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Pakistan protestiert gegen US-Angriffe
In Pakistan hält die Empörung über den jüngsten Überfall eines US-amerikanischen Spezialkommandos in Südwasiristan, im nordwestlichen Grenzgebiet zu Afghanistan, an. Nach Aussagen von Augenzeugen waren zwei oder drei US-Hubschrauber Mittwoch Nacht in dem Dörfchen Musa Neka Ziarat gelandet. Ihnen entstiegen Soldaten, die zuerst ein Ehepaar erschossen, das aus einem der Häuser kam. Anschließend töteten sie alle Bewohner des Hauses: drei Kinder, zwei Frauen und fünf Männer. Dann eröffneten sie das Feuer auf weitere Menschen, die aus ihren Häusern kamen. Insgesamt wurden bei dem Überfall 19 oder 20 Menschen getötet. Zwar hatten US-Kräfte bisher schon zahlreiche Angriffe mit Raketen und unbemannten Flugzeugen gegen Ziele in Pakistan durchgeführt. Dies war jedoch die erste bekannt gewordene Kommandoaktion, bei der Truppen am Boden agierten.
US-Militärstellen und die ISAF in Afghanistan verweigerten am Donnerstag jede Stellungnahme, dementierten den Angriff jedoch nicht. Die New York Times zitierte drei anonyme US-Offiziere, die den Überfall bestätigten. Sie gaben auch zu, dass mindestens ein Kind und mehrere Frauen getötet worden seien, rechtfertigten das jedoch damit, dass die Frauen „al-Kaida geholfen“ hätten.
Beide Häuser des pakistanischen Parlaments, die Nationalversammlung und der Senat, verurteilten am Donnerstag den Überfall in einstimmig angenommenen Resolutionen als „grobe Verletzung der Souveränität und territorialen Integrität Pakistans“. Die Regierung wurde aufgefordert, „alle notwendigen Maßnahmen zu ergreifen, um die Souveränität und territoriale Integrität des Landes zu schützen und um solche Angriffe in Zukunft mit voller Kraft zurückzuschlagen“. Außerdem soll die Regierung den ISAF, den internationalen Interventionstruppen in Afghanistan, mitteilen, dass solche Übergriffe „geeignet sind, grundlegende Änderungen unserer Außenpolitik zu erzwingen“.
Während der Debatte in der Nationalversammlung verurteilte Außenminister Schah Mahmud Kureschi die jüngsten Angriffe als „ernste Eskalation in der Serie von Aktionen der ISAF/Koalitionskräfte auf pakistanischem Gebiet“. Das Kommandounternehmen vom Mittwoch erfordere eine Überprüfung der Rolle Pakistans im „Krieg gegen den Terror“ und stelle eine Verletzung der zwischen den USA und Pakistan vereinbarten „Rules of Engagement“, der Regeln für grenzüberschreitende Einsätze, dar. Der Minister weigerte sich aber auch Nachfragen, den Abgeordneten den Inhalt dieser Vereinbarungen mitzuteilen.
Auch der amtierende Chef der regierenden Volkspartei, Asif Ali Zardari, der voraussichtlich am Sonnabend zum Präsidenten Pakistans gewählt werden wird, protestierte gegen die „empörende, nicht akzeptable Verletzung der territorialen Integrität unseres Landes“. Aktionen dieser Art untergrüben die Anstrengungen der pakistanischen Regierung, „Radikalismus und Extremismus“ zu bekämpfen. Dieser Kampf könne nur erfolgreich sein, wenn er „auf dieser Seite der Grenze“ ausschließlich von pakistanischen Kräften geführt werde. Der Gouverneur der Nordwestprovinz, Owais Ahmad Ghani, erklärte: „Das Volk erwartet, dass die Streitkräfte Pakistans aufstehen, um die Souveränität des Landes zu verteidigen und eine gebührende Antwort erteilen.“ Der Pressesprecher des Geheimdienstes ISI, Generalmajor Athar Abbas, kündigte an: „Wir behalten uns das Recht auf Selbstverteidigung und Vergeltung zum Schutz unserer Bürger und Soldaten gegen Aggression vor.“
Dabei klingt eine Menge Theaterdonner mit von pakistanischen Politikern und Dienststellen, die es seit Jahrzehnten gewohnt sind, eng mit den Vereinigten Staaten zu kooperieren. Es zeigt aber zugleich, dass die immer unverschämtere, kaum noch Rücksichten auf ihre „Partner“ nehmende US-amerikanische Militärintervention in Pakistan an die Toleranzgrenze herangekommen ist. Kein pakistanischer Politiker könnte es wagen, die Übergriffe der USA explizit zu verteidigen, ohne sich selbst zur Bedeutungslosigkeit zu verurteilen.
Am Donnerstag wurden bei einem weiteren Angriff sechs Menschen im Dorf Achar Khel in Nordwasiristan getötet und vier verletzt. In diesem Fall setzten die USA eine Predator-Drohne ein, die eine Hellfire-Rakete abschoss. Die Getöteten sollen Stammesmitglieder und zwei arabische Gäste gewesen sein, die zum Iftar – dem nächtlichen Festmahl während des Fastenmonats Ramadan – zusammengekommen waren. Ebenfalls durch Raketen einer Drohne wurden am Freitag in Gorewek (Nordwasiristan) zwei Frauen und drei Kinder getötet.
Schon am Sonntag waren durch den Abschuss zweier Hellfire-Raketen acht Menschen in einem anderen Dorf Wasiristans getötet worden. Stammesführer der Gegend, die als regierungsnah gelten und ihre Krieger für den Kampf gegen die „Taliban“ rekrutieren lassen, hatten nach diesem Angriff scharf gegen die Untätigkeit der pakistanischen Regierung protestiert und ihr „Verrat“ vorgeworfen.
Tatsächlich kommt die Ausweitung und Steigerung der US-Militärschläge gegen Pakistan zu einem Zeitpunkt, wo die Regierung in Islamabad erhebliche Erfolge bei der Spaltung der Bevölkerung in den sogenannten Stammesgebieten des Nordwestens verkündet. So soll es beispielsweise gelungen sein, Verträge mit den Stammeschefs im Gebiet des Khyber-Passes abzuschließen, durch das ein großer Teil des Nachschubs für US-Truppen und ISAF in Afghanistan transportiert wird. Den Berichten zufolge sollen die dortigen Stämme den Schutz des Nachschubs und die Bekämpfung von örtlichen „Taliban“-Gruppen übernehmen.
Das wirft Fragen nach dem Zweck auf, den die US-Regierung mit der Steigerung der Angriffe gegen pakistanisches Gebiet verfolgt. Dass diese einerseits militärisch ineffektiv sind – selbst wenn sie einzelne „Taliban“-Führer treffen würden -, gleichzeitig aber politisch extrem kontraproduktiv, ist offensichtlich. In erster Linie schwächen und demontieren die Militärschläge die Regierung, die im Februar aus freien Wahlen hervorging, nachdem das Land zuvor seit 1999 unter einem autokratischen Militärregime gestanden hatte.
In Pakistan wird weithin davon ausgegangen, dass vielleicht sogar die Regierung, zumindest aber die Armeeführung, insgeheim mit den US-Angriffen einverstanden sei. In der vergangenen Woche hatte auf einem Flugzeugträger im Indischen Ozean ein Geheimtreffen zwischen dem Vorsitzenden des US-amerikanischen Generalstabs, Admiral Mike Mullen, und dem pakistanischen Armeechef Parves Kajani stattgefunden, bei dem es um dieses Thema gegangen sein soll. Der New York Times vom 4. September zufolge sollen Kommandoaktionen US-amerikanischer Spezialeinheiten in Pakistan künftig erheblich ausgeweitet werden, gemäß einem Geheimplan, über den Verteidigungsminister Robert Gates schon seit Monaten mit Präsident George W. Bush diskutiert habe.
Knut Mellenthin
Erweiterte Fassung eines am 6. September 2008 in der Jungen Welt erschienenen Artikels