die Vögel an", sagt Jesus einmal. "Sie säen nicht und sie ernten nicht, und Gott ernährt sie doch. Um wieviel mehr gilt das für Euch, denn Ihr steht weit über den Vögeln."
Zutreffend stellen Wolf-Rüdiger Schmidt und Renate Beyer, die den Buchabschnitt zum Christentum geschrieben haben, fest: "Nein, das Neue Testament ist kein Buch der Tierfreunde, gar der Tierschützer. Bibelzitate zu suchen, um einen modernen Tierschutz zu begründen, wäre ein wenig erfolgreiches Unternehmen."
Freilich war Jesus, was von den christlichen Kirchen jahrhundertelang vergessen und verzerrt wurde, selbst ein strenggläubiger Jude, der die Schriften des Alten Testaments sehr gut kannte und als verbindliche Richtschnur des Handelns ansah. Daher kann das, was oben zur Stellung des Tieres in der jüdischen Religion gesagt wurde, auch bei Jesus als Überzeugung vorausgesetzt werden.
Immerhin findet sich im Markus-Evangelium der rätselhafte Auftrag Jesu an seine Jünger, den die Luther-Bibel übersetzt mit: "Gehet hin in alle Welt und predigt das Evangelium aller Kreatur!". Das dort verwendete griechische Wort "ktisis" hat tatsächlich viele unterschiedliche Bedeutungen: Es kann die Schöpfung bzw. die Gesamtheit der Geschöpfe meinen, aber auch die besiedelte Welt oder schlicht die Menschheit. Der Heilige Franz von Assisi jedenfalls bezog den Auftrag auch auf die Tiere: Es wird berichtet, daß er zu den Vögeln predigte und auch zu den Fischen. Auf vielen mittelalterlichen Wandgemälden und Altarbildern sind diese Szenen dargestellt und standen den Menschen in den Kirchen vor Augen.
Nicht alles, was im Namen des Christentums gegenüber den Tieren geschah, ist so anrührend-freundlich. Wie Schmidt und Beyer schreiben, wurden Tiere im christlichen Mittelalter auch exkommuniziert, vor Gericht gestellt, als Helfer des Teufels und der Hexen mit auf den Scheiterhaufen verbrannt. Vor allem aber wurde ihr Leiden aufgrund menschlicher Willkür, Gier und Hartherzigkeit weitgehend ignoriert.
Fast 2.000 Jahre lang galt in der christlichen Welt das sogenannte Römische Recht, wonach Tiere nur als Sachen betrachtet werden, also toten Gegenständen gleichgestellt sind. Der Schöpfungsauftrag Gottes, "Macht Euch die Erde untertan!", wurde lange Zeit als Lizenz zur gnadenlosen Ausplünderung unserer Mitmenschen ebenso wie der Tiere und der Naturschätze mißverstanden. Erst im vorigen Jahrhundert kam es in Teilen der Kirchen zu einer Neubewertung, und eine Reihe von Pfarrern waren maßgeblich an der Gründung der ersten deutschen Tierschutzvereine beteiligt. Der engagierte Menschenfreund Albert Schweizer prägte in unserem Jahrhundert den Ausspruch von der allumfassenden "Ehrfurcht vor dem Leben", von der "Ethik der Liebe zu allem Geschaffenen". Heute wächst in den christlichen Kirchen das Bewußtsein, daß eine Theologie und Weltsicht, der die Liebe und das Erbarmen für unsere tierischen Mitgeschöpfen fehlt, unter einem schweren Defizit leidet.
Knut Mellenthin
ich & du, Nr. 4/96
Wolf-Rüdiger Schmidt:
Geliebte und andere Tiere - im Judentum, Christentum und Islam.
Gütersloher Verlagshaus, 1996.
Preis: DM 16,80.