KNUT MELLENTHIN

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Christian kommt, wenn Mutti ruft!

"Tiere haben keinen Verstand", sagt die Frau in der U-Bahn. "Tiere haben ja nur ein Großhirn", sagt die erfolgreiche Psychologin. "Tiere haben doch gar kein Gefühl", sagt die alternativ angehauchte Nachbarin.   
Wenn Menschen sich einbildeten, Tiere könnten so etwas wie Liebe empfinden, so sei das eine unzulässige "Vermenschlichung" einer "wilden" und "natürlichen" rein instinktgesteuerten Komponente unseres ökologischen Ganzen. Und mit leicht abschätzigem Blick auf das Hündchen im Arm der Dame aus dem 3. Stock fügt sie hinzu, daß die von uns abhängig gemachten Wesen, wie etwa Hunde oder Katzen, einfach instinktiv wüßten, daß unser Wohlwollen ihnen Nahrung und somit das Überleben sichere - ihre daraus resultierende Anpassung würden wir dann halt als Zuneigung mißinterpretieren.

Das Hündchen kann dazu nichts sagen, die Dame aus dem 3. Stock auch nicht. Sie hat Angst, ihre persönlichen Erfahrungen könnten ihr als unökologische Dummerhaftigkeit ausgelegt werden.
Auch vor der scheinbaren Kompetenz der studierten Psychologin werden die meisten Tierfreunde stumm kapitulieren - vielleicht traut man sich gerade noch, der einfachen Frau in der U-Bahn ein aus tiefstem Herzen stammendes "Quatsch" entgegenzuschleudern.

Diese drei Aussagen sind zwar völlig unhaltbar, trotzdem aber keine Einzelmeinungen. So etwas oder ähnliches hört man an jeder Strassenecke, in jeder Kneipe, in jeder Firma - überall scheinen sich Menschen bemüßigt zu fühlen, die Unterschiedlichkeit zwischen Tier und Homo Sapiens zu manifestieren. Wissenschaftlich fundiert sind diese Aussagen fast nie - wie auch, das Thema ist höchst kompliziert und selbst die Erforschung des menschlichen Gehirns ist längst nicht abgeschlossen. Erstaunlicherweise fallen die "Vergleiche" bzw. Unterscheidungsversuche fast immer zuungunsten der Fauna aus und sind allesamt geprägt von menschlichem Hochmut.

Das, was wir den Tieren wirklich voraus haben, ist unsere Fähigkeit zur Sprache. Der Vorteil, uns auf diesem Wege höchst differenziert zu äußern. Doch gerade wegen dieser vielfältigen Möglichkeiten, sich auszudrücken, ist Sprache auch verräterisch. Kein Verstand. Nur ein Großhirn. Kein Gefühl. Negationen - es fehlt etwas.  Das ist keine Auseinandersetzung mit der Andersartigkeit, sondern eine schnöde (Ab)wertung.

"Natürlich sind Tiere anders als Menschen, sonst würden sie ja nicht Tiere heißen." Diese Sichtweise des fünfjährigen Anton mag etwas verkürzt sein, aber sie ist so voll von herzerfrischender Offenheit und so wunderbar wertneutral.

Der selbstverliebte Hochmut, daß anders angeblich auch schlechter ist, hat bereits milliardenfaches Leid auf diesem Planeten verursacht. Jede noch so kleine Abweichung wird unbarmherzig verfolgt, und sei es nur eine andere Pigmentierung der (menschlichen) Haut.

Daß andere uns sogar (wenigstens partiell) überlegen sein könnten, können wir schlecht zugeben.
Die Spezies der Vögel etwa beherrscht etwas, wovon wir seit Menschengedenken träumen: Das Fliegen. Nicht in unförmigen Maschinen, die uns jederzeit in den Tod reißen können, sondern ganz elegant, selbständig und aus eigener Kraft. Daß sie nebenbei auch noch so brillant flöten, wie Ilse Werner es selbst in besseren Zeiten nie vermochte, weckt möglicherweise nur unbändigen Neid. Wir berauben sie ihrer einzigartigen Fähigkeit, indem wir ihnen kurzerhand die traumhaft bunten Federn stutzen. (Oder reißen sie ihnen gleich aus, um uns selbst damit zu schmücken.) Statt Bewunderung ernten sie Spott für ihr "Spatzenhirn". Dieser, mit eindeutig weniger Gehirn als wir ausgestattete kleine Vogel, wäre empört über die Beleidigung. Selbst der kleine Sperling ist nicht so dumm, zu glauben, daß aus Papiertüten Nahrung quillt. Aber er hat gelernt, bestimmte Bewegungen richtig einzuschätzen, z.B. daß der zur Tüte gehörende Mensch gleich hineingreifen wird und beim Verzehren seiner Nahrung meist ungeschickt genug ist, ein Bröckchen fallen zu lassen. So schlau ist ein Spatzenhirn.

Wenn die Katze gelernt hat, sich mit geschicktem Schwung so an eine Klinke zu hängen, daß sie selbst das fast aussichtslos erscheinende Manöver bewältigt, eine Tür in Richtung auf sich selbst zu öffnen - ist das Instinkt? Nicht vielleicht ein klitzekleines bißchen Verstand? Und wenn sie diese Schwierigkeit bewältigt - nicht etwa um dadurch an lebensspendendes Futter zu gelangen - sondern einzig und allein um mit ihren schlaftrunkenen Menschen nach einer langen Nacht endlich wieder zu schmusen - könnte da nicht ein klitzekleines bißchen Zuneigung im Spiel sein?

Oder der Hund, der seinen Besitzer selbst dann noch liebt, wenn der ihn fast hat verhungern lassen, wenn er geschlagen und gedemütigt wurde. Seinem unwürdigen menschlichen "Freund" noch aus dem Tierheimzwinger hinterherweint - erfüllt von dieser großen Liebe, die auch uns so manches ertragen läßt? Ist dieser Hund uns nicht eigentlich sehr ähnlich?

Apropos ähnlich: Würden Sie sagen, daß 99 Mark so wesentlich wertloser sind als 100 Mark?  Daß die eine lächerliche Mark den alles entscheidenden Unterschied ausmacht? Natürlich nicht.
Schimpansen haben zu 99% die gleichen genetischen Anlagen wie der Mensch. Dieses eine lächerliche Prozent macht sie zum Tier. Das allein wäre nicht schlimm, sofern es hier, frei nach dem kleinen Anton, nur um eine andere Bezeichnung ginge. Aber dieses eine lächerliche Prozent ist entscheidend für unseren fehlenden Respekt und es wird tragischerweise darüber entscheiden, daß ihre Tage auf dieser Erde gezählt sind.

Das klitzekleine Prozent ist verantwortlich dafür, daß sie fern ihrer Heimat in engen Käfigen dahinvegetieren, daß sie für fragwürdige medizinische Versuche mißbraucht werden, daß Mütter brutal ermordet werden, um ihre Babys als lebendes Spielzeug an zahlungskräftige Menschen zu verkaufen.
Und dieses eine lächerliche Prozent macht sie angeblich zu Wesen ohne Gefühl und Verstand.

"Christian, kommst du her! Christian - sofort! Das Geräusch trappelnder Kinderfüße, gefolgt von Sandalengeklapper, dazu die sich überschlagende Stimme einer hysterischen Mutter, reißen mich aus meinen Gedanken. Danach rhytmisches Klatschen auf einen offenbar gut gepolsterten (wahrscheinlich windelgeschützten) Hosenboden.
So sind die bitteren Tränen des zarten Bürschchens vor meinem Fenster wohl auch weniger Ausdruck eines körperlichen Schmerzes und mehr eine sichtbare Verstörung über die heftige Wut seiner Mutter. Nun wäre es vielleicht an der Zeit, den Kleinen in den Arm zu nehmen und ihm ruhig zu erklären, daß man eigentlich nur Angst hatte, er könne unter ein Auto geraten. Aber die mit einem weiteren Kleinkind am Rockzipfel offenbar überforderte Mutter ist so "in Brass", daß sie nicht locker läßt: "Christian kommt, wenn Mutti ruft! - sag das!" wiederholt sie mit immer kreischenderer Stimme. Endlich ist der Widerstand gebrochen. Etwas ziemlich Unverständliches, das sich bei gutem Willen nach dem eingeforderten Satz anhört, kommt stoßweise aus dem verheulten Mäulchen. Der kleine Christian versteht jetzt gar nichts mehr. Außer, daß es sehr demütigend ist, am kürzeren Hebel zu sitzen. Über die lauernden Gefahren des Straßenverkehrs hat er leider gar nichts gelernt.
Was nützt da die ganze schöne Intelligenz...

Ob ihnen nun ein Prozent oder sehr viel mehr zum Glück fehlt - Tiermütter scheinen es jedenfalls nicht nötig zu haben, demütigende Kabinettstückchen von ihren Jungen zu verlangen und kleine Seelen zu beschädigen.
Die Hundemutter  beißt ihrem Welpen einmal kurz über die Schnauze, wenn er über die Stränge schlägt. Das ist nicht sonderlich verletzend, aber unangenehm genug, damit der kleine Wildfang begreifen kann, daß jetzt Schluß mit lustig ist. Danach ist alles wieder gut, und kein zermürbender und verwirrender Liebesentzug wird den Kleinen vom Lernziel ablenken.
Die Schimpansin, die äußerst geschickt mittels Hammer und Amboß die härtesten Nüsse knackt, gibt dieses Wissen ganz selbstverständlich an ihren Jüngsten weiter. Wenn dessen Nachahmungsversuche noch ungeschickt ausfallen, wird nicht gemaßregelt oder ihm sogar entnervt das Werkzeug aus den dummen kleinen Fingern genommen (Kannst du nicht endlich lernen, die Gabel richtig zu halten...). Nein, ganz ruhig dreht die Mutter den Ast und zeigt einfach, wie's richtig wäre. Keine Überforderung, statt dessen viel Liebe und Verständnis.

Nun will ich keineswegs behaupten, im Tierreich sei alles eitel Sonnenschein. Ganz und gar nicht. Auch dort gibt es Hauen und Stechen, Mord und Totschlag, Gewalt und Brutalität. Ganz wie bei uns.
Aber auch unendlich viel Liebe. Ganz wie bei uns. Oder?

Die Orang-Utan-Frau, die verzückt ihr Neugeborenes in den Armen hält und stundenlang nur damit beschäftigt ist, es zu betrachten, an sich zu drücken und zu küssen, hat nichts als reine Liebe für ihr Kind parat. Hätten alle Menschen dieser Welt eine so zärtliche Mutter gehabt, würde es uns und den Tieren wahrscheinlich besser gehen.  

Ja, den Tieren scheint wirklich etwas zu fehlen: Die Fähigkeit des Menschen, all seine Intelligenz zu mißbrauchen, um andere zu demütigen. Wir sollten sie drum beneiden.

Eileen Heerdegen

ich & du, Nr. 3/99