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"Operation Balkansturm"?
Man traut sich wieder. Lauter als irgendjemand sonst in der Welt rufen deutsche Politiker und Journalisten nach militärischer Gewalt gegen Jugoslawien. Andere Politiker, die ihnen widersprechen, schämen sich nicht, als Argument die "Risiken des Partisanenkrieges" anzuführen, unter denen in Jugoslawien bereits die Wehrmacht "gelitten" habe. Wir haben es in zwei Jahren Ganzdeutschland wahrlich weit gebracht.
Aber ist, was laut herumgeschrien wird, darum auch schon realistisch? Droht eine internationale Militärintervention in Jugoslawien, womöglich mit einer Eskalation über den ganzen Balkan? Ich will zu zeigen versuchen, warum ich das derzeit und unter den gegebenen Umständen für unwahrscheinlich halte.
Herbst 1991: Die WEU winkt ab
Im September-Oktober 1991 wurde vorübergehend der Einsatz einer rein europäischen "Friedenstruppe" in Jugoslawien diskutiert. Es scheint, daß der französische Präsident Mitterand um den 10. September herum diese Möglichkeit als erster ins Spiel brachte. Diese Truppe unter WEU-Kommando sollte eine Pufferzone zwischen den Kriegsparteien in Kroatien überwachen. Die WEU sollte diese Aufgabe laut Mitterand allerdings nur übernehmen, falls die UNO dazu aus irgendwelchen Gründen nicht in der Lage wäre. Im übrigen sollte sie nach den gleichen Regeln wie eine "Friedenstruppe" der UNO funktionieren. Das hieß: Voraussetzung wäre erstens die Zustimmung aller Kriegsparteien zur Stationierung, und zweitens ein haltbarer Waffenstillstand. Es ging also, im Unterschied zu einigen kürzlich hochgespielten Interventionsoptionen, nicht um einen Kampfeinsatz mit dem Ziel, eine der Kriegsparteien zum "Einlenken" zu zwingen.
Die Ziele Mitterands bei seinem Vorschlag scheinen gewesen zu sein, erstens eine eigenständige militärische Rolle der WEU zu etablieren, und zweitens die in Sachen Jugoslawien zu Alleingängen tendierende deutsche Politik "einzubinden". Ein Zusammenhang mit Mitterands Besuch in der BRD am 19. September 1991 liegt auf der Hand. Im gemeinsamen Kommunique wurde zum einen der "Friedenstruppen"-Vorschlag erneuert, zum anderen ein Bekenntnis zum "größtmöglichen Zusammenhalt" der EG-Staaten und zur "laufenden Koordinierung" ihrer Jugoslawien-Politik "im Rahmen der WEU" festgeschrieben.
Daß die Taktik Mitterands immerhin einen kurzfristigen Erfolg hatte, war der FAZ vom 28.9.91 zu entnehmen: "In der CDU wird derzeit die Frage einer völkerrechtlichen Anerkennung (...) zurückhaltender behandelt als zu Beginn der Krise. Zunehmend mißt die Bundestagsfraktion der CDU/CSU dem westeuropäischen Zusammenhalt den Vorrang zu." Der außenpolitische Fraktionssprecher Lamers betonte, das "vorrangige Ziel, die EG handlungsfähig zu machen und die Politische Union herbeizuführen", dürfe auf keinen Fall durch Streit um die Jugoslawien-Politik gefährdet werden. Die anderen EG-Staaten hätten die Folgen einer Anerkennung Kroatiens klarer gesehen als die BRD. Die Folgen einer "militärischen Automatik" seien in Deutschland kaum bedacht worden. (Nämlich: daß man Kroatien, wenn man es anerkennt, dann eigentlich auch gegen Verletzungen seines Territoriums militärisch schützen müsse.) Die deutsche Jugoslawien-Politik habe, so Lamers, bestehendes Mißtrauen bei den Verbündeten noch verschärft. Er forderte eine "Selbstkritik, die den Bundestag und die Unionsfraktion einschließt."
Positiv zu einer WEU-"Friedenstruppe" äußerte sich sofort Italien. Die britische Regierung hingegen teilte mit, sie sehe derzeit keine Möglichkeit einer Militärintervention in Jugoslawien. Spätestens damit war klar, daß es für die Idee keinen europäischen Konsens geben würde. Die Außenministerkonferenz der EG vertagte das Problem, indem sie eine Arbeitsgruppe der WEU beauftragte, unterschiedliche Optionen für eine Militärintervention zu analysieren.
Der angeforderte Expertenbericht lag Ende September 1991 vor. Er sah drei unterschiedliche Varianten für eine militärische Flankierung der bereits in Kroatien tätigen EG-Beobachter vor. Der notwendige Kräfteeinsatz wurde zwischen 2000 und 6000 Soldaten geschätzt. Nur die vierte Option konnte aber als "Friedenstruppe" im Sinne des Mitterand-Vorschlags gelten. Dafür wurden 30.000 Mann veranschlagt: 20.000 als Kampftruppe und 10.000 "Hilfspersonen" (vor allem Nachschub und Kommunikationswesen).
Aufgrund dieser Analyse wurden die WEU-Mitglieder befragt, in welchem Umfang sie bereit wären, sich eventuell an einer der Optionen zu beteiligen. Es ergab sich erstaunlicherweise, daß für die vierte Möglichkeit nicht genügend Kräfte vorhanden seien. Explizit gesagt: Die WEU sah sich nicht in der Lage, 30.000 Soldaten zusammenzubringen. Wörtlich genommen war das selbstverständlich blanker Hohn für den Anspruch, eine eigene militärische Rolle Westeuropas zu etablieren. Angesichts der Stärke der einzelnen nationalen Armeen kann dieser Verweis auf den "Sachzwang" nicht überzeugen. Ins Politische übersetzt muß man schlußfolgern, daß der kollektive Wille für eine militärische "eigene Rolle Europas" nicht einmal in dieser relativ geringen Größenordnung vorhanden war (und ist). Zum Vergleich: Am Golfkrieg 1991 beteiligte sich Großbritannien allein mit 35.000 Soldaten; Frankreich schickte weitere 10.500 Mann.
UNO, übernehmen Sie!
Ende Oktober 1991 legte der WEU-Ministerrat die ganze Idee definitiv zu den Akten. Die europäische Rolle verlegte sich nun darauf, den Sicherheitsrat der Vereinten Nationen für die Aufstellung einer UNO-"Friedenstruppe" zu gewinnen. Im Prinzip war das überhaupt kein Problem, aber in der Praxis dauerte es doch noch länger als ein halbes Jahr. Erstens mußten alle Kriegsparteien zustimmen, und die Verhandlungen mit den autonomen serbischen Politikern Kroatiens gestalteten sich zäh und schwierig. Es bedurfte großen Drucks und direkter Einmischung der Belgrader Regierung, bevor sie Anfang Februar 1992 zustimmten. Zweitens wurde die Stationierung durch technische und finanzielle Probleme der UNO verzögert. Die veranschlagten Gesamtkosten - etwa 635 Millionen Dollar - wurden vor allem von den USA als zu hoch beanstandet. Nach Berichten der jugoslawischen Presse ging die UNO schließlich soweit, die Kriegsparteien zur Übernahme eines erheblichen Kostenanteils aufzufordern.
Nach der ursprünglichen Planung sollte die Stationierung der "Friedenstruppe" (UNPROFOR) bis Ende April erfolgt sein. Tatsächlich waren zu diesem Zeitpunkt UNO-Soldaten aber nur in einer der vier vorgesehenen Zonen, nämlich in Ostslawonien, angekommen. Der Abschluß der Stationierung verzögerte sich bis Anfang Juli.
UNPROFORs Auftrag - der zunächst auf zwölf Monate befristet ist - ist nur in Kroatien der einer "Friedenstruppe". Hiervon zu unterscheiden sind die UNPROFOR-Einheiten in Bosnien-Hercegovina, über die gleich noch etwas gesagt werden soll. Die Gesamtstärke in Kroatien liegt bei etwa 15.000 Mann. Sie sind auf vier räumlich voneinander getrennte Zonen (genannt Sektor Nord, Sektor West usw.) verteilt, die ungefähr den serbischen autonomen Gebieten entsprechen. Ihr Auftrag wäre dort vor allem, die Rückkehr der Flüchtlinge und Vertriebenen zu ermöglichen, sowie die "illegalen Streitkräfte" zu entwaffnen. Da sie keinen Kampfauftrag haben - und dafür militärisch auch viel zu schwach wären -, sind sie auf den guten Willen der faktischen Machthaber, das heißt der autonomen serbischen Behörden und Milizen, angewiesen. Wenn sich beispielsweise herausstellt, daß der kroatischen Bevölkerung die Rückkehr verwehrt wird, oder daß sogar noch nach Eintreffen der UNPROFOR-Truppen Vertreibungen vorgenommen werden, wie es real mehrfach geschehen sein soll, bleibt nur der Weg der Protesterklärung.
In Bosnien-Hercegovina sollte UNPROFOR eigentlich nur Unterstützungsaufgaben für die Mission in Kroatien wahrnehmen. So sollte in Sarajevo das UNPROFOR-Hauptquartier eingerichtet werden, während Banja Luka (von den autonomen Serben Bosniens zu ihrer Hauptstadt erklärt) Nachschubzentrum für die in Kroatien stationierten "Blauhelme" sein sollte. Man hoffte, als diese Planung Anfang des Jahres entworfen wurde, daß die Einbeziehung von Sarajevo in die UNPROFOR-Mission auch die Lage in der Stadt stabilisieren würde. Aufgrund der Kämpfe verlegte UNPROFOR Mitte Mai sein Hauptquartier nach Belgrad. In Sarajevo blieb zeitweise nur eine Restgruppe (etwa 100 Mann) zurück, um Hilfslieferungen zu unterstützen. Die geplante Logistik-Basis in Banja Luka wurde gar nicht erst eingerichtet.
Am 8. Juni beschloß der UNO-Sicherheitsrat, 1100 "Blauhelme" in Sarajevo zu stationieren, um mit serbischer Zustimmung den von diesen bis dahin besetzt gehaltenen Flughafen zu übernehmen. Die UNO-Truppe sollte eine Luftbrücke nach Sarajevo sichern und die Versorgung der Bevölkerung übernehmen.
Erst ab diesem Datum gibt es also einen eigenständigen UNPROFOR-Auftrag für Bosnien-Hercegovina, der sich jedoch von dem für Kroatien grundsätzlich unterscheidet. Unter anderem bedeutet dieser Unterschied, daß sich UNPROFOR in Bosnien-Hercegovina absolut nicht in die Politik einzumischen hat und keine "Puffer" zwischen den Kriegsparteien bildet. Ihr Auftrag dort ist von der Definition her ausschließlich humanitär, jedoch weder "friedenschaffend" noch "friedenwahrend". Das hat sich inzwischen etwas geändert.
Das Europa-Parlament befürwortete schon im April eine Ausweitung der UNO-Mission in Bosnien-Hercegovina im Sinn einer "Friedenstruppe". Das wurde u.a. auch von der BRD, Frankreich und Polen unterstützt, im UNO-Sicherheitsrat aber abgelehnt. Die Argumente sind zum einen, daß der UNO für eine solche Aufgabe die finanziellen und materiellen Mittel fehlen. Zweitens wurde darauf verwiesen, daß die anhaltenden und unkontrollierbaren Kämpfe dort eine Friedensmission unmöglich machen. Das kann politisch eigentlich nicht überzeugen, weil es die UNO nicht von vornherein davon abhalten müßte, den Einsatz einer "Friedenstruppe" jetzt schon vorzuschlagen oder anzubieten. Auch in Kroatien herrschte noch keineswegs Waffenruhe, als die UNO sich um die Stationierung einer "Friedenstruppe" zu kümmern begann und entsprechende Verhandlungen einleitete.
Eine große Sorge des aus Ägypten stammenden UNO-Generalsekretärs Boutros-Ghali ist offenbar, daß eine übermäßige Konzentration der insgesamt vergleichsweise knappen UNO-Mittel auf europäische Probleme (einschließlich des GUS-Raums) stattfinden könnte, so daß für Konfliktlösungen und Hilfsaktionen in der "Dritten Welt" zuwenig übrig bleibt. Andererseits hat sich spätestens im Golfkrieg gezeigt, daß es sich nachteilig auswirkt, wenn die UNO Aufgaben einfach an interessierte Großmächte wegdelegiert und diese dann unter dem Firmenschild der Vereinten Nationen ihre eigenen Interessen verfolgen läßt.
Nur bedingt weist der Plan von Boutros-Ghali, eine "Schnelle Eingreiftruppe" der UNO zu formieren, einen Ausweg aus diesem Dilemma. Denn auch dieses Projekt basiert auf separaten und autonomen Kontingenten der Mitgliedsstaaten, die nur "im Ernstfall" der UNO zur Verfügung gestellt werden sollen. Man bliebe also im bewußten Fall doch wieder in erster Linie auf den guten Willen der Großmächte angewiesen.
Inzwischen steht eine Aufstockung der UNPROFOR-Kräfte in Bosnien-Hercegovina von rund 1500 auf demnächst etwa 7500 bis 8000 Mann bevor. Die zusätzlichen Soldaten werden von europäischen Staaten, an erster Stelle Großbritannien, zur Verfügung gestellt. Diese werden auch selbst die Kosten des Einsatzes tragen. Verbunden mit dieser Verstärkung ist eine Ausdehnung des Auftrags. "Blauhelme" sollen - zusätzlich zu Sarajevo - künftig mit jeweils einem Bataillon in fünf Zonen um die Städte Banja Luka, Tuzla, Bihac, Mostar und Vitez stationiert werden. In manchen Berichten ist auch von sieben oder sogar elf Zonen die Rede. Die Aufgabe von UNPROFOR dort wird im Wesentlichen darin bestehen, die Versorgung der Bevölkerung zu überwachen oder zu übernehmen.
Es handelt sich also immer noch nicht um eine "Friedenstruppe". Immerhin aber steht UNPROFOR jetzt auch zur Verfügung, um in Bosnien-Hercegovina die schweren Waffen der Kriegsparteien zu "kontrollieren". In diese Kategorie werden Geschütze, Raketen, Panzer und Flugzeuge gerechnet. "Kontrolle" bedeutet lediglich, daß diese Waffen stärker konzentriert und UNO-Beobachtern zugänglich gemacht werden. Sie bleiben aber jederzeit einsatzbereit.
Noch im Juli hatte Boutros-Ghali heftig protestiert, nachdem der EG-Vertreter Carrington in Bosnien-Hercegovina einen Waffenstillstand vermittelt hatte, der auch die Unterstellung der schweren Waffen unter UNO-Kontrolle vorsah. Das gehe, so Boutros-Ghali, über die Möglichkeiten von UNPROFOR hinaus. Außerdem würde die UNO dabei riskieren, allmählich in den jugoslawischen Konflikt hineingezogen zu werden. Mit Verweis auf die knappe Personal- und Finanzlage der Vereinten Nationen forderte Boutros-Ghali die EG auf, sie möge sich doch bitte selbst um die Umsetzung ihrer Friedenspläne kümmern. Der UNO-Sicherheitsrats, der zunächst Carrington unterstützt hatte, schloß sich der Kritik seines Generalsekretärs an.
Inzwischen aber, wie gesagt, hat UNPROFOR auch die Kontrolle der schweren Waffen als Aufgabe übernommen. In der Praxis erweist sich das nach wie vor als schwierig. Es scheint, daß bisher die serbischen Truppen ihre Waffen nur teilweise und die muslimischen und kroatischen Verbände überhaupt noch nicht "kontrollieren" lassen.
Nebenschauplatz Adria
Seit Mitte Juli sind unter dem Kommando von NATO und WEU Kriegsschiffe und Flugzeuge in der Adria stationiert, um das zuerst von der EG beschlossene und dann vom UNO-Sicherheitsrat übernommene Embargo gegen Rest-Jugoslawien zu überwachen. Die BRD ist an diesem Einsatz beteiligt. Mehr noch: die Bundesregierung hat nicht nur maßgeblich die Verhängung des Embargos betrieben, sondern auch der ganze Adria-Einsatz ist offenbar maßgeblich auf eine deutsche Idee und deutschen Druck zurückzuführen.
Die NATO-WEU-Flotte bleibt außerhalb der jugoslawischen Hoheitszonen. Sie "spricht" vorbeifahrende Frachtschiffe lediglich an, soll aber keine Inspektionen oder gar Beschlagnahmungen vornehmen. Es soll auf keinen Fall Gewalt angewendet werden. Konfrontationen mit der jugoslawischen Marine können weitgehend ausgeschlossen werden, zumal Belgrad äußerst darauf bedacht ist, Provokationen zu vermeiden. Das könnte sich ändern, wenn auf die Scharfmacher, vor allem von deutscher Seite, gehört würde, die eine "effektive Blockade" der jugoslawischen Küste verlangen. Sie stehen damit aber bisher allein auf weiter Flur.
Von sozialdemokratischen Gegnern des Adria-Einsatzes ist eingewendet worden, daß man die Überwachung des Schiffsverkehrs ebenso gut und politisch unproblematischer durch Satelliten, Funküberwachung usw. vornehmen könnte. Das Flottenunternehmen diene also in erster Linie dazu, deutsche Ambitionen auf internationale Militärpräsenz zu rechtfertigen und ihr praktisch näher zu kommen. Das ist zweifellos richtig. Dennoch geht von der Anwesenheit der Kriegsschiffe offenbar eine erhebliche einschüchternde Wirkung aus. Jedenfalls wurde seither eine beträchtliche Abnahme des Schiffsverkehrs registriert. Die Aktion dient also auch dazu, Rest-Jugoslawien wirtschaftlich auszuhungern und in die Knie zu zwingen - ein Ziel, bei dem sich die SPD von niemand an Konsequenz und Schärfe übertreffen lassen möchte.
Die militärische Funktion des Adria-Einsatzes besteht primär darin, daß erstmals die WEU überhaupt aktiv geworden ist, insofern also ein Präzedenzfall geschaffen worden ist, und daß die BRD von Anfang an gleichberechtigt beteiligt ist. Politisch kann die Bundesregierung positiv verbuchen, daß es um diesen Militäreinsatz kaum noch eine Debatte gab - vielleicht dadurch begünstigt, daß eine kriegerische Eskalation des Unternehmens von vornherein äußerst unwahrscheinlich war.
Andererseits ist nicht zu übersehen, daß dieses Flottenunternehmen auch die anhaltende Unfähigkeit der WEU zu einer größeren "europäischen Rolle", die schon im Herbst 1991 deutlich wurde, kaschieren soll. Eine Unfähigkeit, die vor allem darin begründet ist, daß man sich erstens über die Ziele einer Intervention sehr uneinig ist, und daß man zweitens die reale Verwicklung in einen kriegerischen Konflikt scheut. Ersatzweise wurde der Adria-Einsatz in Teilen der deutschen Presse (vor allem FAZ) zum Auftakt einer größeren Militärintervention hochgespielt.
Kriegsgeschrei...
Zwischen Juni und August dieses Jahres wurde, in erster Linie von deutschen Politikern, für eine internationale Kriegsoption gegen Jugoslawien nach dem Vorbild der "Operation Wüstensturm" gegen Irak geworben. Aus Platzgründen sollen hier nur wenige Stimmen zitiert werden.
Anfang Juni brachte die Fraktion der "Europäischen Volkspartei" (d.h. Christdemokraten u.ä.) im Europaparlament einen Antrag auf eine "begrenzte Militärintervention" in Jugoslawien ein, "im Rahmen der WEU oder auf anderem Wege, möglichst im Einvernehmen mit den Vereinten Nationen". Die Intervention sollte sich ausschließlich auf Luftstreitkräfte und Marine stützen. Ziel sollte u.a. die "Entmilitarisierung" des Luftraums, das heißt die Zerstörung oder Lähmung der jugoslawischen Luftwaffe sein. Sodann sollten Waffendepots und Nachschubwege der Serben in Bosnien-Hercegovina bombardiert werden, ebenso wie Artilleriestellungen.
In diesem Rahmen - schnelle Schläge aus der Luft, kein Einsatz von Bodentruppen - bewegte sich im wesentlichen die weitere Kampagne. Außenminister Kinkel orakelte Mitte Juni: Der Konflikt könne "vielleicht doch nur durch militärische Aktionen gelöst werden." "Dabei sei seiner Ansicht nach weniger an den Einsatz von Soldaten im Land selbst zu denken, als an Einsätze von See her, um das Kampfgebiet zunächst einmal zu überwachen und abzuschotten - ,und vielleicht auch Einsätze aus der Luft`." (FAZ, 15.06.) - Ende Juni, von einem Besuch in den USA zurückkehrend, äußerte sich Kinkel etwas präziser: "Nach Kinkels Ansicht gelte es bei einem Militäreinsatz europäischer Länder und Amerikas zuerst Sarajevo zu sichern, dann das Umland, und schließlich dafür zu sorgen, daß die Serben zu schießen aufhörten. Offenkundig hielte es Kinkel für das Wirksamste, die VI. Flotte in der Adria auffahren zu lassen und aus der Luft mit technischen Mitteln den Aufstieg serbischer Flugzeuge zu verhindern." (FAZ, 1.7.)
Mitte Juli warb der CDU-Fraktionsvize Gerster während eines Besuchs in Slowenien für den Blitzkrieg: "Wenn ein Angriff, dann schnell. Dann aber keinen Dauerkrieg mit Landtruppen, sondern einen gezielten Schlag gegen Luftwaffe, Flugplätze und gegen die Raketenbasen der Serben." - Der außenpolitische Sprecher der Fraktion, Lamers, erinnerte sich offenbar beim Stichwort Sarajevo an 1914 und empfahl das probate Mittel eines Ultimatums: "Wenn die Serben den Waffenstillstand (...) bis heute um 24 Uhr nicht einhalten, müssen die EG-Außenminister sofort erneut zusammenkommen und einen schnellen Militäreinsatz zum Schutz der Menschen in Bosnien vorbereiten." (SZ, 22.7.)
Zwei Stimmen aus der SPD. Der Abgeordnete von Bülow: "Wenn man mit ,massiver Luftintervention` den Serben die Lufthoheit nehme, sei mit einem Abnehmen der Kämpfe zu rechnen. Es müsse verhindert werden, daß die NATO mit Bodentruppen in einen langen Krieg ,mit Partisanenelementen` verwickelt werde. Doch solle die jugoslawische Armee mit gezielten Luftangriffen auf den Nachschub für die Artillerie ausgeschaltet werden." Falls von unseren Partnern gefordert, wäre eine deutsche Beteiligung nicht auszuschließen. (FAZ, 8.8.) - Der SPD-Abgeordnete Steiner: Europa müsse "ein Exempel statuieren und mit Angriffen der Luftwaffe Artilleriestellungen und Munitionslager der Serben zerstören (...). Ein Luftangriff kann in weniger als einer Woche vorbereitet werden. Die Ziele, also Geschützstellungen und Munitionsdepots, sollten durch die Luftüberwachung durch Satelliten und Aufklärungsflugzeuge schon bekannt sein." (FAZ, 9.8.)
An weiteren deutschen Kriegsbefürwortern seien (in der Reihenfolge ihrer Auftritte) genannt: Baden-Württembergs Ministerpräsident Teufel (CDU); der SPD-Abgeordnete Niggemeier; der frühere Staatssekretär beim Bundesverteidigungsministerium, Würzbach (CDU); der Vorsitzende des Verteidigungsausschusses, Wittmann (CSU); der frühere Verteidigungsminister Scholz (CDU); der frühere Generalinspekteur der Bundeswehr, Altenburg. Der Rekord an Tollkühnheit kommt Würzbach zu, der für die ganze Aktion "zwei Tage" veranschlagte und unter den Teilnehmern gern auch "wir Deutschen mit unserer Luftwaffe" sehen wollte. (FAZ, 12.8.)
Auf internationaler Ebene äußerten sich insbesondere folgende Politiker zugunsten von Luftangriffen auf serbische Stellungen und Objekte: die frühere britische Premierministerin, Thatcher; der französische Oppositionsführer Chirac; der Erste Sekretär der Sozialistischen Partei Frankreichs, Fabius; der frühere Labour-Außenminister, Owen; der demokratische Präsidentschaftskandidat in den USA, Clinton.
Als einzige Regierung sprach sich die türkische für eine Militärintervention aus. Einen entsprechenden Aktionsplan ließ sie Anfang August dem UNO-Sicherheitsrat übergeben. Den Inhalt beschrieb die "Neue Zürcher" am 20.8. so: "Demnach sollten Positionen der serbischen Artillerie auf den Hügeln um Sarajevo bombardiert werden. Bombardiert werden müßten ferner alle Routen, auf denen die logistische Unterstützung der ,jugoslawischen` Armee zu den serbischen Truppen gelangt. Sollten diese Angriffe erfolglos bleiben, müßte schließlich die Rüstungsindustrie auf dem von Serbien kontrollierten Territorium zerstört werden." - Um die Ernsthaftigkeit dieses Vorschlags zu demonstrieren, begann die Türkei sofort mit der Aufstellung eines mechanisierten Bataillons, das für internationale Interventionen zur Verfügung stehen soll. Zu der Einheit gehören 400 Soldaten und 80 Offiziere.
Zum Verständnis der türkischen Politik ist anzumerken, daß sie nicht bloß eigene Ambitionen als aufsteigende Vormacht im Schnittkreis von vier konfliktträchtigen Regionen - Balkan, Nahost, Kaukasus und Mittelasien - verfolgt. Sie steht auch unter dem Erwartungsdruck der gesamten islamischen Welt, die wenigstens auf verbaler und symbolischer Ebene die kämpferische Solidarität mit den "bosnischen Brüdern" ausgedrückt sehen will.
...und Einwände
Die deutsche Regierung setzte sich Ende Juli deutlich von den expliziten Kriegsschreiern ab: "Mit Blick auf die Lage in Bosnien-Hercegovina versicherte Kohl, die Bundesregierung und ihre Partner drängten sich nicht nach ,politischen oder militärischen Abenteuern`. Die Probleme in Restjugoslawien ließen sich nicht durch die Verwicklung weiterer Truppen in die Kämpfe lösen." Der Fraktionsvorstand der CDU/CSU im Bundestag legte sich auf die Position fest, "ein militärischer Einsatz in Jugoslawien sei nicht zuletzt aus militärischen Gründen mit größter Vorsicht zu bewerten, weil eine Unterbindung der serbischen Kriegshandlungen nur durch den Einsatz von Bodentruppen erreichbar wäre. Hierbei wäre eine Beschränkung auf eine relativ kleine Zahl von Einheiten aber mutmaßlich nicht ausreichend. Die Erfahrungen mit dem schwierigen Gelände und dem Partisanenkampf, unter dem die Wehrmacht im Zweiten Weltkrieg litt, belegten dies." (FAZ, 24.7. und 25.7.)
Eine Rolle bei dieser klaren Absage hat sicher - außer der keck bekundeten Weisheit, daß gebranntes Kind das Feuer scheut, wo es sich doch eigentlich um einen ausgewachsenen Brandstifter handelt - in erster Linie die Erkenntnis gespielt, daß die Regierungen aller Großmächte einer Militärintervention ablehnend gegenüberstehen. Dies aus mehreren Gründen. Erstens ist die Sorge vor unkontrollierbaren Verwicklungen in einen langen und verlustreichen Krieg ("zweites Vietnam") sicher ein glaubwürdiges Argument. Aus diesem Grund stehen überall, auch in der BRD, die Militärs in der ersten Reihe derjenigen, die vor einer Intervention dringend warnen und schlimmste Szenarien ausmalen.
Zweitens sind Frankreich, Großbritannien und die USA, und auf der anderen Seite auch Rußland, nicht an einer Lösung interessiert, die total einseitig zu Lasten Restjugoslawiens, d.h. im wesentlichen Serbiens, gehen würde. Sie wollen keine militärische Niederlage oder Schwächung Serbiens - unter anderem vermutlich auch deshalb, weil diese als Sieg des erstarkenden Deutschland gesehen würde. Insbesondere für Frankreich und Rußland ist Serbien immer noch Favorit auf dem Balkan, auch wenn sie die internationale Politik der Sanktionen und der Druckausübung gegen Belgrad mittragen.
Mit den Augen der Militärs
Es kommt selten vor, daß sich das potentielle Opfer einer Militäraktion mit gescheiten Beiträgen an der Fachdiskussion über das Für und Wider beteiligt. Deshalb soll der Blick auf diesen Teil der Debatte mit Äußerungen des jugoslawischen Armeesprechers Stojadinovic eingeleitet werden, die den Nagel schon auf den Kopf zu treffen scheinen: Eine Intervention wäre militärisch und politisch irrational. Sie könnte zu einer Ausweitung der Kämpfe auf dem Balkan und zum Übergreifen auf andere Teile Europas führen. Für eine erfolgreiche Intervention wären mindestens 250.000 Soldaten notwendig. Die Aktion würde ein Jahr in Anspruch nehmen und bis zu 100 Milliarden Dollar kosten. Der Unterschied zum Golfkrieg wäre enorm. Selektive Luftangriffe wären nicht möglich, da in Bosnien-Hercegovina die Positionen der Kriegsgegner sehr nahe beieinander liegen. Überdies beschränke das bergige Terrain die Möglichkeiten für Luftwaffe und Panzer. Ein Angriff auf die jugoslawische Armee könnte zur Eskalation im Kosovo und im muslimischen Sancak führen. Damit wäre das Risiko einer Beteiligung Griechenlands, Bulgariens und Albaniens am Krieg gegeben, und es würden sich "neue europäische Koalitionen" bilden.
Der US-General McCaffrey stimmt mit der von seinem jugoslawischen Kollegen geschätzten Dauer einer Intervention - etwa ein Jahr - überein, veranschlagt aber den erforderlichen Kräfteeinsatz auf 400.000 Mann. Der kanadische General MacKenzie, erster Befehlshaber von UNPROFOR in Sarajevo, meint sogar, daß für eine "effektive" Militäraktion eine Million Soldaten notwendig werden könnten. Ein Erfolg würde sich trotzdem nicht garantieren lassen, da das Gelände "ideale Voraussetzungen für den Guerrillakampf" biete. Geschütze würden auf Lastwagen und sogar in Bussen transportiert, so daß es völlig unmöglich wäre, sie aus der Luft auszuschalten. Und außerdem: "Nehmen wir an, wir bringen die Truppen rein, befrieden das Land, ziehen uns zurück. Was würde die Leute daran hindern, wieder anzufangen?".
Es scheint, daß eine Militärintervention im vollen Sinn soweit außerhalb der Realität liegt, daß sie in den vom Military Comitee der NATO analysierten Optionen noch nicht einmal vorkommt. Die weitestgehende Möglichkeit, die überhaupt theoretisch "durchgespielt" wurde, wäre die Schaffung eines militärisch abgesicherten Landkorridors vom kroatischen Hafen Split bis nach Sarajevo, um die Versorgung der Stadt sicherzustellen. Es stellte sich heraus, daß die Militärs allein dafür mehr als 100.000 Mann veranschlagten, einschließlich Logistik usw. Selbst wenn man sich nur auf die militärische Eskortierung aller Konvois beschränken würde, wären nach Einschätzung von NATO-Militärs 30.000 Soldaten erforderlich, und ebenso viele würden für eine vollständige "Kontrolle" der schweren Waffen der Kriegsparteien benötigt. Alle diese Kräfteansätze gehen jedoch davon aus, daß es sich nicht um eine Kampfmission handeln würde, sondern die grundsätzliche Zustimmung und Kooperationsbereitschaft der Kriegsparteien vorliegen müßte.
Jetzt erst recht: verweigern!
Die serbischen Streitkräfte in Bosnien-Hercegovina werden von führenden Bonner Militärs auf 60.000 reguläre Soldaten plus 35.000 "Freiwillige" (Milizen u.ä.) geschätzt. Ausgerüstet seien sie mit etwa 100 Panzern, 200 Schützenpanzern sowie 50 Kampfflugzeugen. Im internationalen Maßstab handelt es sich also um eine eher schwache Armee.
Zum Vergleich: den etwa 250.000 irakischen Soldaten an der Golfkriegsfront stellte die von den USA geführte Koalition mehr als eine halbe Million Mann entgegen. Damit war für einen Zeitraum von mehreren Monaten ein großer Teil der US-Streitkräfte gebunden. Nämlich: 37 % aller Armeesoldaten; 46 % der Marines; 42 % der modernen Kampfpanzer; 75 % der taktischen Flugzeuge. (Lt. "Time", 4.3.91)
Soweit man die rein militärischen Argumente gegen eine Intervention in Jugoslawien ernst nimmt, deuten sie darauf hin, daß derzeit die materiellen Möglichkeiten der NATO, in den aus dem Zusammenbruch der sozialistischen Staaten resultierenden Konfliktzonen eingreifen zu können, gering wären.
Um überhaupt eine Chance auf öffentliche Akzeptanz zu haben, müßte ein Krieg heute erstens sehr kurz sein und zweitens nahezu ohne eigene Verluste ablaufen. Modell Golfkrieg. Gerade damit der Krieg selbst kurz sein kann, ist aber eine längere ungestörte Phase des Aufbaus der eigenen Streitkräfte erforderlich - im Fall des Kriegs gegen Irak beispielsweise vier bis fünf Monate. Notwendig ist außerdem die Konzentration von weit überlegenen Streitkräften. Das bindet Kräfte (siehe oben) und verursacht enorme Kosten. Das Modell Golfkrieg ist daher weder beliebig wiederholbar noch unbeschränkt auf alle Weltgegenden ausdehnbar. Es wird vermutlich ein Ausnahmefall bleiben, zumal sich selten ein so phantastisches Schlachtfeld, im vollen Sinn des Wortes, findet wie die kuwaitisch-irakischen Wüsten. Damit schrumpft auch der Popanz einer militärisch diktierten "Neuen Weltordnung" zu bescheideneren Maßstäben. Alles andere würde in den Bevölkerungen der Großmächte ein völlig verändertes Verhältnis zum Krieg voraussetzen, das sich irgendwann durchaus entwickeln könnte (etwa als Resultat sich verschärfender ökonomischer Konkurrenz und Verteilungskämpfe), aber heute in keinem dieser Staaten Einfluß hat.
Dennoch müßte es als dringendes Alarmsignal gewertet werden, mit welcher Unbefangenheit und Unverschämtheit gerade in Deutschland Politiker und Journalisten für Militäraktionen werben. Nicht etwa, daß sie damit auf breite Zustimmung oder auch nur Interesse stoßen, zumindest ist davon nichts festzustellen. Die chauvinistisch ansprechbaren Sektoren der Bevölkerung haben ganz andere Sorgen; Stichwort "Asylantenflut". Da bleibt wenig Aufmerksamkeit, "wenn fern in der Türkei die Völker aufeinanderschlagen" (Goethes Faust).
Aber der Widerspruch gegen die Kriegsschwätzer, wo er denn kommt, bleibt ruhig und sachlich, als wäre es im Prinzip durchaus normal und legitim, daß Deutsche über Nutzen oder Schaden von Bombenangriffen auf Jugoslawien unterschiedliche Meinungen haben und natürlich öffentlich vertreten können. Etwa so, als ginge es um unterschiedliche Ansichten über die authentische Zubereitungsart einer echten Sachertorte. Es geht aber um Ungeheuerlichkeiten, nämlich um Hetze zum Krieg. Das ist überall unerträglich, aber in Deutschland allemal noch mehr als im Rest der Welt.
Übrigens gilt formal immer noch die Verfassung, die den Auftrag der Bundeswehr auf die Landesverteidigung beschränkt. Wenn dies nun, zum zweitenmal seit dem Golfkrieg, in Frage gestellt wird zugunsten absoluter Beliebigkeit - die Bundeswehr kann im Prinzip überall eingesetzt werden, wo nach Bonner Maßstäben Unrecht geschieht -, dann sollte das als weiteres Argument für eine Verweigerungskampagne aufgegriffen werden.
Knut Mellenthin
analyse & kritik, 22. September 1992