KNUT MELLENTHIN

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Nur ein ganz kleiner Tod

Solo un gatto

Ein kleiner weißer Fleck am Fuß der einschüchternd hohen Mauer. Drumherum schiebende, drängelnde Menschen aller Nationen. Die pakistanischen Regenschirmverkäufer haben ein gutes Geschäft gemacht, Rom ist mit einem häßlichen Grauschleier überzogen.

Ein guter Tag zum Besuch der vatikanischen Museen - wir reihen uns ein in die fröstelnde  Menge. Der weiße Fleck nimmt Gestalt an: Wie süß, ein Katzenbaby! Neben den antiken Stätten, den unvorstellbaren Kunstschätzen und den über 700 Kirchen sind vor allem die zigtausend wildlebenden Katzen zum vielfotografierten Wahrzeichen der ewigen Stadt geworden.

Doch dieses Tierchen taugt nicht zum Postkartenmotiv: Unnatürlich still liegt es im schlammigen Straßendreck, seltsam ausgestreckt, wie zu einem imaginären Sonnenbad.
Blut läuft aus seinem Maul, bei unserer vorsichtigen Berührung schlägt es nur ganz kurz die Augen auf.
Keiner der Urlauber mag sich seinen Tag durch den Anblick des sterbenden Tieres verderben lassen.
Von ganz oben sei sie gefallen, und - ein kurzes Achselzucken.

Rom, die Wiege der Christenheit. Nicht wenige Touristen kommen aus religiösen Motiven: Eine Papstaudienz, ein Besuch der Pilgerkirchen, um von großen und kleinen Sünden befreit zu werden.
Das kleine Wesen, das hier im Schatten des päpstlichen Glanzes hilflos im Schmutz lag, wie ein Stück Müll, dauerte sie aber wenig.
Die Katze hatte sich mit ihrem Schicksal offenbar abgefunden: Ihre stumme Demut, mit der sie den Tod erwartete, dieses kleine, unbeachtete Elend stürzte mich in tiefe Verzweiflung.
Ich bin kein religiöser Mensch; aber Werte wie Verantwortung, Hilfsbereitschaft und Achtung vor dem Leben gelten auch jenseits des (christlichen) Glaubens.
Glücklicherweise habe ich einen wunderbaren Mann, der mit mir denkt und fühlt. Der das Katzenkind aufhob und keinen Moment zögerte, sein weißes Hemd mit dem Blut und den Exkrementen des Tieres zu ruinieren.

Die sixtinische Kapelle, das Lebenswerk Michelangelos, haben wir nicht besichtigt; die Gemälde  des göttlichen Raffael - das nächste Mal. Wir haben stattdessen viele Stunden mit der Fürsorge für unser "Adoptivkind" verbracht - und trotz des traurigen Anlasses wurde es ein guter, ja schöner Tag. Ein Tag, an dem wir uns entschieden haben: Für ein Tier, "nur" für eine Katze.

"Solo un Gatto - nur eine Katze", der Wächter des Vatikans war nicht bereit, das todkranke Tier entgegenzunehmen.

Doch es schien, als ob unsere Entscheidung dazu beitrug, die allgemeine Ignoranz aufzubrechen: Ein kleines Hotel in der Nähe bot Hilfe und Telefon (kostenlos!). Aber es war Wochenende; Tierärzte und der staatliche Tierschutzverein nicht zu erreichen.
Ein deutschsprechender Fremdenführer des Museums, der seine Mittagspause schachspielend auf den Stufen des Hotels verbrachte, bot ungefragt seine Unterstützung.
Er organisierte einen Telefondienst, Freunde sollten versuchen, einen Tierarzt aufzutreiben. Das Hotel wurde zur Tierschutz-Telefonzentrale - regelmäßig gingen Anrufe ein, man habe noch keinen Arzt erreichen können, werde es aber weiter versuchen. Der  Portier hatte schließlich Schichtende, gab aber alle Instruktionen an seine nachfolgende Kollegin weiter.

Auch draußen zeigte Rom sich wieder von seiner besten Seite: Die warme Sonne wärmte den kleinen "gattino (Katerchen)", der auf den Armen meines Mannes sein Elend verschlief. Soweit man es als Laie beurteilen kann, hatte er wohl keine inneren Verletzungen, sicher aber gebrochene Hinterbeinchen.

Solo un gatto? Immer mehr Menschen interessierten sich für das Schicksal des kleinen Tieres.
Das italienische Mädchen, das lange Zeit wie eine stumme Trösterin bei uns ausharrte; die junge Japanerin, die immer wiederkehrte und mit ihrem Vorrat an Taschentüchern half, gattinos Mäulchen von getrocknetem Blut und Schmutz zu säubern. Oder der alte Mann, der mit aufmunternden Schulterklopfen und einem "Buon cuore - gutes Herz" sichtlich bewegt davon schlurfte.

Schließlich nahte der rettende Engel in Gestalt einer Dame des örtlichen Tierschutzvereins, der wir den geschundenen kleinen Körper anvertrauten.
Vielleicht konnten sie den Kleinen retten, vielleicht werden wir ihn eines Tages wiedersehen, irgendwo in den antiken Kaiserforen - für Eingeweihte daran zu erkennen, daß er fast unmerklich ein Bein etwas nachzieht.
Vielleicht aber mußte er auch von seinen Schmerzen erlöst werden. Doch auch dann tröstet die Gewißheit, daß ihm ein unwürdiger Tod erspart blieb.

"Solo un gatto - nur eine Katze", ein Satz, den wir mehrmals hörten an diesem Tag. Daß dieser Satz nicht gilt, daß dieses kleine, zerzauste Lebewesen so vielen Menschen große Mühe wert war, das machte diesen Tag zu einem besonderen.
Später habe ich in einer Kirche einige Kerzen für ihn entzündet. Man weiß ja nie.

Eileen Heerdegen

ich & du, Nr. 4/96