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Anmerkungen zur "Asyl-Debatte" in der PDS
PDS-Politiker rühmen sich gern, ihre Partei sei die einzige, die sich die Forderung nach "offenen Grenzen", also nach unbegrenztem Einwanderungsrecht in die BRD, auf die Fahnen geschrieben hat. Das ist, soweit es eben Parteien angeht, zutreffend. Noch nicht beantwortet ist damit aber die Frage, ob diese Forderung in der PDS selbst erstens mehrheitsfähig wäre - beispielsweise in einer Art von Urabstimmung - und zweitens, wieweit damit an der Basis wirklich Politik gemacht wird. In der Praxis geht es schließlich, selbst dort, wo man guten Willens ist, um näherliegende Dinge wie Schutz von Asylbewerbern vor Angriffen, Demonstrationen gegen Rassismus, Verteidigung des Grundgesetzartikels 16. Alles schön und gut, aber doch eher eine Wahrung des Status quo, die durchaus nicht an "offene Grenzen" heranführt. Den Artikel 16 kann sogar erhalten wollen, wer im großen und ganzen mit der heutigen restriktiven und menschenunwürdigen Aufnahmepraxis nicht allzu unzufrieden ist, nur eben keine Verschärfung wünscht. So etwa Teile der SPD.
Immer wieder öffentlich ausbrechende Debatten zeigen, daß die offiziell beschlossene und verkündete "Asyl- und Flüchtlingspolitik" der PDS in der Partei umstritten ist, und zwar so sehr, daß jedesmal die Fetzen fliegen, sobald dieses Thema auf den Tisch kommt. Es ist zu vermuten, daß viel Unmut sich aber gar nicht erst öffentlich äußert, sondern entweder intern abgeladen wird oder im Kreis von Gleichgestimmten seltsame Blüten treibt. Man braucht ja die Politik der Partei nicht öffentlich zu kritisieren, sondern kann sie auch sehr wirkungsvoll in der Praxis ignorieren und boykottieren. Und schließlich ist es auch nicht jedermanns Sache, sich in aller Öffentlichkeit als Rassisten und wohlstandsgeilen Spießer abkanzeln zu lassen, sobald er seine Zweifel zu formulieren versucht. Vorwiegend auf dieser Ebene bewegte sich aber bisher die Debatte, wie zuletzt im September im "Neuen Deutschland". Da wurde dann den Kritikern vorgeworfen, sie seien "mehr damit beschäftigt, die Kackhaufen vor Flüchtlingsheimen zu zählen" (Marian Krüger; ND vom 29.9.), könnten die bloße Existenz von Sinti und Roma nicht ertragen (Tanju Tügel, Ausländerbeauftragter und Mitglied des Parteivorstands der PDS; ND vom 28.9.), seien von "Ressentiments" und "Sozialneid" erfüllt und "voll mit rassistischen Argumenten, nationalistischem Gesabber und populistischer Fremdenfeindlichkeit" (Angela Marquardt, Mitglied des PDS-Parteivorstands; ND vom 24.9.).
Offensichtlich gibt es unter PDS-Mitgliedern rassistische Ressentiments und Spießigkeit. Wer sich damit beschäftigt, sollte allerdings nicht nur anklagend auf den bösen Westkapitalismus und die schlimmen Anschlußfolgen weisen. Verglichen mit der restriktiven Aufnahmepraxis der DDR könnte man die BRD geradezu als Einwandererparadies bezeichnen. Und spießige Engstirnigkeit, rigide Vorstellungen über Ordnung, Sauberkeit, korrekte Kleidung, angepaßtes Benehmen usw. sind in der DDR - SED-Kreise keineswegs ausgenommen - wahrscheinlich noch weit mehr gepflegt worden als in der BRD, die u.a. durch die kleine "Kulturrevolution" der sechziger Jahre und einige Millionen Einwanderer immerhin ein bißchen frischen Wind erfahren hat.
Die Frage ist, wie man mit der Kluft zwischen offizieller Parteipolitik und ganz anderen Einstellungen an der Basis, aber auch mit sachlich begründeten Zweifeln - nicht jeder Einwand gegen die Parteipolitik ist zwangsläufig rassistischer Dreck - umgeht. Daß Menschen, die sich selbst sehr stark und verdienstvoll auf diesem Feld engagieren, emotional reagieren, zumal wenn ihnen einige Argumente der Kritiker allzu bekannt vorkommen, ist ihnen zuzubilligen und spricht erst einmal für sie. Auf den zweiten Blick frage ich mich aber, was mit dieser Art von Polemik eigentlich bezweckt wird, außer möglichst viele Leute durch Geschimpfe zum Schweigen, zum Rückzug aus dem Parteileben oder gleich zum Austritt zu bringen.
Diese Frage richtet sich keineswegs nur an die Genannten, die als Wortführer in den Debatten immer wieder auftreten (vor allem Tanju Tügel), sondern mehr noch an den Parteivorstand und insbesondere dessen bekannte Repräsentanten, die sich in den bisherigen Debatten nicht gezeigt haben. Dabei müßte eigentlich klar sein, daß es fatal wäre, die Konfrontation in der bisherigen Weise fortzusetzen und sie allein den jetzigen Vorstreitern zu überlassen, denen das Argumentieren weniger zu liegen scheint als die kraftvolle und grobschlächtige Polemik. (Das bezieht sich nur auf die veröffentlichten Beiträge, nicht auf das Auftreten in mündlichen Diskussionen, über das ich mangels Kenntnissen überhaupt nicht urteilen kann.)
Zweifellos ist schon die äußere Form der Debatte im "Neuen Deutschland" sehr unglücklich. In Leserbriefen mit vielleicht durchschnittlich 35 Zeilen läßt sich keinesfalls eine Diskussion führen, die zu irgendwelchen nützlichen Ergebnissen hinleiten könnte. 35 Zeilen sind genug, um eine Riesendummheit zu sagen, wie etwa über "kriminelle Gründe" mancher Asylbewerber, bieten aber keinen Platz für einen einzigen gescheiten Gedanken. Und wenn Angela Marquardt dazu auf 140 Zeilen antworten darf, dann ist das für normale ND-Verhältnisse vielleicht schon verschwenderisch, aber für eine sachliche Diskussion immer noch viel zu wenig. Ebenso die rund 100 Zeilen, die für den "Diskussionsbeitrag" von Tanju Tügel zur Verfügung gestellt wurden. Dies sogar noch unter das Motto der ND-Redaktion zu stellen "Die Leserreaktionen (...) zeigen: Es besteht Diskussionsbedarf" ist eigentlich blanker Hohn, drückt aber in diesem Fall wohl nur einen krassen Mangel an politischer Kompetenz aus. Aus welcher Sicht man es auch betrachtet, kann diese Form der öffentlichen Konfliktaustragung für die PDS nur abträglich sein. Streit ist selbstverständlich notwendig, aber er braucht einen Raum, der die Kontrahenten nicht gleich dazu zwingt, sich wie Kampfhähne aufeinander zu stürzen, und er braucht den Willen zur vollständigen und rücksichtlosen, aber eben auch sachlichen Herausarbeitung der wirklichen Meinungsverschiedenheiten.
Leider ist die Debatte, die seit März in der PDS-Mitgliederzeitschrift "Disput" stattfindet, bisher auch nicht wesentlich geglückter verlaufen, obwohl man mit dem Platz dort großzügiger umgeht. Ausgangspunkt war ein Beitrag von Cornelia Domaschke und Birgit Schliewenz im 1. Märzheft, überschrieben "Was wäre wenn...". Beide Autorinnen haben etliches über die Situation in Osteuropa, auch über die Emigration von dort, publiziert, haben also eine Sachkompetenz, und sind eigentlich nicht mit dem zum Teil wirklich unqualifizierten Gemopper aus Grundeinheiten der Partei in einen Topf zu werfen.
Die Autorinnen nahmen die Forderungen nach "offenen Grenzen" beim Wort und fragten: "Was würde Deutschland erwarten und wie würden die Deutschen reagieren? - Ein Zuwandererstrom von Ost nach West und von Süd nach Nord versuchte, dem tiefsten Punkt des wirtschaftlichen und Wohlstandsgefälles zu entfliehen. Ohne bürokratische Barrieren, Schmiergelder usw. würden sich in kürzester Zeit Massen in den 'goldenen Westen' bewegen. (...)"
Im weiteren übernahmen sie die vermutlich maßlos übertriebene, von russischen Politikern bewußt produzierte und eingesetzte These, daß demnächst mit 20 Millionen Einwanderungswilligen aus der ehem. UdSSR zu rechnen sei, ferner mit einer Million Bulgaren, einer Million Rumänen usw. Insgesamt, so die Autorinnen, "könnten ca. 25 Millionen Menschen (allein aus Osteuropa incl. GUS) auf die Idee kommen, in Deutschland leben zu wollen. Man sollte dies nicht nur als Horrorvision abtun! Wie aber werden sich die Deutschen dann verhalten? Schon etwa 250.000 Asylbewerber im Jahr lösen Ausländerhaß und Fremdenfeindlichkeit unerhörten Ausmaßes aus. (...)".
Schlußfolgerung: Mit offenen Grenzen würde weder dem Einwanderungs- noch dem Auswanderungsland geholfen. "Wir brauchen politikfähige Angebote, die die Realitäten zu verbessern suchen. Probleme zu verschärfen, Unmögliches zu fordern, Ängste zu schüren, regierende Parteien in Zugzwang bringen zu wollen, kann und darf nicht erklärtes Ziel der PDS werden (...). Viele Genossen, die vor Ort mit der Ausländerproblematik auf vielfältigste Weise konfrontiert sind (...), kommen mit derartigen radikalen Zielstellungen nicht zurecht. Sie ernten nicht nur Unverständnis und sogar Haß, sondern verlieren zudem Genossen und Stimmen. Wir glauben, die PDS sollte sich hartnäckig um eine Zusammenarbeit mit anderen linken Kräften bemühen, die zum Beispiel um machbare und realistische Einwanderungsquoten ringen (wie Bündnis 90 und die Grünen).(...) Konstruktive Opposition muß um praktikable Politik ringen, um Aufgaben, die realistisch und gemeinsam mit anderen lösbar sind. Es geht auch darum, daß die PDS nicht als Vereinigung von Träumern abgetan und belächelt wird."
Unter den Einwänden, die in der PDS öffentlich, parteiintern oder klammheimlich gegen die offizielle Linie in der "Asyl- und Flüchtlingspolitik" vorgebracht werden, gehören diese sicher zu den gescheitesten und ernsthaft erwägenswerten. Rassistisch haben die Autorinnen an keiner Stelle argumentiert. Mit Grund könnte allerdings gefragt werden, ob sie mit ihrem Verständnis von Realpolitik nicht einem opportunistischen Zurückweichen vor den praktischen Problemen der Konfrontation mit Rassismus und Einwanderung das Wort reden. Statt dessen landete die folgende Debatte schnell bei dem rabiaten Vorwurf, zwischen den Äußerungen der Autorinnen einerseits und rassistischen Statements von Dregger, Lummer andererseits seien "inhaltliche Trennlinien m.E. nicht zu ziehen". (Tanju Tügel im 2. Maiheft von "Disput")
Der gleiche Autor klagte: "Viele Menschen in der Bundesrepublik geraten in Panik, weil sie um ihren Besitzstand bangen." Die PDS dürfe sich aber nicht "zum Anwalt der Besitzstände machen, die im Kontext des 500jährigen Kolonialismus entstanden sind und sich nach wie vor auf Kosten der Mehrheit der Menschen reproduzieren." (2. Märzheft von "Disput")
Irgendwie wohl wahr. Aber andererseits, wie will man dann in diesem Land überhaupt noch Sozialpolitik begründen, die eigentlich immer Wahrung des Besitzstandes, meist sogar dessen Mehrung zum Ziel hat? Und wie, vor allem, will man das populistische Spiel mit den Stimmungen vieler Ostdeutscher rechtfertigen, die nicht damit fertig werden, daß es ihnen aufgrund der "Wiedervereinigung", in die doch die meisten von ihnen freiwillig und viele geradezu stürmisch hineingerannt sind - wir erinnern uns an ihre Rufe nach DM, freier Marktwirtschaft, einig Deutschland usw. - heute fast (aber doch wirklich nur fast) so schlecht geht wie den Tschechen oder Polen, obwohl sie selbst doch Deutsche sind? Müßte die PDS dann nicht eigentlich den Rückzug aus den "Gerechtigkeitskomitees" antreten und statt dessen den Ostdeutschen knallhart sagen, daß es ihnen nicht nur keineswegs besser, sondern noch sehr viel schlechter gehen würde, wenn die Weltwirtschaft "gerecht" funktionieren und verteilen würde, statt so, wie sie es nun einmal tut?
Alles in allem eine Diskussion, die noch gar nicht begonnen hat und die mit vordergründigen Polemiken nicht von der Stelle zu bewegen ist. Ob es mir im Folgenden gelungen ist, dem Reiz der polemischen Form einigermaßen zu widerstehen, mögen die LeserInnen und die Angesprochenen entscheiden.
Einwanderung = Flucht?
Ein zentraler Punkt der PDS-"Asyl- und Flüchtlingspolitik" besteht in dem Versuch, das Grundrecht auf Asyl (Artikel 16 GG) zum Vehikel eines allgemeinen Einwanderungsrechts umzufunktionieren. Oder anders gesagt: die Forderung nach "offenen Grenzen" soll ausschließlich über eine maximale Ausdehnung und Liberalisierung des Asylrechts und der Asylpraxis durchgesetzt werden. Der Begriff des "Asyls", der traditionell eine ganz bestimmte politische Bedeutung hat, wird dabei zur totalen Beliebigkeit ausgeweitet - und bleibt schließlich überdehnt und ausgeleiert auf der Strecke. (Im weiteren beziehe ich mich auf den Beschluß - "Leitantrag" - der 3. Tagung des 2. Parteitags der PDS im Dezember 1991, "Für ein Recht auf Zuflucht - für eine offene Gesellschaft". Abgedruckt im "Pressedienst PDS", 3.1.92)
Der Leitantrag plädiert erstens für eine "Erweiterung der Anerkennung der Fluchtursachen" und formuliert einen Katalog zusätzlich anzuerkennender Asylgründe: "Das Asylrecht muß für alle Flüchtlinge gelten. Es muß die individuelle, politische, rassische, ethnische und religiöse Verfolgung, die geschlechtsspezifische Verfolgung und die Verfolgung wegen sexueller Orientierung, die Anerkennung von heimatlosen Menschen (Sinti, Roma, PalästinenserInnen), die Anerkennung von Zufluchtsuchenden aus Kriegs- und Bürgerkriegsregionen und DeserteurInnen, die Anerkennung kollektiver Verfolgung von ethnischen Gruppen ohne Individualnachweis, die Anerkennung von sogenannten ,Umwelt- und Armutflüchtlingen` usw. umfassen."
Alles das sind sinnvolle Vorschläge, die im Einklang mit Forderungen stehen, wie sie vor allem von Staaten der "Dritten Welt" seit längerem erhoben werden. Insbesondere die Anerkennung kollektiver Verfolgungs- und Repressionssituationen ist dringend geboten. Nach gängiger Rechtspraxis in der BRD hätten beispielsweise Emigranten aus Nazi-Deutschland, die nicht unmittelbar persönlich verfolgt waren, sondern die einfach nicht in einem Staat leben wollten, der Juden zu Menschen zweiter Klasse erklärte und Kommunisten einsperrte, keinen Asylanspruch haben dürfen.
Offenbar setzte sich auf dem PDS-Parteitag aber die Auffassung durch, daß eine Ausweitung der Anerkennungsgründe doch nur halber Kram wäre. So wurde, abweichend vom ursprünglichen Entwurf des Leitantrags - abgedruckt im "Pressedienst PDS" vom 22.11.91 - noch folgender Zusatz aufgenommen: "Die PDS tritt für eine Abschaffung der Asylverfahren ein, da auch die weitestgehendsten Anerkennungskriterien immer Opfer produzieren. Zufluchtsuchende haben unverzüglich ihr Asyl zu erhalten."
Es ergibt sich also der Widerspruch, daß die PDS das Asylverfahren einerseits verändern will - Ausweitung der Anerkennungsgründe -, andererseits aber völlig abschaffen will, so daß also jeder Einwanderungswillige automatisch als asylberechtigter "Zufluchtsuchender" gelten soll, unabhängig von seiner wirklichen Lage. Damit hat sich die PDS gewissermaßen von der Diskussion um eine Liberalisierung des Asylverfahrens verabschiedet, denn etwas reformieren zu wollen, was man sowieso abschaffen will, kann von vornherein nur unernst und taktizistisch wirken. (Nicht einmal die klassische Trennung zwischen "Minimalforderung" und "Maximalforderung" wurde im Leitantrag vorgenommen. Beides steht völlig unvermittelt direkt nebeneinander, als wäre der Widerspruch nicht einmal wahrgenommen worden.)
Tatsächlich ist zur ganzen juristischen Handhabung der Asylverfahren, die eine Chronik von Skandalen ist, um eine regierungspolitisch fixierte Anerkennungsquote von höchstens fünf Prozent einzuhalten, von der PDS viel zu wenig zu hören.
Dem Ansatz des Leitantrags entsprechend werden die globalen Migrationsbewegungen, für die es vielfältige, teils sehr unterschiedliche kollektive und individuelle Gründe gibt, von der PDS generell zu "Fluchtbewegungen" pauschalisiert und stilisiert. Der Migrant, was immer seine Ausgangslage und seine Auswanderungsgründe gewesen sein mögen, wird zum "Zufluchtsuchenden" abgestempelt, was in vielen Fällen sicher zutreffend ist, in anderen aber auch nicht. Seine Lage wird ebenso eindrucksvoll wie schematisch beschrieben mit "Hunger und Armut, Unterentwicklung und ökologische Katastrophen, Kriege und Bürgerkriege" (Leitantrag). Genau auf den Punkt gebracht hat Frank Lehmann in einem Diskussionsbeitrag die Sache mit dem Satz: "Niemand verläßt seine Heimat ohne wirklich zwingende Ursachen." ("Disput", 18/92, 2. Septemberheft).
Konsequent zuende gedacht, müßten die über fünf Mio. Ausländer in der BRD allesamt Leute auf der Flucht sein, denen bei einer Rückkehr in ihre Heimat (beispielsweise die Türkei oder Italien) das Verhungern oder zumindest bitterste Not drohen würde und die einfach keine andere Wahl hatten und haben. Ähnlich müßte man dann wohl auch die 250.000 Ostdeutschen, die allein in diesem Jahr in die alten Bundesländer umgezogen sind, unterschiedslos als Flüchtlinge bezeichnen. Argument: Die Arbeitslosigkeit ist in der Ex-DDR weit höher als in irgendeinem Land Osteuropas. Allerdings lebt ein Arbeitsloser in Ostdeutschland wahrscheinlich immer noch besser als viele Akademiker in Polen, aber jene haben immerhin einen Job und eine Aufgabe, während dieser vor der Perspektivlosigkeit steht. Auch ein "Fluchtgrund".
Verkannt wird, daß auch Menschen, die in ihrer ursprünglichen Heimat weder dem Hungertod noch der Folter ins Auge sahen, ein Interesse haben könnten und jedenfalls das Recht haben, anderswo besser leben zu wollen. Problematisch ist dieser Irrtum der PDS, weil solche Menschen vermutlich die Mehrheit der Ausländer bilden, die nach Deutschland kommen.
Aus naheliegenden Gründen gelangen aus den extremen Fluchtsituationen, in denen es wirklich um Leben oder Tod geht oder um den Kampf ums Existenzminimum, kaum Menschen nach Westeuropa. Aktuelles Beispiel Somalia: "Immer noch über 1000 Tote pro Tag" ("Neue Zürcher", 6.10.92). Nach Angaben der Welternährungsorganisation FAO sterben jährlich 13 Mio. Kinder unter fünf Jahren an Hunger oder an den Folgen von Unterernährung und Infektionskrankheiten, die "eigentlich" vermeidbar oder heilbar gewesen wären. Es ist davon auszugehen, daß aus den Ländern, um die es dabei in erster Linie geht, kaum ein Asylbewerber bis nach Deutschland gelangt. Und wenn doch, dann wahrscheinlich kein Halbverhungerter, sondern Menschen aus der intellektuellen Mittelschicht.
Afrika ist seit Jahren der Kontinent des Hungers schlechthin, mit derzeit etwa 170 Mio. Unterernährten laut FAO und mit dem Gros der von der UNO registrierten Flüchtlinge. Aber aus ganz Afrika kamen in Allen Jahren bis 1989 jeweils weniger als 10.000 Asylbewerber in die BRD, 1989 dann 12.500 und 1990 "immerhin" 24.000 - etwa gleichviel wie aus der Türkei oder aus Jugoslawien. (Wohlgemerkt: das war noch vor Beginn des Bürgerkriegs)
Sicher gibt es in den Nachfolgestaaten der ehemaligen UdSSR große Armut, aber auch in diesem Fall ist zu konstatieren, daß gerade die Allerärmsten und die Menschen aus Bürgerkriegsgebieten keinen nennenswerten Anteil an den Asylbewerbern bilden. Andererseits treffen auf die meisten derjenigen, die wirklich auszuwandern versuchen, die in der PDS ständig strapazierten Klischees von bitterlicher Not und täglicher Todesgefahr gar nicht oder nur bedingt zu. Denken wir nur daran, daß höchstwahrscheinlich kein einziger der oft bettelarmen russischen Rentner emigrieren wird und kann, während die Chance sehr viel größer ist, daß sich Akademiker oder Facharbeiter um die 25-35, und erfahrungsgemäß Männer erheblich mehr als Frauen, auf den Weg machen könnten.
In der ehem. UdSSR liegt die Zahl der bürgerkriegsbedingten Flüchtlinge bei über einer Million Menschen. In der BRD ist davon immer noch nichts zu spüren: Die Gesamtzahl der Asylbewerber aus der GUS lag 1990 bei 2.300 und 1991 bei 5.700; 1992 könnte sie auf etwa 15.000 ansteigen. Aber allein in den ersten acht Monaten dieses Jahres kamen über 100.000 "deutsche Aussiedler" aus dem GUS-Gebiet.
Generell trifft das Klischee, daß jetzt in erster Linie die Opfer von Hungerkatastrophen und Bürgerkriegen vor unserer Tür stehen, keineswegs zu. Bisher jedenfalls nicht. Ein aktuelles Beispiel ist, daß auch von den Menschen, die in den letzten Monaten aus Jugoslawien nach Deutschland kamen, nur ein relativer kleiner Teil aus den Kriegsgebieten stammte.
Laut PDS-Leitantrag begründet sich aber das Asylrecht aus dem Recht auf Leben, also aus unterstellter Lebensgefahr (oder gesundheitlicher Gefährdung) der Betroffenen, es wird praktisch mit dem Recht auf Leben gleichgesetzt. Das ist in vielen Einzelfällen selbstverständlich zutreffend, gilt aber für die Mehrheit der Einwanderungswilligen und zwangsweise zu Asylbewerbern gemachten nicht. Moralisch und agitatorisch macht es sich natürlich sehr gut, wenn trotzdem so getan wird, als gebe es für die Menschen, die konkret in die BRD einwandern wollen und dazu einen Asylantrag benötigen, nur die Alternative zwischen "Zuflucht" oder der Rückkehr in den sicheren oder doch sehr wahrscheinlichen Tod. Leider ist es jedoch so, daß die PDS zu all jenen Situationen, wo es wirklich total um Tod oder Leben geht, wie in den afrikanischen Hungergebieten, vergleichsweise wenig zu sagen hat.
Es fragt sich, ob man mit dieser sachlich falschen Klischee-Bildung den Menschen, um die es geht, gerecht wird oder ihnen damit wenigstens hilft. Das Konstrukt ist doch allzu augenscheinlich falsch. Wie schnell stellt sich dann, auch aus PDS-Kreisen selbst, der billige Einwand ein: so verhungert hätten die "Asylanten" aber eigentlich gar nicht ausgesehen, und ein paar Autos hätten auch bei den Containern geparkt. Die Antwort kann eigentlich nur sein, daß es darauf wirklich nicht ankommt und, daß ein Mensch auch ohne "bitterste Not" und "höchste Lebensgefahr" ein Recht auf Migration hat. Übrigens ließe sich in diesem Zusammenhang darauf verweisen, daß in früheren Jahrhunderten Hunderttausende von Deutschen von diesem Recht Gebrauch gemacht haben, ohne daß wir sie deswegen nachträglich allesamt zu "Elendsflüchtlingen" erklären müßten.
Das Problem besteht darin, daß Menschen, die, aus welchen Gründen auch immer, in die BRD einwandern wollen, dies nur durch das Nadelöhr "Asylrecht" tun können, daß also eine dringende Notlage zur Voraussetzung gemacht wird, was an sich schon unbillig ist. Bei dem reaktiven und eher defensiven Versuch, das Grundrecht auf Asyl von links her so total zur Beliebigkeit zu verformen, daß jeder irgendwie hineinpassen könnte, muß das Nadelöhr zwangsläufig zerbrechen. Anders gesagt: Wer die spezifischen Kriterien und Voraussetzungen, die zum Asyl gehören und die es von anderen Formen der Einwanderung unterscheiden, außer Kraft zu setzen versucht, trägt auf seine Art auch zur Zerstörung des Asylrechts bei.
Sinnvoller wäre es, die ganze deutschstaatliche Konstruktion, die ein Einwanderungsrecht nur als Asylrecht zuläßt, es also nur "politisch Verfolgten" zubilligt (und das in der Praxis zumeist noch nicht einmal tut) als Perversion des Denkens zurückzuweisen. Dann wäre auch der Gedanke, einerseits ein sehr liberales Einwanderungsrecht zu fordern und andererseits am Asylrecht als speziellem Schutzrecht für bestimmte Personen und Gruppen festzuhalten, nicht von vornherein abwegig.
Jedem einen Arbeitsplatz überall
Aus Statistiken ergibt sich, daß die Bevölkerung in Deutschland (BRD und DDR jeweils zusammengerechnet) seit Anfang der 70er Jahre sehr stabil ist, nämlich um die 79 Mio. Menschen, "trotz" Verdoppelung der Zahl der hier lebenden Ausländer im gleichen Zeitraum. Weit entfernt von einer "Überflutung" hat bisher die Zuwanderung also gerade eben den konstanten Rückgang der deutschen Bevölkerung aufgefangen. Anzumerken ist dazu, daß die angebliche "Überforderung" Deutschlands durch die "Asylantenflut" bereits seit etwa 1980 ein Dauerthema der Propaganda ist, als die Zahl der Asylbewerber nur ein Viertel der heutigen betrug.
Interessant ist vor dem Hintergrund der verbreiteten Panikmache um die Arbeitsplätze, daß heute in absoluten Zahlen in Deutschland erheblich weniger Ausländer beschäftigt sind als 1972 in der BRD. Damals waren es um die 2,5 Mio., heute etwa 1,9 Mio. Der Anteil der Ausländer an den Beschäftigten sank von fast 12% 1973 über 9,6% 1980 auf knapp 8% 1990 ab. Wohlgemerkt, nur bezogen auf die alte BRD-West; die Einbeziehung der ausländerarmen Ex-DDR senkt natürlich aufs ganze Deutschland bezogen den Prozentsatz noch weiter ab. (Ausländeranteil Ende 1989: 1,2%, verglichen mit 7,7% in der alten BRD).
Wie erklärt sich dieser Rückgang der Zahl ausländischer "Arbeitnehmer", der so ganz im Gegensatz zu den gängigen Vorstellungen und Vorurteilen steht? Anfang der 70er Jahre handelte es sich noch um die erste Generation der "Angeworbenen", nahezu durchweg Menschen im arbeitsfähigsten Alter, mit relativ wenig Familienanhang. Über 80% der in der BRD lebenden Ausländer waren damals berufstätig. Ihre dauerhafte Ansiedlung in der BRD war von deutscher Seite nicht vorgesehen; sie galten als "Gastarbeiter", die irgendwann "heimkehren" sollten.
1973 bremste die Bundesregierung die Zuwanderung durch einen Anwerbestop ab, und zwar schon zu einem Zeitpunkt, wo sich gerade erst die Wölkchen einer Rezession zu zeigen begannen. (270.000 Arbeitslose in 1973, verglichen mit der Spitze von 2,3 Mio. 1985). Die Zahl der ausländischen Beschäftigten wurde durch überdurchschnittlich hohe Arbeitslosigkeit, "Rückkehrprämien" u.ä. bis 1985 auf ein Tief von 1,5 Mio. abgesenkt und stieg seither wieder an, zuletzt auch begünstigt durch den Anschluß-Boom.
Im gleichen Zeitraum, seit Anfang der 70er Jahre, verdoppelte sich jedoch die Zahl der in der BRD lebenden Ausländer nahezu, aller ausländerfeindlichen Rhetorik zum Trotze. Durch Nachzug und Familienbildung wurde aus der nur zum Arbeiten angeheuerten ersten Generation ein Bevölkerungsteil, der in seiner Struktur nun recht weitgehend der deutschen Mehrheit entspricht, bis hin zu einer Anpassung an die niedrige deutsche Geburtenrate. Ihr Prozentanteil an der Beschäftigung entspricht jetzt ziemlich genau dem an der Bevölkerung.
Insgesamt zeigt diese Entwicklung aber auch, daß beim Stand der Dinge die Nachfrage des deutschen Kapitals nach ausländischen Arbeitskräften zum Stillstand gekommen ist oder verglichen mit der Zeit vor 20 Jahren sogar zurückgegangen ist. Ebenso ist das allerdings für die Nachfrage nach Arbeitskräften insgesamt zu sehen, die seit langem stagniert, bei einem resistenten Potential an Arbeitslosigkeit von offiziell 3,2 Mio. in ganz Deutschland, unter Einbeziehung der "versteckten" Arbeitslosigkeit in Ostdeutschland wahrscheinlich sogar weit über 4 Mio. Offiziell sind in der ex-DDR 1,2 Mio. Menschen arbeitslos gemeldet. Laut "Spiegel" 38/1992 hatten aber schon bis Ende 1991 rund 2,5 Mio. DDR-Menschen ihren Arbeitsplatz verloren, und weitere 1,4 Mio. steckten in Arbeitsbeschaffungs- oder Bildungsmaßnahmen.
Interessant ist, gerade auch unter dem Aspekt der Einwanderungspolitik, der Anschluß-Boom, der den alten Bundesländern einen gewissen Rückgang der Arbeitslosigkeit und eine hohe Zahl zusätzlicher Arbeitsplätze bescherte. Zwischen 1988 und 1991 wanderten in die BRD (West) 3,6 Mio. Menschen ein. Darunter waren etwa 1,7 Mio. potentielle Erwerbstätige. Von diesen fanden bis Ende 1991 etwa 1,3 Mio. einen Arbeitsplatz. Gleichzeitig verringerte sich in diesem Zeitraum die Zahl der Arbeitslosen im Westen um fast 550.000. Insgesamt erhöhte sich die Zahl der Beschäftigten im Westen also um gut 2,2 Mio. Der direkte Zusammenhang zur gleichzeitigen Arbeitsplatzvernichtung in der ex-DDR drängt sich auf. Diese Produktionsstätten, in denen in erheblichem Maße für den eigenen Konsum und für den Export in die RgW-Länder gearbeitet worden war, wurden natürlich nicht ersatzlos liquidiert, "verschwanden" in Wirklichkeit nicht, oder nur zum kleineren Teil. Sie wurden nach Westen verschoben, indem BRD-Unternehmen in großem Umfang die Versorgung der ostdeutschen Bevölkerung wie auch den Hauptteil vom Ost-Export der alten DDR übernahmen, soweit dieser nicht dem Zusammenbruch des RgW zum Opfer fiel.
Das Beispiel zeigt, daß Arbeitsplatzbeschaffung unter den herrschenden Umständen wohl zwangsläufig mit Arbeitsplatzvernichtung irgendwo anders einhergeht, sofern die absolute Nachfrage nach Arbeitskräften nicht steigt, wogegen zur Zeit aber die weltwirtschaftlichen Indikatoren deutlich sprechen. Selbstverständlich hat keiner der Zuwanderer in der BRD (West) einem DDR-Menschen persönlich dessen Arbeitsplatz "weggenommen", aber ein enger Zusammenhang zwischen den Vorgängen ist dennoch nicht zu übersehen. Es hat zwischen den Arbeitskräften und Standorten ein Konkurrenzkampf stattgefunden, bei dem die DDR-Menschen und -Produktionsstätten aus politischen und strukturellen Gründen den Kürzeren gezogen haben. Und: ohne die massenhafte Zuwanderung wäre das BRD-Kapital sicher nicht in der Lage gewesen, in so rasantem Tempo die DDR-Industrie auszuschalten und "plattzumachen", sondern wäre weit mehr auf den Erhalt der bestehenden Standorte angewiesen gewesen.
Übrigens setzte sich die Zuwanderung nach Pressemeldungen ungefähr zu je einem Drittel aus "deutschstämmigen" Ost-Aussiedlern, Übersiedlern aus der DDR und Ausländern zusammen. (Alles nach FAZ, 8.9.92) Tatsächlich dürften Ausländer aber noch weniger als ein Drittel ausgemacht haben, die Deutschen also entsprechend etwas mehr als zwei Drittel. Das ist, aus rassistischer Sicht "selbstverständlich" und "natürlich", niemals mit Begriffen wie Schwemme, Flut, Überflutung, Überforderung behandelt worden.
Warum dieses etwas weitschweifende Zahlenspiel? Im PDS-Leitantrag heißt es: "Die PDS fordert: Alle Menschen haben ein Recht, sich dort niederzulassen, wo sie wollen; alle Menschen haben ein Recht auf einen Arbeitsplatz dort, wo sie sich niedergelassen haben; alle Menschen haben ein Recht auf eine Grundsicherung, auf eine bezahlbare Wohnung, ausreichende Infrastruktur und Versorgung in ihren Kommunen."
Es fehlt die Erklärung, wie das in einem Land realisiert werden soll, das jetzt schon über 4 Mio. Arbeitslose hat, in dem 2,7 Mio. Wohnungen fehlen ("Hamb. Abendblatt", 10.10.92; nach Angaben des Deutschen Mieterbunds) und über 3 Mio. Menschen von Sozialhilfe abhängig sind. (Siehe Caritas-Studie im "Neuen Deutschland", 14.9.92)
Die Zahl der Asylanträge wird in diesem Jahr ungefähr 450.000 erreichen, nach 260.000 im Vorjahr und knapp 200.000 in 1990. (Hinzuzurechnen wären 220.000 "deutsche Aussiedler" in 1991 und grob geschätzt etwas unter 200.000 im laufenden Jahr.)
Nun ist bekanntermaßen die Zahl der Asylanträge von einer äußerst restriktiven Einwanderungspolitik und von der extrem "günstigen" geopolitischen Lage der BRD künstlich niedrig gehalten. Von der deutschen Wirtschaft abhängige Länder wie Polen und die CSFR lassen sich gezwungenermaßen auf eine Puffer-Rolle verpflichten. Dennoch ist die Zahl der Einwanderungswilligen tatsächlich rasant angestiegen, ohne daß sich eine Trendwende abzeichnet. Bei wirklich offenen Grenzen, ohne Zurückweisungen an den Grenzen, ohne Druck auf die Nachbarstaaten, ohne vorsätzliche Abschreckung der Einwanderungswilligen durch menschenunwürdige Lebensbedingungen, wäre vermutlich damit zu rechnen, daß zunächst einmal jährlich mindestens 500.000 zusätzliche potentielle Arbeitskräfte in die BRD kämen, realistisch betrachtet wohl deutlich mehr.
Anzunehmen, daß sich eine solche Zuwanderung ohne erhebliche Verschärfung der Verhältnisse auf dem Arbeits- und Wohnungsmarkt bewältigen ließe, wäre absurd. Argumentationen auf den heutigen Zustand stützen zu wollen, wie es "gutgemeint" häufig geschieht, wäre fatal. Daraus ergibt sich, daß die "Asyl- und Flüchtlingspolitik", die man zutreffender als Einwanderungspolitik bezeichnen sollte, in unmittelbarem Zusammenhang mit Fragen der Wohnungspolitik, Sozialpolitik usw. diskutiert werden muß. Es muß begriffen werden, daß hier wirklich riesige Probleme liegen, auf die wir nicht einfach antworten können, daß die BRD schließlich ein reiches Land ist und daß die Deutschen sich gefälligst nicht so anstellen sollen, weil es ihnen doch immer noch sehr gut geht.
Die Probleme, die sich mit der Zuwanderungen ergeben, betreffen keineswegs nur die deutsche Bevölkerung im biologistischen Sinn, sondern alle hier lebenden Menschen, aber die Ärmeren weit stärker als die Reicheren. Beispielsweise werden die Konkurrenz mit einwandernden "Billigarbeitern" die in der BRD tätigen Ausländer noch stärker zu spüren bekommen als die Deutschen, weil sie in den entsprechenden Jobs - etwa: Gaststätten und Hotels - überdurchschnittlich stark arbeiten. Ähnliches gilt für die Konkurrenz um billigen Wohnraum.
Würde die voraussehbare Zuwanderung bei offenen Grenzen dazu führen, daß die Zahl der Arbeitslosen dann jedes Jahr um mindestens eine weitere halbe Million zunimmt? Oder wäre das Resultat beispielsweise, daß erhebliche Teile der osteuropäischen Produktion in die BRD verlagert werden, entsprechend dem oben skizzierten Vorgang bei der Zerschlagung der DDR-Industrie? Soll heißen: der BRD-Arbeitsmarkt "integriert" im Wesentlichen die Zuwanderung, aber mit dem Nebeneffekt, die Entindustrialisierung in Osteuropa zu forcieren?
Aus vielen, auch ökologischen und machtpolitischen Gründen, wäre es überhaupt nicht wünschenswert, auf dem Wege ungebremster globaler Migrationsbewegungen einen noch größeren Teil der Weltproduktion in den hochindustrialisierten Metropolen, also vor allem in den imperialistischen Staaten, zu konzentrieren. Andererseits ist es aber auch keine menschenwürdige Alternative, wenn aus den Zuwanderern eine dienstbare Kaste von Zeitungsausträgern, Kellnern, Putzpersonal, exotischen Huren und Schwarzarbeitern entsteht, wie es jetzt real zu einem erheblichen Teil geschieht.
Hier stehen offenbar noch viele Fragen offen, auf die Antworten wirklich sehr schwer fallen. Um so nötiger wären dazu kollektive Anstrengungen, auch im Sinne solidarischen Streitens, statt um die Dinge in weitem Bogen herumzureden, sie als rassistische Hirngespinnste abzutun oder über die konsumgeilen Spießer zu lamentieren, die Angst um ihren Wohlstand haben.
Wahrscheinlich würde eine Untersuchung zeigen, daß es etlichen Leuten, die rassistisch reden und handeln, vor allem in der Ex-DDR, doch um einiges schlechter geht als manchen ihrer linksradikalen Kritiker. Man kann und muß diesen Leuten sehr vieles vorwerfen, aber den Anklagepunkt "Angst um den Wohlstand" sollte bitte nur ins Spiel bringen, wer sich völlig sicher ist, nicht selbst im Glashaus zu sitzen. Die Einsicht etwa, daß Antirassisten ganz genauso zu Lasten der "Dritten Welt" leben wie Rassisten, ist aus den Polemiken selten herauszulesen.
Der Gedanke, weltweit für jeden Menschen einen Arbeitsplatz - wohl immer zu ergänzen: nicht irgendeinen, sondern einen angemessenen - an jedem Ort zur Verfügung stellen zu können, wo er sich gerade niederlassen möchte, ebenso natürlich den passenden Wohnraum, und beides möglichst schnell, ist schlichtweg hanebüchen, und für Leute, die sich als wissenschaftliche (!) Sozialisten betrachten, von beschämender Einfalt. Genug qualifizierte Arbeitsplätze, genug guten und bezahlbaren Wohnraum, das setzt selbstverständlich gesellschaftliche Planung und Planbarkeit für überschaubare längere Zeiträume voraus. Die Migrationsbewegungen, mit denen bei "offenen Grenzen" zu rechnen wäre, wären aber das Gegenteil von planbar, würden jede Prognostik scheitern lassen.
Der trotzige Maximalismus - "Wir fordern es trotzdem; sollen die Kapitalisten doch sehen, wie sie es hinkriegen! Sie haben sich die Suppe ja selbst eingebrockt" - hat zudem den Nachteil, daß er offensichtlich bei den Menschen, die Adressaten linker Sozialpolitik sein könnten, keinen großen Eindruck macht, da er irreal und bewußt überzogen wirkt. Hinzu kommt, daß der Zusammenbruch des "Realen Sozialismus" nicht zuletzt eben auch ein großes ökonomisches Fiasko offenbarte, und daß die Sozialisten genau auch an den Problemen gescheitert sind, deren Lösung sie jetzt ohne weiteres von den Kapitalisten einfordern. Diese Erfahrung macht sie in der zweifellos angenehmeren Rolle der maximalistischen Opposition und des Arztes am Krankenbett der kapitalistischen Weltwirtschaft leider nicht glaubwürdiger.
Fakt ist, daß die Wanderungsbewegungen der Gegenwart und absehbaren Zukunft riesige Probleme der betroffenen Menschen und Regionen widerspiegeln, aber auch für die Industriestaaten große Schwierigkeiten aufwerfen. "Offene Grenzen" wären ohne erhebliche Verschlechterung, Chaotisierung und Verschärfung der inneren Verhältnisse in den kapitalistischen Metropolen aller Wahrscheinlichkeit nach nicht zu haben. Es ist realistisch anzunehmen, daß damit die globale Migration Züge der jetzigen Binnenwanderungen annehmen würde. Das würde beispielsweise bedeuten, daß sich in den Metropolen tendenziell ähnliche Strukturprobleme entwickeln könnten, wie sie heute schon für die "Mega-Städte" in Lateinamerika und Asien kennzeichnend sind.
Nun kann man sich natürlich auf den Standpunkt stellen, daß damit den "reichen Staaten" - in denen aber konkret betrachtet ja auch gar nicht alle Menschen wirklich so reich sind - nur geschehen würde, was sie verdienen, gewissermaßen als Sühneleistung für 500 Jahre Kolonialismus, Imperialismus und Ausplünderung der "Dritten Welt". Auch könnte man argumentieren, daß die Menschen in den Metropolen erst einmal die Schreckensvision unkontrollierbarer Zustände unmittelbar vor Augen haben müssen, bevor sie sich vielleicht dazu bequemen, den Gedanken des Teilens, einer "gerechteren Weltwirtschaftsordnung" usw. ernsthaft näherzutreten. Man müßte dann aber auch begreifen, daß diese Sichtweise den Menschen ungeheuer schwer zu vermitteln ist - so schwer, daß dagegen traditionelle kommunistische Propaganda sich wie ein Kinderspiel ausnehmen würde. Aber wie Linke, die untereinander selten einen sachlichen Diskurs zustande kriegen, andere Menschen in einer so unendlich schwierigen Sache überzeugen wollen, vermag ich noch nicht zu sehen.
"Bekämpfung der Fluchtursachen"
Viel ist in Veröffentlichungen der PDS davon die Rede, daß die kapitalistischen Länder einen angemessenen Beitrag leisten müßten, um die Ursachen zu beseitigen oder abzumildern, die gegenwärtig Millionen Menschen "zur Flucht zwingen". In den Worten des Leitantrags: "Eine wirksame Bekämpfung der Fluchtursachen muß von denen erfolgen, die dafür mitverantwortlich sind: die kapitalistischen Industriestaaten. Sie müssen ihre Weltwirtschaftsordnung, die maßgeblich Hunger und Verelendung in der Dritten Welt produziert, radikal ändern; sie müssen ihre neokoloniale Politik umkehren und diesen Ländern reale Chancen auf dem Weltmarkt einräumen. Sie müssen ihre Militär- und Waffenausfuhren radikal unterbinden, sie müssen ihre materiellen Ressourcen zugunsten der Dritten Welt umleiten, statt mehr von ihnen zu erhalten, sie wären gezwungen, ihren Reichtum anders zu verteilen usw.".
Im Großen und Ganzen alles richtig. Mein Einwand wäre, daß oft allzu selbstverständlich und gedankenlos so getan wird, als wären die riesigen Probleme, insbesondere in großen Teilen der "Dritten Welt", aber auch in Osteuropa und der ehem. UdSSR, eigentlich in überschaubaren Zeiträumen lösbar, wenn nur bei den Regierungen und bei den Bevölkerungen der "reichen Länder" die richtigen Einsichten vorhanden wären und entsprechend konsequent gehandelt würde. Ganz so einfach ist es aber leider nicht. Wahrscheinlich bestehen keine realistischen Vorstellungen darüber, welcher Mitteleinsatz und auch welcher Zeitaufwand erforderlich wäre, um beispielsweise in Afrika nicht nur fortlaufend 100 Mio. Unterernährte ausreichend zu versorgen, sondern auch die Ursachen des Hungers zu beseitigen, ein gewisses Niveau der Industrialisierung zu erreichen usw. Allein die Sanierung eines sogar noch vergleichsweise "reichen" Landes wie Rußland würde, guten Willen vorausgesetzt, vermutlich alle verfügbaren Mittel der "reichen Länder" erfordern und dennoch mehrere Jahrzehnte dauern. Und gegen die Beseitigung von Fluchtursachen wie Bürgerkriegen hat sowieso noch niemand ein plausibles Rezept angeben können.
Noch einmal Zahlen: Nach einer Schätzung des Internationalen Roten Kreuzes gibt es derzeit auf der Welt etwa 500 Mio. Migranten und Flüchtlinge. (FAZ, 25.3.91) Die Tendenz ist stark zunehmend: "Rund 400 Millionen Menschen werden bis zum Jahr 2000 auf den internationalen Arbeitsmarkt streben, ohne sich große Chancen auf einen Job ausrechnen zu können." (SZ, 21.9.92; nach einer Studie der Internat. Arbeitsorganisation, ILO) Allein in Afrika müßten, gemessen am Bevölkerungswachstum, jedes Jahr mindestens 10 Mio. zusätzliche Arbeitsplätze geschaffen werden, "um wenigstens das derzeitige Beschäftigungsniveau zu halten". (Ebenda) Wenn dieses Problem nicht gelöst wird, und es könnte nach menschlichem Ermessen nicht einmal dann in überschaubaren Zeiträumen gelöst werden, wenn dem PDS-Vorstand die Bildung einer Weltregierung übertragen würde, dann also bleiben auch künftig zig Millionen individuelle "Fluchtursachen", nämlich die elementare Suche nach einem Job. Ob es zur Lösung dieses Problems beitragen würde, wenn ein paar Millionen neuer Jobs für Einwanderer in den Industriestaaten geschaffen werden könnten, oder ob das die Lage in Teilen der "Dritten Welt" eher noch verschärfen würde, ist wohl auch eine offene Frage.
Richtig ist, daß die kapitalistischen Metropolen nichts tun, um die Situation zu verbessern oder sie wenigstens nicht noch fortwährend zu verschärfen. Beispiele wie die beschämend niedrige Entwicklungshilfe der BRD sind selbstverständlich anzuprangern. Nur auf die leichtfertige Pose, als hätten wir Linken doch eigentlich alle Patentrezepte für die globalen Probleme schon in der Tasche und fänden dafür nur leider überhaupt kein Verständnis, sollte besser verzichtet werden. Zumal uns, nach dem Scheitern des "Realen Sozialismus" an den Problemen dieser Welt, eine gewisse Bescheidenheit - nicht zu verwechseln mit Katerstimmung und Apathie - ganz gut zu Gesicht stünde.
Knut Mellenthin
analyse & kritik, 21. Oktober 1992