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BSE - ein menschlicher Wahnsinn
Die Natur schlägt zurück
Drei Worte, die sich kaum jemand merken kann: Bovine Spongiforme Enzephalopathie. Die Abkürzung kennt aber inzwischen jeder: BSE. Wörtlich: Schwammartige Gehirnerkrankung, Hirnschwamm. Im Deutschen meistens mit "Rinderwahnsinn" übersetzt. Die erkrankten Tiere werden aggressiv, torkeln und stolpern wie unter schwerem Alkoholeinfluß, brüllen vor entsetzlichen Schmerzen und sterben schließlich unter wilden Verrenkungen.
Leider empfanden anfangs einige Menschen das Wort "Rinderwahnsinn" als Einladung zu unbedachten und geschmacklosen Scherzen.
Inzwischen wird sehr viel weniger gelacht, wenn von BSE die Rede ist. Da man noch nicht einmal den Erreger der Seuche kennt, über die Ansteckungswege fast gar nichts weiß und über die Übertragbarkeit auf Menschen lediglich Vermutungen hat, sind den Spekulationen keine Grenzen gesetzt. Auf dem einen Pol finden wir Behauptungen britischer Politiker, daß Rindfleisch selbst für Kleinkinder unbedenklich sei und daß alles andere verantwortungslose Panikmache sei. "Nicht die Rinder sind wahnsinnig, sondern die Menschen drehen durch", faßte der britische Gesundheitsminister launig zusammen.
Auf dem Gegenpol sind wir mit Hochrechnungen konfrontiert, wonach in den nächsten Jahren 500.000, eine Million oder sogar zehn Millionen Menschen qualvoll an der Creutzfeld-Jakob-Krankheit (CJK) sterben könnten, die möglicherweise durch BSE-verseuchtes Rindfleisch verursacht wird.
Wirklich bewiesen ist der Zusammenhang zwischen BSE und CJK noch nicht. In Großbritannien hat es im letzten Jahr 55 Todesfälle durch CJK gegeben; das sind etwa doppelt so viele wie 1990. Dagegen ist zu halten, daß seit dem ersten Auftreten von BSE vor zehn Jahren 150.000 britische Rinder an der Seuche gestorben sind. Eine nicht unwahrscheinliche Schätzung geht davon aus, daß in diesem Zeitraum ungefähr 1,5 Millionen BSE-befallene Tiere von Menschen verzehrt wurden. Daran gemessen ist die Zunahme der CJK-Fälle äußerst gering, aber das bedeutet keine Entwarnung: Zwischen Infektion und Ausbruch der Krankheit liegen bei CJK ungefähr zehn Jahre. Da die ersten BSE-Fälle in Großbritannien 1986 registriert wurden, könnten wir tatsächlich ganz am Anfang einer Katastrophe stehen. Zum Glück ist das aber noch keineswegs gewiß.
Als sicher gilt, daß BSE durch das Füttern von Rindern mit "Tiermehl" aus den Innereien toter Schafe verursacht wird. Die entsprechende Schafskrankheit ist schon seit rund 200 Jahren bekannt; für den Menschen ist sie nach bisherigen Erkenntnissen nicht ansteckend. Erst auf dem Umweg über die Rinder scheint der Erreger eine für den Menschen gefährliche Wandlung vollzogen zu haben.
Seit 1988 ist in Großbritannien das Verfüttern von Schafsinnereien an Rinder verboten. Da man annimmt, daß bei BSE zwischen Ansteckung und Ausbruch der Krankheit etwa fünf Jahre liegen, müßte die Seuche inzwischen ausgerottet sein. Es treten aber immer noch, bei abnehmender Tendenz, jede Woche ungefähr 150 neue Fälle auf. Ein entscheidender Grund dafür ist, daß einige Viehhalter in verantwortungsloser Weise trotz Verbot weiter "Tiermehl" verfüttert haben. Völlig unklar ist aber außerdem, ob es nicht auch andere Infektionswege gibt: durch Kontakt zwischen den Tieren, von der Kuh auf ihre Nachkommen, vielleicht sogar durch den Kot der Rinder, usw.
Die Verantwortlichen hierzulande haben sehr lange gezögert, Maßnahmen zum Schutz gegen BSE zu ergreifen. Bereits 1990 war von Deutschland und Frankreich ein Importverbot gegen britisches Rindfleisch erlassen worden. Es wurde aber bald wieder aufgehoben mit der durch keine Tatsachen gestützten Behauptung, die Gefahr sei vorüber. 1994-95 gab es Streitereien zwischen mehreren Bundesländern, die selbständig ein Einfuhrverbot verfügt hatten, und der Bundesregierung, die sich dagegen quer legte. Noch im Februar dieses Jahres polemisierte Bundesgesundheitsminister Seehofer heftig gegen die Länder Bayern, Brandenburg, Nordrhein-Westfalen, Saarland und Rheinland-Pfalz, weil sie an ihrem Einfuhrverbot festhielten. Die bis dahin auf europäischer Ebene beschlossenen Maßnahmen seien ein wirkungsvoller und ausreichender Schutz, meinte Seehofer damals.
Kaum zwei Monate später verhängte die Europäische Union einen totalen Bann über britisches Rindfleisch. Er soll gelten, bis die Regierung in London einen umfassenden Plan für das "Notschlachten" von ca. 4 Millionen Rindern vorlegt.
Selbst jetzt konnten die Regierenden sich allerdings noch nicht entschließen, das Verfüttern von "Tiermehl" generell zu verbieten: An Schweine und Hühner darf es immer noch gegeben werden, obwohl bereits experimentell bewiesen wurde, daß auch diese Tiere sich an BSE anstecken können.
Die Folgen des Zögerns und Schönredens sind in jeder Hinsicht katastrophal. Wer sich jetzt entschließt, Rindfleisch erst einmal zu meiden, liest mit Erschrecken, in wievielen anderen Produkten Bestandteile vom Rind enthalten sind: Kosmetika, Medikamente, Süßigkeiten; außerdem können selbstverständlich in Allen nicht genau deklarierten Fleischprodukten auch Teile vom Rind mit verarbeitet sein. Ob Milch, Butter und Käse wirklich unbedenklich sind, weiß man auch noch nicht sicher. Als Folge der Verunsicherung der Verbraucher geraten viele kleine und mittlere Landwirte, die für den BSE-Skandal keine Verantwortung tragen, in eine äußerst kritische Lage.
Wir erinnern uns: Die Geschichte fing damit an, daß wiederkäuende Pflanzenfresser aus maßlosem Profitstreben mit Tierkadavern gefüttert wurden. Die Geschichte ging weiter, weil Politiker aus kurzsichtigen Wirtschaftsinteressen jahrelang vor den unvermeidlich notwendigen Maßnahmen zurückschreckten. Jetzt werden mehrere zehntausend britische Rinder, die größtenteils kerngesund sind, in die Schlachthäuser getrieben, nur aus einem einzigen Grund: Das Vertrauen der Verbraucher ins Rindfleisch soll wieder hergestellt werden. Wie es weitergehen soll, falls sich in den nächsten Jahren herausstellt, daß BSE auf diese Weise nicht in den Griff zu bekommen ist, weiß noch niemand.
"Macht Euch die Erde untertan!", sagte Gott dem Menschen bei der Schöpfung. Wir haben wohl nicht richtig hingehört. Von Kaputtmachen war nicht die Rede.
Knut Mellenthin
"ich & du", Nr. 2/96