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Georgische Opposition beginnt Massenproteste
Tausende Oppositionsanhänger aus ganz Georgien haben sich am Freitag, dem 2. November, vor dem Parlament in der Hauptstadt Tblissi versammelt. Auch wenn der "Nationalrat", ein Oppositionsbündnis aus zehn Parteien, seine Ankündigung nicht verwirklichen konnte, 100.000 Menschen zu mobilisieren, handelt es sich mit Sicherheit um die größte Massenkundgebung seit der "Rosenrevolution" vom November 2003. Die Teilnehmerzahl wurde am Freitagnachmittag von internationalen Nachrichtenagenturen auf 40.000 bis 50.000 geschätzt.
Von entscheidender Bedeutung wird die Entwicklung in den kommenden Tagen sein. Der "Nationalrat" will die Demonstration im Zentrum der Hauptstadt so lange fortsetzen, bis Präsident Michail Saakaschwili und die Regierung der Aufnahme eines umfassenden politischen Dialogs zustimmen. Die Opposition hofft, dass sich die USA als Vermittler einschalten und Saakaschwili zu einer Teilung der Macht drängen. Offiziell haben Vertreter der US-Regierung eine solche Rolle bereits abgelehnt. Hinter den Kulissen versuchen die USA jedoch, die georgische Führung von einem harten Konfrontationskurs abzuhalten.
Das Oppositionsbündnis hat sich auf vier unmittelbare Mindestforderungen geeinigt:
- Abhaltung der Parlamentswahlen im Frühjahr 2008, zum verfassungsmäßig vorgeschriebenen Termin. Saakaschwilis Nationalpartei hat vor einigen Monaten mit ihrer Parlamentsmehrheit beschlossen, dass erst im Oktober oder November nächsten Jahres gewählt werden soll.
- Bildung einer neuen zentralen Wahlkommission, in der alle Parteien vertreten sein sollen. Der derzeitigen Kommission wird personelle Verfilzung mit der Staatsführung vorgeworfen.
- Änderung des derzeitigen Mehrheitswahlsystems, das zur Alleinherrschaft von Saakaschwilis Nationalpartei und zur fast vollständigen Ausschaltung der Oppositionsparteien aus dem Parlament geführt hat.
- Freilassung aller "politischen Gefangenen".
Darüber hinaus fordern viele Oppositionsanhänger den Rücktritt Saakaschwilis. Die Parole "Für ein Georgien ohne Präsidenten!" erfreut sich großer Beliebtheit. Gemeint ist damit, über den Personenwechsel hinaus, eine Beschneidung der autoritären Rechte des Präsidenten. Teile der Opposition wollen das Amt ganz abschaffen - manche am liebsten zugunsten einer konstitutionellen Monarchie.
Die derzeitige Protestbewegung wurde durch die Verhaftung des früheren Verteidigungsministers Irakli Okruaschwili Ende September ausgelöst. Zuvor hatte der Politiker heftige Angriffe gegen seinen früheren politischen Weggefährten Saakaschwili gerichtet. Neben Korruption und Machtmissbrauch hatte er dem Präsidenten Mordpläne unter anderem gegen den Großunternehmer Badri Patarkasitschwili vorgeworfen. Die Verhaftung Okruaschwilis wurde mit Wirtschaftsverbrechen, darunter Bestechung und Nötigung, begründet.
Alle Oppositionsparteien, mit Ausnahme der Neuen Rechten, riefen daraufhin zu einer Protestkundgebung vor dem Parlament am 28. September auf. Zwischen 10.000 und 15.000 Menschen beteiligten sich daran. Anschließend begann das Oppositionsbündnis eine Kampagne in Allen Landesteilen Georgiens, um gegen Saakaschwili zu mobilisieren und die Großdemonstration am 2. November vorzubereiten.
Unterdessen wurde Okruaschwili am 9. Oktober gegen Zahlung von umgerechnet 6 Millionen Dollar Kaution aus der Haft entlassen. Er hatte zuvor, sichtlich von Drogen gekennzeichnet, vor laufenden Kameras ein ebenso umfassendes wie unglaubwürdiges "Geständnis" abgelegt. Am 1. November, einen Tag vor der Demonstration in Tbilissi, wurde Okruaschwili abgeschoben. Angeblich soll er über Paris nach München geflogen sein. Die Regierung behauptet jedoch, der Politiker sei auf eigenen Wunsch ausgereist, um sich im Ausland medizinisch behandeln zu lassen.
Am Freitagabend kam es zu einem Gespräch zwischen Oppositions- und Regierungsvertretern. Unter anderem nahmen daran Parlamentspräsident Nino Burdschanadse und der einflussreiche Abgeordnete der Nationalpartei Giga Bokeria teil. Das Treffen ergab nach Darstellung beider Seiten keine Annäherung. Vor allem will die Nationalpartei an der Verschiebung der Parlamentswahlen festhalten, die angeblich "im Staatsinteresse" unbedingt erforderlich sei. Gemeint sind außenpolitische Ereignisse, die im Frühjahr 2008 erwartet werden, insbesondere eine Entscheidung im Streit um die Zukunft des Kosovo - und deren Auswirkungen auf die abtrünnigen Republiken Abchasien und Südossetien.
Eine Überraschung war am Nachmittag die Rede von Badri Patarkasitschwili auf der Kundgebung. Er unterstützte die Forderungen der Opposition und sprach sich für einen friedlichen Verlauf der Kampagne gegen Saakaschwili und die Regierung aus. Er habe vor vier Jahren die "Rosenrevolution" finanziert, sagte der Multimillionär, und stehe jetzt mit seinen finanziellen Mitteln auf Seiten der Opposition.
Nach Einbruch der Dunkelheit harrten immer noch Tausende auf dem Kundgebungsplatz aus.
Knut Mellenthin
Ergänzte Fassung eines am 3. November in der Jungen Welt erschienenen Artikels