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Einigung zwischen Regierung und „Taliban“ in Nordwestpakistan
Die „Einführung der Scharia“, also einer am Koran orientierten islamischen Rechtssprechung, in einem Teil Nordwestpakistans hat für aufgeregte, tendenziöse Meldungen in westlichen Mainstream-Medien gesorgt. So kommentierte Matthias Gebauer am 16. Februar in Spiegel Online unter der Überschrift „Islamabad beugt sich den Taliban“: „Aufgerieben von der Gewalt der Militanten gegen Regierung und Armee ist Islamabad bereit, den Dschihadis weitgehende Zugeständnisse zu machen. (...) Das Abkommen, das in Washington und Europa nicht gut ankommen wird, illustriert, wie bedroht die pakistanische Regierung mittlerweile im eigenen Land ist. Nach monatelangen Militäroperationen im Swat-Tal, einer unzugänglichen Bergregion im Nordwesten des Landes, kapituliert Islamabad endgültig. Anstatt die Taliban weiter zu bekämpfen, beugt sich der Staat um des Friedens Willen den Wünschen der Radikalen.“
Tatsächlich jedoch bestätigt das am Montag unterzeichnete Abkommen zwischen der Regierung der Nordwest-Grenzprovinz (NWFP) und der Tehrik-e-Nifaz-e-Scharia-e-Mohammadi (Bewegung zur Durchsetzung des islamischen Rechts, TNSM) im Wesentlichen nur frühere Vereinbarungen und verpflichtet sich zu ihrer Anwendung. Die 1992 von Sufi Muhammad gegründete TNSM hatte eine entsprechende Provinzgesetzgebung schon 1994 erreicht. Allerdings gab es immer wieder Streit um die Durchführung, auch nach der Neufassung des Gesetzes 1999. Im Jahr 2003 verkündete die damalige Provinzregierung der NWFP, die von der islamistischen Allianz Muttahida Majlis-e-Amal (MMA) geführt wurde, den Vorrang der Scharia vor Allen anderen Gesetzen, und zwar für die gesamte Provinz. Seit den Wahlen im Februar 2008 wird die NWFP jedoch von der Awami National-Partei (ANP) regiert, die sich als sekulär versteht und den Islamismus bekämpft.
Das jetzt geschlossene Abkommen bezieht sich, wie schon das von 1994, nur auf die Region Malakand, die ungefähr ein Drittel der NWFP einnimmt, sowie auf den angrenzenden Bezirk Kohistan. Zu der Region gehört das seit Herbst 2007 heftig umkämpfte Swat-Tal, früher ein auch international frequentiertes Ski- und Tourismus-Gebiet. Swat sowie zwei andere Distrikte von Malakand wurden erst 1969 voll in den pakistanischen Staat integriert. Zuvor standen sie unter der Herrschaft von Fürsten, die weitgehende Verwaltungsautonomie hatten und eine eigene Rechtssprechung ausübten.
Die Scharia wird außerhalb der islamischen Welt vor allem mit drastischen Strafen verbunden. Das ergibt sich jedoch keineswegs zwangsläufig. Die konkrete Anwendung des islamischen Rechts unterscheidet sich, insbesondere aufgrund kultureller, sozialer und nationaler Traditionen, sehr stark. Wesentliche Diskussionspunkte in der NWFP betrafen prozedurale Fragen, wie etwa das Berufungsrecht und die Zeitspannen, in denen bestimmte Rechtsstreitigkeiten vom Gericht behandelt werden müssen.
Ziel der Einigung in der NWFP ist ein Friedensschluss und die Entwaffnung militanter Gruppen. Die herrschenden Politiker in der Provinz und in Islamabad hoffen, dass Sufi Muhammad, der Gründer der TNSM, seinen Schwiegersohn Maulana Fazlullah, den Führer der „Taliban“ im Swat und Umgebung, dazu überreden kann. Muhammad war im November 2001 mit Tausenden seiner Anhänger nach Afghanistan gezogen, um den dortigen Taliban gegen die US-Intervention zu helfen. Bei seiner Rückkehr nach Pakistan wurde er festgenommen und zu sieben Jahren Haft verurteilt. Im April 2008 entließen ihn die Behörden aus dem Gefängnis, nachdem er zuvor „der Gewalt abgeschworen“ hatte.
Das jetzt geschlossene Abkommen bedarf, soweit es die Praktizierung der Scharia angeht, der Zustimmung durch den pakistanischen Präsidenten Asif Ali Zardari. Und der hat sofort angekündigt, dass er seine Unterschrift erst geben wird, wenn in Malakand und insbesondere im Swat-Tal wirklich Frieden eingekehrt ist.
Ob die „Taliban“ des Gebiets auf dieser zerbrechlichen Grundlage bereit sein werden, ihre Waffen abzugeben, ist fraglich. Immerhin beherrschen sie derzeit den größten Teil des Swat-Tals und haben ihre kulturellen Vorstellungen, die weit über die jetzt erreichte Einigung hinausgehen, de facto durchgesetzt. Die Rechtssprechung liegt in Swat schon jetzt bei den von ihnen eingesetzten Scharia-Gerichten. Einstweilen haben sowohl die „Taliban“ als auch die Armee angekündigt, sie würden auf Offensivoperationen verzichten und sich nur gegen Angriffe verteidigen.
Knut Mellenthin
Junge Welt, 18. Februar 2009