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Schicksal von über 3 Millionen Flüchtlingen ungewiss
Am kommenden Montag soll die Rückkehr von über 2 Millionen Bürgerkriegsflüchtlingen in ihre Heimatorte beginnen. Das kündigte Pakistans Ministerpräsident Jusaf Rasa Gilani am Donnerstag an. Die Lage in der Region Malakand, wo die Streitkräfte Ende April eine Großoffensive gegen die Taliban begonnen hatten, sei weitgehend unter Kontrolle, versicherte der Regierungschef. Die Versorgung mit Strom und Gas sei wiederhergestellt. Krankenhäuser, Tankstellen und Banken seien wieder geöffnet.
Berichte aus Malakand geben ein anderes Bild. An manchen Orten wird immer noch gekämpft. In Mingora, der Hauptstadt des Bezirks Swat – vor der Regierungsoffensive eine Hochburg der Taliban – gibt es Strom nur im Stadtzentrum. Die beiden Krankenhäuser von Mingora arbeiten immer noch behelfsweise mit Notstrom-Aggregaten. Die Behörden hatten schon Mitte Juni versprochen, dass Hunderttausende zurückkehren könnten, ohne diese Zusage einlösen zu können. Inzwischen sind mehrere zehntausend Flüchtlinge auf eigene Initiative in ihre Heimatorte gefahren – und viele von ihnen haben diese angesichts der vorgefundenen Zustände bald wieder verlassen.
Über die Gesamtzahl der Flüchtlinge besteht keine Klarheit. Ungefähr realistisch ist eine Zahl von über 2 Millionen offiziellen und 500.000 nicht erfassten Flüchtlingen. Das bezieht sich aber nur auf die Folgen der jüngsten Offensive in Malakand. Hinzu zu rechnen sind über 500.000 Flüchtlinge aufgrund früherer Kämpfe in den sogenannten Stammesgebieten (FATA).
Die Rückkehr-Aktion, die Gilani jetzt in Aussicht gestellt hat, soll in vier Stufen abgewickelt werden. Zuerst sollen, beginnend am 13. Juli, die Lager geleert werden, in denen aber nur 10 Prozent der Flüchtlinge leben. Anschließend sollen die in öffentlichen Gebäuden, vor allem in Schulen, Untergebrachten folgen. Dann die größte Flüchtlingsgruppe, die bei Verwandten, Freunden oder – gegen Bezahlung – bei Gastfamilien Aufnahme gefunden hat. Ganz zuletzt sollen die Flüchtlinge heimkehren, die jetzt außerhalb Nordwestpakistans leben. Einen Zeitplan teilte der Regierungschef nicht mit.
Der Vierstufen-Plan folgt in erster Linie Sachzwängen. Die Bewohner der Zeltlager zurückzuführen, ist wegen der unerträglichen Sommerhitze vordringlich, zumal die Flüchtlinge überwiegend aus erheblich kühleren Regionen kommen. Sodann will man bis zur Wiederaufnahme des Unterrichts am 1. September die Schulen frei bekommen. Derzeit sind in der Nordwest-Grenzprovinz (NWFP) 3700 Schulgebäude mit Flüchtlingen belegt.
Gar nicht berücksichtigt sind im Regierungsplan die Menschen, die schon vor der Malakand-Offensive als Flüchtlinge lebten. Das sind nach offiziellen Zahlen 349.000 Menschen aus dem FATA-Distrikt Bajaur, 50.000 aus Mohmand, 80.000 aus Kurram und 50.000 aus Nordwasiristan. Die Regierung hatte während einer Offensive im Herbst 2008 mehr als die Hälfte der Bevölkerung von Bajaur vertrieben; erst eine Minderheit ist seither zurückgekehrt. Zur Gesamtzahl der Flüchtlinge hinzu zu rechnen, sind 250.000 Menschen, die aus Furcht vor einer seit Wochen angedrohten Offensive ihre Heimatorte in Südwasiristan verlassen haben.
Wie weit Gilanis Ankündigung wirklich eine Rückkehr der Malakand-Flüchtlinge zur Folge haben wird, ist ungewiss. Da ihre Vertreibung kurz vor Beginn oder während der Erntezeit erfolgte, haben viele Familien das Einkommen eines ganzen Jahres verloren. Immer mehr regionale Händler, die den Bauern ihr Obst und Gemüse abzukaufen pflegten, gehen finanziell zugrunde oder ziehen sich aus dem Geschäft zurück. Investitionen im Nordwesten gibt es wegen der unüberschaubaren Risiken kaum noch. Und ausländische Geldgeber haben bisher erst 40 Prozent der 543 Millionen Dollar aufgebracht, die nach Ansicht von UN-Stellen für die Unterstützung der Flüchtlinge dringend erforderlich wären.
Knut Mellenthin
Junge Welt, 11. Juli 2009