KNUT MELLENTHIN

Funktionen für die Darstellung

Darstellung:

Seitenpfad

Staat im Chaos

Unklarheit um Entführung und Freilassung des libyschen Premierministers. Zusammenhang mit US-Kommando-Aktion vom vorigen Wochenende vermutet.

Der libysche Staat ist zwei Jahre nach dem NATO-Krieg kaum noch funktionsfähig. Regierungschef Ali Zeidan wurde am frühen Donnerstag gegen 4 Uhr (Ortszeit) von Bewaffneten aus seiner Suite in einem Nobelhotel der Hauptstadt Tripoli verschleppt. Etwa acht Stunden später kam er wieder frei. Über den Ablauf der Ereignisse und ihre Hintergründe gab es zunächst kaum offizielle Informationen.

Nach Augenzeugenberichten waren an der nächtlichen Aktion im Hotel 100 bis 150 Männer einer oder mehrerer Milizen beteiligt. Die reguläre Polizei, die dort Wache hielt, zog sich beim Erscheinen der Milizionäre zurück. Im Namen der Miliz Revolutionärer Operationsraum gab es kurz darauf eine Mitteilung, dass Zeidan in Vollstreckung eines staatsanwaltlichen Haftbefehls wegen Korruption und Gefährdung der Staatssicherheit festgenommen worden sei. Diese Maßnahme sei erfolgt, nachdem US-Außenminister John Kerry erklärt habe, dass die Kommando-Aktion vom Wochenende, bei der ein Libyer aus Tripoli entführt wurde, mit Wissen der libyschen Regierung erfolgt sei. Später gab es jedoch, wieder im Namen der selben Miliz, eine Mitteilung, dass Zeidans Festnahme in keinem Zusammenhang zur amerikanischen Kommando-Aktion gestanden habe, sondern aufgrund finanzieller Unregelmäßigkeiten erfolgt sei. Das Justizministerium bestritt, dass es überhaupt einen Haftbefehl gegeben habe.

Von Kerry ist die behauptete Äußerung nicht bekannt. Allerdings hatte die New York Times am Mittwoch unter Berufung auf anonyme „hochrangige Regierungsbeamte“ gemeldet, dass die libysche Regierung über die grundsätzliche Absicht der USA, den Mann zu entführen, schon vor Wochen in Kenntnis gesetzt worden sei und ihre „stillschweigende Zustimmung“ gegeben habe. Ehefrau und Sohn des Verschleppten hatten zudem berichtet, dass sich einige Mitglieder des Entführungskommandos in einem libyschen Dialekt unterhalten hätten.

Nach den bisherigen Darstellungen ist nicht auszuschließen, dass Zeidans Festnahme durch Milizionäre erfolgte, die für das Innenministerium arbeiten, und dass er anschließend in dessen Abteilung zur Verbrechensbekämpfung gefangen gehalten wurde. Seine Freilassung oder Befreiung erfolgte offenbar, als eine andere Miliz dort auftauchte. Ob es dabei zu einer Schießerei gab, war zunächst nicht bekannt. Der Premier kehrte, begleitet von Leibwächtern und Soldaten, in das Hotel zurück, vor dem inzwischen wieder die reguläre Polizei anstelle der zeitweise dort postierten Milizionäre aufgezogen war.

Die USA haben bereits am Dienstag 200 bis 250 Mann einer Spezialeinheit der Marines aus dem Stützpunkt Moron in Spanien nach Sigonella auf Sizilien verlegt. Sie gehören zu einer Schnellen Eingreiftruppe, die aufgestellt wurde, nachdem am 11. September 2012 vier US-Amerikaner beim Angriff einer libyschen Miliz auf das Konsulat in Bengasi getötet worden waren. Sigonella ist von Tripoli nur 500 Kilometer entfernt.

Knut Mellenthin

Junge Welt, 11. Oktober 2013