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"...Die im Dunkeln sieht man nicht"
Die Welt sorgt sich um Öltanker. Und ignoriert die Not der somalischen Bevölkerung.
Die Zahl der Somalis, die auf humanitäre Hilfe angewiesen sind, ist seit Jahresanfang um 77 Prozent gestiegen: Von 1,8 auf 3,2 Millionen Menschen. So steht es in einem Bericht, den UN-Generalsekretär Ban Ki Moon in der vergangenen Woche vorlegte.
Man kann nicht sagen, dass diese dramatische Meldung in deutschen Medien große Beachtung gefunden hätte. Aber überall wurde zitiert, was der Chef der Vereinten Nationen zur Zunahme von Piratenakten vor den Küsten Somalias zu sagen hatte: 65 Handelsschiffe seien in den ersten zehn Monaten des Jahres gekapert worden, 25 bis 30 Millionen Dollar Lösegelder seien gezahlt worden.
Die von Ban genannte Zahl gekaperter Schiffe entspricht nicht den üblichen Angaben. Allgemein wird davon ausgegangen, dass im Bereich Nordostafrikas in diesem Jahr 95 Schiffe von Piraten angegriffen und davon 39 gekapert wurden. (Stand am 22.11.2008) Mit der Schätzung der Lösegelder liegt Ban jedoch im Durchschnitt. Überwiegend erwarten Experten wie die Schiffsversicherer, dass bis zum Jahresende die Rekordsumme von 50 Millionen Dollar erreicht werden könnte. Dagegen entbehrt die Behauptung des kenianischen Außenministers Moses Wetang'ula, in den vergangenen 12 Monaten seien 150 Millionen Dollar Lösegelder erpresst worden, jeder sachlichen Grundlage. Dennoch wurde sie weithin unkritisch publiziert. Das Motiv des Politikers war offenbar, durch Dramatisierung der Lage für seine Forderung zu werben, internationale Streitkräfte nach Somalia zu schicken.
Die US-amerikanische Hilfsorganisation Refugees International hat am 19. November auf die Unverhältnismäßigkeit hingewiesen, mit der die Staaten der Welt einerseits auf das Problem der Piraterie reagieren, während sie gleichzeitig die humanitäre Krise in Somalia ignorieren. Seit der vom UN-Sicherheitsrat tolerierten äthiopischen Militärintervention in Somalia, die Ende Dezember 2006 begann, seien dort 10.000 Zivilisten getötet worden, heißt es in der Stellungnahme von Refugees International. Über eine Million Menschen hätten ihre Heime verloren und seien auf der Flucht. 400.000 von ihnen seien ins Ausland geflüchtet. Allein im September seien 10.000 neue Flüchtlinge in Kenia angekommen. Die Lage der meisten Vertriebenen ist verzweifelt, Hunderttausende hausen ohne Schutz unter Bäumen.
50 Millionen Dollar im Jahr, wenn diese Lösegeld-Summe denn erreicht wird, sind ein relativ geringer Betrag. So viel kosten ungefähr zehn Stunden Krieg und Besatzung im Irak. 16.000 Schiffe pro Jahr passieren die Region um das Horn von Afrika. Das Risiko einer Kaperung liegt bei 0,25 Prozent, ist also ökonomisch und wohl auch versicherungstechnisch überschaubar. Nur etwa 7,5 Prozent des gesamten Welthandels verläuft durch die Region.
Unterdessen sind die Gewässer rund um das Horn von Afrika, vor allem der Golf von Aden südlich der arabischen Halbinsel, zum Aufmarschgebiet von Kriegsschiffen zahlreicher Länder geworden. Einer Aufstellung der Nachrichtenagentur Reuters vom 21. November zufolge ist allein die NATO mit 12 Kriegsschiffen vertreten. Acht – darunter eine deutsche Fregatte – gehören zur Combined Task Force 150, die im Rahmen der „Operation Enduring Freedom“ schon seit 2002 im Einsatz ist. Unabhängig davon befinden sich seit Oktober vier NATO-Schiffe im Indischen Ozean, um Lebensmitteltransporte der UNO zu sichern. Im Dezember soll eine Kriegsflotte der EU mit vier bis sechs Schiffen hinzukommen, an der sich Deutschland ebenfalls beteiligen will.
Die Kosten? Ein Vielfaches der Verluste und Risiken durch die Piratenakte. Was also ist der wirkliche Zweck?
Knut Mellenthin
Junge Welt, 24.11.2008