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Schwere Kriegsverbrechen und katastrophale Menschenrechtslage in Somalia
Schwere Vorwürfe gegen "alle Konfliktparteien" erhebt die internationale Menschenrechtsorganisation Amnesty International (AI) in einem am Dienstag veröffentlichten Bericht zur Lage in Somalia. Sieht man genauer hin, sind es aber in erster Linie Verbrechen der äthiopischen Besatzungstruppen und der von ihnen an der Macht gehaltenen, nicht aus Wahlen hervorgegangenen "Übergangsregierung", die AI durch zahlreiche Zeugenaussagen dokumentiert.
Zu den im Untersuchungsbericht genannten Kriegsverbrechen der äthiopischen Streitkräfte gehört der Beschuss von Wohnvierteln, in denen bewaffnete Oppositionsanhänger vermutet werden, mit Panzerkanonen und schwerer Artillerie. Bei flächendeckenden Hausdurchsuchungen der Äthiopier und ihrer somalischen Verbündeten komme es regelmäßig in großem Umfang zu Plünderungen, Misshandlungen und Massenvergewaltigungen. Diese Untaten seien als völkerrechtswidrige "Vergeltungsmaßnahmen" gegen die möglicherweise mit der Opposition sympathisierende Zivilbevölkerung zu werten, urteilt AI. Bei Razzien würden äthiopische Scharfschützen auf den Dächern postiert, um auf fliehende Zivilisten zu feuern. Häufig würden festgenommene Männer, Zeugenaussagen zufolge, von den Äthiopiern "wie Ziegen abgeschlachtet". Das heißt, ihnen wird die Kehle durchgeschnitten und sie werden dann verblutend liegen gelassen. Das gilt zugleich als Warnung an ihre Angehörigen, ihr Haus zu verlassen. Über 600.000 Menschen sind nach UN-Schätzungen seit dem Einmarsch äthiopischer Truppen im Dezember 2006 aus der Hauptstadt Mogadischu geflüchtet. Straßenzüge und ganze Viertel liegen durch den schweren Beschuss in Trümmern. Fünf Distrikte der Stadt gelten als "menschenleer".
AI beklagt in ihrem Bericht das Schweigen der UNO, internationaler Organisationen und der Weltgemeinschaft zu den in Somalia begangenen Kriegsverbrechen. Tatsächlich tut der UN-Sicherheitsrat, einschließlich Russlands und Chinas, aber mehr als nur zu schweigen: Er unterstützt einseitig die "Übergangsregierung" und hat stillschweigend grünes Licht für die äthiopische Intervention gegeben.
Unterdessen erlebte Mogadischu in den vergangenen Tagen die vermutlich schwersten und umfangreichsten Massenunruhen seit Beginn des Bürgerkriegs vor zwanzig Jahren. Zehntausende Menschen, vermutlich weit über 100.000, protestierten gegen die explodierenden Lebensmittelpreise und gegen die Weigerung der Händler, einheimische Geldscheine statt Dollarnoten anzunehmen. Das macht es für viele Somalis praktisch unmöglich, auch nur das Nötigste einzukaufen. Die Händler verweisen ihrerseits darauf, dass unkontrollierte Mengen Falschgeld im Umlauf sind und dass sie außerdem selbst von der Regierung gezwungen werden, Steuern und Gebühren in Dollar zu entrichten.
Die Preise für Grundnahrungsmittel wie Mehl und Reis haben sich in Mogadischu seit Januar verdoppelt. Der Wechselkurs des somalischen Schillings gegenüber dem Dollar ist nur noch halb so hoch wie vor einem Jahr. Eine UNO-Organisation warnte in der vorigen Woche, dass der Hälfte der somalischen Sieben-Millionen-Bevölkerung eine Hungersnot droht.
Trotz einer Zunahme der Kämpfe vor allem in der zentralsomalischen Region Hiran halten sowohl die "Übergangsregierung" als auch das Oppositionsbündnis Allianz für die Wiederbefreiung Somalias (ARS) bisher immer noch an der Absicht fest, sich gegen Ende Mai im benachbarten Dschibuti zu Versöhnungsgesprächen zu treffen.
Knut Mellenthin
Junge Welt, 8. Mai 2008