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Die Obama-Doktrin
Dass hinter dem mutmaßlichen Giftgas-Angriff vom vorigen Mittwoch die syrische Regierung steckt, sei „unbestreitbar“ verkündete US-Außenminister John Kerry mit einer selbstsicheren Unfehlbarkeit, die traditionell nur den Päpsten zukommt, aber von diesen immer weniger in Anspruch genommen wird. Wer an diesem Urteil zweifelt, müsse sein Gewissen und seinen moralischen Kompass überprüfen, setzte Kerry hinzu. Indizien, geschweige denn Beweise, hat die US-Regierung bisher nicht vorgelegt, wie Russlands Präsident Wladimir Putin am Montag korrekt feststellte.
Washington will nun aber doch in den allernächsten Tagen seine Erkenntnisse der internationalen Öffentlichkeit mitteilen. Das behaupten zumindest US-amerikanische Medien, die jedoch wie üblich ihre Quellen nicht preisgeben wollen. Man darf zweifeln: Nicht nur an der angeblich beabsichtigten Präsentation der Beweise, sondern auch an der Schuldzuweisung, der sich inzwischen alle wichtigen westlichen Regierungen mit Vorverurteilungen angeschlossen haben.
Schon seit Sonntag vor einer Woche sind Inspekteure der UNO in Syrien, um frühere – in den Folgen sehr viel kleinere – Giftgas-Angriffe zu prüfen. Ausgerechnet in einem solchen Moment massiv chemische Waffen einzusetzen, macht nur Sinn, wenn man Vorwände für eine westliche Militärintervention liefern will. Viele Staaten der Region verfügen über die Fähigkeit, solche Kampfstoffe zu produzieren. Um diese mit wenigen Kurzstreckenraketen abzuschießen, wie es in der vorigen Woche am Rande von Damaskus geschah, ist nur eine Handvoll von Geheimdienstleuten oder Terroristen erforderlich. Ihnen auf die Spur zu kommen, dürfte so gut wie unmöglich sein.
Die Kriegsvorbereitungen der westlichen Allianz laufen auch ohne Vorlage angeblicher Beweise schon seit Tagen auf Hochtouren. Zu welchen Ergebnissen die UN-Inspektoren kommen, die seit Montag im Gebiet des tödlichen Überfalls tätig sind, spielt von vornherein keine Rolle. Diese Untersuchung komme „zu spät“, wischte Kerry am Montag alle Bedenken beiseite. Präsident Barack Obama scheint, vielleicht beflügelt durch seinen Friedensnobelpreis, der Meinung zu sein, dass er seine Kriege weder gegenüber der eigenen Bevölkerung noch vor der internationalen Öffentlichkeit rechtfertigen muss. Die Nutzanwendung dieser Doktrin, die man getrost nach Obama benennen sollte, liegt auch für das weitere Vorgehen gegen den Iran auf der Hand.
Mit dem geplanten Krieg gegen Syrien wollen die Mächtigen der USA auch Russland demütigen. Ihm soll seine eingeschränkte Rolle in der Weltpolitik und die Begrenztheit seiner Optionen drastisch vor Augen geführt werden. Moskau ist, das gab Obama schon vor einigen Wochen offen bekannt, für die USA zu einem weitgehend entbehrlichen Faktor geworden. Mit der syrischen Führung will der Westen nun einen der letzten verbliebenen Verbündeten Russlands liquidieren.
Knut Mellenthin
Junge Welt, 28. August 2013