KNUT MELLENTHIN

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Georgiens Überfall und das Märchen von der russischen Invasion (Teil I)

Das georgische Parlament hat am 7. Oktober einen Ausschuss gebildet, der „die Ereignisse vor und nach dem August-Krieg“ gegen Südossetien und Russland „studieren“ soll. Auf die Aufgabenstellung „Studieren“ – und nicht etwa „Untersuchen“! – hat die alleinregierende Nationalpartei von Präsident Michail Saakaschwili schon in der Vorbereitungsphase der Einsetzung des Ausschusses großen Wert gelegt. Der Begriff soll offenbar das von der Regierung gewünschte „konstruktive“ Herangehen an die heikle Problematik signalisieren. Der Ausschuss hat zehn Mitglieder: fünf aus den Reihen der Nationalpartei und ebenso viele Vertreter der politisch bedeutungslosen parlamentarischen Opposition, die auch den Ausschussvorsitzenden stellt.

Ein anderer Teil der Opposition boykottiert seit den ihrer Ansicht nach gefälschten, „illegalen“ Wahlen vom 21. Mai 2008 das Parlament; ihre zwölf Abgeordneten haben ihre Mandate nicht angenommen. Die Parteien der außerparlamentarischen Opposition betrachten die im Abgeordnetenhaus sitzenden Oppositionspolitiker als Überläufer und als „Satelliten“ der Nationalpartei. Die Bildung des „Studienausschusses“ zu den Kriegsursachen haben sie von vornherein mit Misstrauen kommentiert. (1)

Tatsächlich ist von der Arbeit des Ausschusses kaum Gutes zu erwarten. Die georgische Opposition – ob nun innerhalb oder außerhalb des Parlaments – ist nicht weniger von engstirnigem und streitsüchtigem Nationalismus beherrscht als die Regierungspartei. Die Feststellung der Tatsache, dass Georgien in der Nacht vom 7. auf den 8. August Südossetien überfallen hat, um die seit 1991 abgespaltene Republik gewaltsam zurückzuerobern, liegt für fast das gesamte politische Spektrum des Landes außerhalb des Vorstellbaren. Die Opposition, die inzwischen auch langjährige Mitstreiter Saakaschwilis wie die im Januar zurückgetretene Parlamentspräsidentin Nino Burdschanadse umfasst, wird die Arbeit des Ausschusses voraussichtlich benutzen, um den Präsidenten maximal zu beschädigen und zu demontieren, gleichzeitig aber der Frage nach der Kriegsschuld Georgiens auszuweichen versuchen.

Nicht nur für die Regierungspartei, sondern auch für die Opposition ist die Sache klar. In den Worten des Fraktionsführers der Christdemokraten im Parlament, Giorgi Targamadse: „Wer hat diesen Krieg begonnen? Diese Fragen stellen wir nicht. Der Krieg wurde vor 20 Jahren von Russland begonnen. (...) Aber viele Fehler wurden von den georgischen Führungsstellen begangen, einschließlich einer Unterschätzung des russischen Faktors.“ – So werde man sich beispielsweise mit dem Verhalten der Grenzpolizei während des Krieges kritisch befassen müssen. Deren Chef ist zufällig Badri Bitsadse, der Ehemann von Nino Burdschanadse. (2)

Auch die von europäischen Politikern befürwortete „internationale Untersuchung“, die angeblich die „Verantwortlichkeiten aller Personen und Behörden in Hinblick auf den August-Krieg“ untersuchen soll, kann zwangsläufig nicht aufklärend wirken, sofern sie überhaupt zustande kommt, was letztlich gar nicht sicher ist. Schließlich haben sich die europäischen Regierungen schon in den ersten Kriegstagen, wenn auch nicht ganz so irreparabel einseitig wie die US-Administration, auf eine Politik festgelegt, die Russland bestraft, während sie Georgien belohnt. Die härtesten Ausdrücke, die für den von Saakaschwili befohlenen Beschuss Tschinwalis mit Raketenwerfern und schwerer Artillerie zu vernehmen waren, lauteten „Fehlkalkulation“, „Fehler“ und „in eine russische Falle gegangen“.

Eine „internationale Untersuchung“ kann überhaupt nur den Zweck verfolgen, die Reaktionen der EU und der USA auf den Krieg nachträglich noch zu legitimieren. Wenn man Georgien in absehbarer Zeit in die NATO aufnehmen will, wird man sich selbstverständlich hüten, seinen Präsidenten als Aggressor und Hasardeur einzustufen, der alle Warnungen europäischer und US-amerikanischer Politik in den Wind geschlagen hat. Stattdessen wird man von der zentralen Frage der Kriegsschuld ablenken und die Vorgeschichte so vernebeln, dass man die Verantwortung schön gleichmäßig auf beide Seiten verteilen kann.

Der belgische Senator Luc Van den Brande, der übrigens dem christlichen Fundamentalismus zugeneigt ist, hatte im Kern das Abschlussergebnis schon parat, als er am 25. September bei einem Besuch in Tbilissi eine „internationale Untersuchung“ forderte: Es sei „absolut klar“, dass der Krieg nicht erst am 7. August begonnen habe, sondern in Wirklichkeit schon sehr viel früher, als es „zahlreiche Provokationen“ gegeben habe. Keine der Seiten habe etwas getan, um den Krieg oder die zum Krieg führende Eskalation der Lage zu vermeiden. (3)

Etwas schärfer und deutlicher drückte sich William Burns, Staatssekretär für politische Angelegenheiten im US-Außenministerium, während einer Kongressanhörung am 17. September aus: „Die Ursachen dieses Konflikts – vor allem der Streit zwischen Georgien und seinen abtrünnigen Regionen Südossetien und Abchasien – sind komplex, mit Fehlern und Fehlkalkulationen auf beiden Seiten. Aber die zentralen Tatsachen sind klar: Russlands verstärkter Druck und seine Provokationen gegen Georgien – zusammen mit einer ernsten georgischen Fehlkalkulation – haben nicht nur zu einem bewaffneten Konflikt geführt, sondern zu einem fortdauernden russischen Versuch, dieses Land aufzuteilen.“ (4)

Saakaschwili will indessen nicht einmal die Vorwürfe “Fehler” und “Fehlkalkulation” gelten lassen. Sie seien eine „grobe Fehlinterpretation“ der georgischen Aktionen, denn Georgien habe auf eine „großangelegte Invasion“ der russischen Streitkräfte „reagieren“ müssen, die schon einen Tag vor den georgischen „Truppenbewegungen“ gegen Südossetien begonnen habe. Dafür gebe es „unwiderlegbare Beweise“. (5) Die will Saakaschwili schon am 9. September den EU-Vertretern Nicolas Sarkozy, Jose Manuel Barroso und Javier Solana bei einem Besuch in Tbilissi übergeben haben. Es handele sich um „ganz starke Beweise, dass die Georgier auf eine großangelegte russische Invasion geantwortet haben, die schon vor dem Beginn der Feindseligkeiten eingesetzt hatte.“ (6)

Der georgische Präsident hat seine Version seither unzählige Male vorgetragen, zumeist der besseren Verständlichkeit wegen gleich auf englisch. Im Kern geht es um die Behauptung, dass er am späten Abend des 7. August benachrichtigt worden sei, dass russische Truppen und Kriegsmaterial durch den vier Kilometer langen Roki-Tunnel – die einzige Landverbindung zwischen Russland und Südossetien – in die abtrünnige Republik transportiert worden seien. Das einzige Mittel, die „Invasion“ aufzuhalten, habe darin bestanden , eine strategisch wichtige Brücke zu zerstören und die vom Tunnel nach Süden führende Straße zu beschießen. Zugleich habe man auf südossetisches Feuer antworten müssen, das unter anderem aus Stellungen in Tschinwali, darunter dem Regierungssitz und dem Verteidigungsministerium, gekommen sei. (7)

Erst fünf Wochen nach dem Krieg schob die Regierung in Tbilissi einen weiteren „ganz starken Beweis“ nach, dass dem georgischen Angriff auf Südossetien eine russische Invasion vorausgegangen sei. Ein abgehörtes Funkgespräch soll beweisen, dass der Transport von russischem Kriegsmaterial durch den Roki-Tunnel schon in den ganz frühen Morgenstunden des 7. August, 20 Stunden vor Beginn des georgischen Überfalls, begonnen hatte. Um die verspätete Präsentation dieses „Beweismaterials“ zu begründen, erklärte die georgische Regierung, dass die Bänder zunächst in den Kriegswirren verloren gegangen seien. (8)

Anscheinend waren die Aufnahmen auch Saakaschwili nicht bekannt gewesen, als er ungefähr am 10. August, also am dritten Kriegstag, zu behaupten begann, er habe den Angriff auf Tschinwali – der am 7. August um ungefähr 23.30 Uhr Ortszeit begann – befohlen, nachdem er in den späten Abendstunden vom Beginn einer russischen „Invasion“ durch den Roki-Tunnel erfahren habe. In Wirklichkeit handelt es sich um ein Gestrüpp von Lügen, das an kindliche Ausreden erinnert.

Betrachten wir einige wesentliche Fakten zur Beurteilung der Vorgänge:

1. Die offizielle georgische Kriegserklärung, die gegen 0.30 Uhr Ortszeit am frühen 8. August gemeldet wurde, lautete kurz und knackig: „Die georgische Seite hat sich entschlossen, die verfassungsmäßige Ordnung in der gesamten Region wiederherzustellen.“ (9) „Die Region Tschinwali“ ist die amtliche georgische Bezeichnung für Südossetien.

Kein Wort von einer russischen Invasion. In der Geschichte gibt es unzählig viele Fälle, wo ein Angriffskrieg als Abwehr einer Aggression dargestellt wurde. Aber vermutlich nicht einen einzigen Fall, wo jemand darauf verzichtet hätte, in seiner Kriegsbegründung eine tatsächliche feindliche Invasion überhaupt zu erwähnen. Bemerkenswert ist auch, dass Mamuka Kuraschwili, der Verantwortliche der vertragsgemäß in Südossetien stationierten Friedenstruppe, haargenau eine Formulierung wählte, die auf dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion wohl kaum jemanden unbekannt ist: „Wiederherstellung der verfassungsmäßigen Ordnung“ waren Boris Jelzins Worte gewesen, als er am 11. Dezember 1994 Tschetschenien angreifen ließ.

2. Mehrere Stunden nach Beginn des Überfalls auf Südossetien, gegen 23.00 Uhr New Yorker Ortszeit, begann eine zunächst interne Beratung, ab 1.15 Uhr morgens offizielle Sitzung des UN-Sicherheitsrats. Einberufen worden war sie auf russischen, nicht auf georgischen Antrag. Auch dies wäre völlig unerklärlich, falls die georgische Führung sich in einer legitimen Verteidigungssituation gewähnt hätte. Während der Sitzung legte der georgische Vertreter Irakli Alasania ausführlich die Sicht seiner Regierung auf den Konflikt dar, sprach jedoch mit keinem Wort von einer russischen Invasion, die dem georgischen Angriff vorangegangen sei. Stattdessen sagte er: „Während wir hier sprechen, dringt ein großes Kontingent Militärpersonal mit Ausrüstung durch den Roki-Tunnel illegal auf Georgiens souveränes Territorium ein. Die zur Russischen Föderation gehörende Republik Nordossetien hat die Mobilisierung bewaffneter Söldner verkündet, die nach Georgien geschickt werden solle.“ An Russland richtete Alasania lediglich die Forderung, den „Transport bewaffneter Söldner nach Georgien“ – gemeint war immer Südossetien – zu verhindern. (10) Zu diesem Zeitpunkt waren seit Beginn des georgischen Angriffs schon sieben bis acht Stunden vergangen. Mit „bewaffneten Söldnern“ waren die Freiwilligen aus Nordossetien und anderen Teilen des Kaukasus gemeint, die auf die Nachricht vom georgischen Überfall hin nach Südossetien eilten.

Der UN-Sicherheitsrat war im Übrigen aufgrund der Obstruktion der USA nicht in der Lage, sich auf eine Resolution zu einigen, die Georgier und Südosseten gleichermaßen dazu aufrufen sollte, sofort alle Kampfhandlungen einzustellen. Der US-Vertreter Zalmay Khalilzad weigerte sich, der Aufforderung zuzustimmen, „auf die Anwendung von Gewalt zu verzichten“. (11)

3. Am Nachmittag des 8. August um 16.20 Uhr Ortszeit trat der Sicherheitsrat erneut zusammen, um sich mit dem Krieg zu befassen. Diesmal sagte Alasania: „Heute Morgen hat Russland eine großangelegte Invasion Georgiens unternommen. (...) Um 5.30 Uhr drangen die ersten russischen Truppen durch den Roki-Tunnel nach Südossetien ein, passierten Java, überquerten die Gufta-Brücke“ (von der Saakaschwili am 25. August in einer Fernsehansprache behauptete, dass georgische Artillerie sie in den allerersten Kriegsstunden zerstört hätte - 12) „und bewegten sich auf Tschinwali zu.“ (13)

Klare Aussage also: Die ersten russischen Truppen durchquerten den Tunnel sechs Stunden nach Beginn des georgischen Angriffs. Keine Rede davon, dass diesem Angriff eine russische Invasion vorausgegangen sei. Dieses Märchen wurde erst zwei Tage später erfunden, nachdem die militärischen Dinge für Georgien sehr unerfreulich gelaufen waren.

4. Auf der Website des georgischen Außenministeriums ist eine Timeline des Krieges zu finden, die im Vergleich zur Rede Alasanias eine bemerkenswerte Ergänzung enthält: „23.30: 100 russische Panzerfahrzeuge und russische Truppen dringen durch den Roki-Tunnel nach Georgien ein.“ Zu dem von Alasania für das erste Eindringen russischer Truppen genannten Zeitpunkt, 5.30 Uhr, heißt es nun in der Timeline leicht, aber doch entscheidend abweichend: „Zusätzliche russische Truppen dringen durch den Roki-Tunnel nach Georgien ein, passieren Java, überqueren die Gufta-Brücke und bewegen sich auf der Dsara-Straße Richtung Tschinwali.“ (14)

Die Timeline wirkt auf den ersten Blick, als wäre sie nachträglich zurechtgeflickt worden. Und tatsächlich: Die ursprüngliche Fassung enthielt den angeblichen russischen Einmarsch um 23.30 Uhr noch nicht, und der Eintrag zu 5.30 Uhr lautete: „Erste russische Truppen dringen durch den Roki-Tunnel nach Südossetien ein, passieren Java...“ usw. (15)

5. Der Timeline auf der Website des georgischen Außenministers zufolge kamen georgische Dörfer in Südossetien erstmals am 8. August um 18.32 Uhr, also 19 Stunden nach Beginn des Angriffs auf Tschinwali, unter russisches Artilleriefeuer. Um 18.44 Uhr erreichten Einheiten der russischen 58. Armee den Stadtrand von Tschinwali. Um 20.30 Uhr begannen die georgischen Truppen, sich aus der Stadt zurückzuziehen. (16)

Die Entfernung vom Roki-Tunnel bis Tschinwali beträgt kaum mehr als 100 Kilometer. Die erwähnte Timeline enthält – anders als spätere freihändige Erzählungen Saakaschwilis – keinen Hinweis, dass der russische Vormarsch durch georgische Verteidigungsmaßnahmen aufgehalten worden wäre. Die Daten der Timeline entsprechen insoweit auch genau dem Zeitablauf, der sich aus den Meldungen der Nachrichtenagentur Civil Georgia rekonstruieren lässt. Es ist ferner davon auszugehen, dass die russischen Einheiten, nachdem der Einsatzbefehl gegeben worden war, so schnell wie möglich auf Tschinwali vorstießen, denn dort waren schon seit vielen Stunden jeweils 500 Soldaten der russischen und nordossetischen Friedenstruppen von einer georgischen Übermacht eingeschlossen und bedrängt.

Schlussfolgerung: Die Durchquerung des Roki-Tunnels durch russische Truppen hat ganz sicher nicht am 7. August um 23.30 Uhr begonnen, und sie hat höchstwahrscheinlich auch später als zu dem zunächst genannten Zeitpunkt, 5.30 Uhr am Morgen des 8. August, begonnen. Der Ablauf der Ereignisse legt vielmehr nahe, dass die russische Regierung mit dem Beginn ihrer militärischen Hilfsaktion für das überfallene Südossetien bis zum späten Vormittag des 8. August gewartet hat – vielleicht in der trügerischen Hoffnung, den kriegerischen Konflikt unter Einschaltung des UN-Sicherheitsrats und mit Unterstützung der US-Regierung noch abwenden oder den Schaden so gering wie möglich halten zu können.


Anmerkungen

  1. Nachrichtenagentur Civil Georgia, 22.9.2008 und 7.10.2008
  2. Civil Georgia, 18.9.2008
  3. Civil Georgia, 26.9.2008
  4. Civil Georgia, 18.9.2008
  5. Civil Georgia, 18.9.2008.
  6. Civil Georgia, 9.9.2008
  7. Civil Georgia, 25.8.2008
  8. Civil Georgia, 16.9.2008 und 21.9.2008
  9. Civil Georgia, 8.9.2008, 00.35
  10. 1Security Council meeting 5951
    www.undemocracy.com/securitycouncil/meeting_5951
  11. Reuters, 8.8.2008
  12. Civil Georgia, 25.8.2008
  13. Security Council meeting 5952
    www.undemocracy.com/securitycouncil/meeting_5952
  14. Ministry of Foreign Affairs of Georgia: Timeline of Events in the Russians Invasion & Occupation of Georgia
    www.mfa.gov.ge/index.php
  15. Ministry of Foreign Affairs of Georgia: Timeline by 13 August 16:20 www.mfa.gov.ge/index.php
  16. Ministry of Foreign Affairs of Georgia: Timeline of Events in the Russians Invasion & Occupation of Georgia
    www.mfa.gov.ge/index.php


Knut Mellenthin

Erschienen auf “Hintergrund” am 13. Oktober 2008