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Wie Erdbeben in Japan
Die israelische Regierung rechnet im Fall eines Angriffskrieges gegen Iran mit ungefähr 500 Toten im eigenen Land. Diese Auskunft, mit der sich der Minister für Heimatverteidigung, Matan Wilnai, am Mittwoch aus dem Amt verabschiedete, war als Beruhigungsmittel für die israelische Bevölkerung gedacht: Die geschätzte Zahl, die zuvor auch schon mehrfach von Verteidigungsminister Ehud Barak zu hören war, liegt weit unter realistischen Erwartungen. „Für Hysterie ist kein Platz“, betonte Wilnai, der demnächst als Botschafter nach Peking übersiedeln wird und damit erst einmal aus der militärischen Gefahrenzone verschwindet.
Für die Zurückbleibenden hatte der 68Jährige noch einen guten Rat: „So wie die Bürger Japans sich klar sein müssen, dass es dort Erdbeben geben kann, müssen die Bürger Israels verstehen, dass sie hier leben und mit Raketen an der Heimatfront rechnen müssen“, sagte Wilnai in einem Interview mit der Tageszeitung Maariw. Seine Prognose bezog sich auf einen etwa 30 Tage dauernden Krieg. Sie enthielt selbstverständlich keinen Gedanken an die Zahl der iranischen Opfer. Der Minister ignorierte aber auch, dass voraussichtlich Tausende amerikanische Soldaten sterben werden, falls sich aus der israelischen Aggression ein mehrjähriger Krieg entwickeln würde.
Allerdings hält die israelische Regierung auch zu diesem Thema Beruhigungsmittel bereit: Der Sender Channel 10 behauptete am Mittwoch unter Berufung auf die üblichen namenlosen ranghohen „officials“, man rechne nicht damit, dass Iran nach einem israelischen „Präventivschlag“ US-amerikanische Ziele in der Region angreifen werde. Diese „neue Einschätzung“ steht jedoch konträr zu allem, wovon bisher weltweit ausgegangen wird. Angeblich ergibt sich das veränderte Bild aus „jüngsten geheimdienstlichen Erkenntnissen“. Die iranische Führung, so heißt es plötzlich aus Jerusalem, wolle einen direkten militärischen Konflikt mit den USA vermeiden, werde keine Raketen auf amerikanische Stützpunkte abschießen und auch keinen Versuch unternehmen, die Meerenge von Hormuz zu sperren.
Indessen wird, vor allem in kriegsgegnerischen Medien und Internetblogs, über einen detaillierten israelischen „Kriegsplan“ spekuliert. Der in Seattle (USA) lebende Journalist Richard Silverstein hatte das Dokument am Dienstag auf der linken jüdischen Website Tikun Olam veröffentlicht. Nach seinen Aussagen hat er es von einem ihm gut bekannten und vertrauenswürdigen hochkarätigen israelischen Informanten erhalten.
Diesem „Kriegsplan“ zufolge sollen zuerst sämtliche Kommunikationsstrukturen Irans – Internet, Telefone, Radio und Fernsehen, Stromleitungen und sogar Nachrichtensatelliten – durch einen beispiellosen militärischen Schlag vollständig ausgeschaltet werden. Die Reparaturen würden, heißt es, Wochen dauern und durch den Abwurf von zahllosen Streubomben zusätzlich erschwert werden. Die zweite, mehrtägige Angriffswelle soll durch Hunderte von Raketen und Cruise Missiles erfolgen. Ziele wären, neben den Atomanlagen, auch Kommando- und Kontrollzentralen, Forschungs- und Entwicklungseinrichtungen sowie die Wohnungen des Führungspersonals im nuklearen und militärischen Bereich. Anschließend solle das israelische Militär sich durch Satelliten und andere Mittel der Luftaufklärung einen Überblick über das Ausmaß der Schäden verschaffen. Erst dann würden bemannte Kampfflugzeuge zum Einsatz kommen, um die noch nicht hinreichend beschädigten Ziele vollkommen zu zerstören. Diese Maschinen würden mit einer Elektronik ausgerüstet sein, die nicht nur der breiteren Öffentlichkeit unbekannt sei, sondern über die man noch nicht einmal „unsere US-amerikanischen Verbündeten“ in Kenntnis gesetzt habe. „Diese Ausrüstung macht israelische Flugzeuge unsichtbar.“
Einige Punkte dieses „Kriegsplans“ geben Grund zum Verdacht, dass es sich um propagandistisches Spielmaterial handeln könnte. Silverstein ist zwar „überzeugt“, dass das Dokument „authentisch“ sei. Zugleich meint er aber auch selbst, dass das nur etwa 500 Worte umfassende Memorandum „ein Produkt der israelischen Traumfabrik“ sei und geschrieben wurde, um den noch schwankenden Regierungsmitgliedern den geplanten Krieg als eine solide, kaum riskante Sache zu „verkaufen“. Irgendeine Art von iranischen Reaktionen ist in diesem fragwürdigen Papier übrigens nicht vorgesehen.
Knut Mellenthin
Junge Welt, 17. August 2012