KNUT MELLENTHIN

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Tonkin Gulf Incident - Wie man einen Kriegsgrund konstruiert

In Zusammenhang mit der Krise um die vom Iran festgenommenen britischen Marinesoldaten wird oft an den "Zwischenfall" im Golf von Tonkin erinnert, mit dem 1964 die Eskalation des Vietnamkriegs eingeleitet wurde. Der Sicherheitsberater von Präsident Jimmy Carter (1977-1981), Zbigniew Brzezinski, warnte schon am 1. Februar in einer Anhörung vorm Auswärtigen Ausschuss des Senats, dass die US-Regierung versuchen könnte, einen provozierten "Zwischenfall" im Irak zum Vorwand zu nehmen, "um ein einsames Amerika in einen sich ausbreitenden und vertiefenden Sumpf zu stürzen, der sich über Irak, Iran, Afghanistan und Pakistan erstrecken könnte".

Der Tonkin-Zwischenfall begann am 2. August 1964 mit dem Angriff von drei nordvietnamesischen Torpedobooten auf die amerikanischen Zerstörer "Maddox" und "Turner Joy". In diesem ungleichen Kampf waren die Vietnamesen von vornherein ohne die geringste Chance. Die US-Marine meldete die Versenkung von zwei feindlichen Booten - und einen einzigen Maschinengewehr-Einschuss an der "Maddox".

Hintergrund der Anwesenheit der Zerstörer vor der nordvietnamesischen Küste war eine Undercover-Operation, die von der CIA begonnen worden war und 1964 vom Verteidigungsministerium übernommen wurde. Für diese Operation hatten die USA in Norwegen superschnelle Patrouillenboote gekauft und dem Saigoner Militärregime zur Verfügung gestellt. In enger Koordination mit den US-Streitkräften benutzte die südvietnamesische Marine diese Boote für Angriffe gegen Einrichtungen an der nordvietnamesischen Küste und auf den vorgelagerten Inseln. Ziele waren unter anderem Funkstationen und Radaranlagen. Neben der provokatorischen Wirkung war Hauptzweck dieser Angriffe, die Nordvietnamesen zu unmittelbaren Reaktionen zu veranlassen und auf diese Weise Informationen über die Verteidigungsanlagen und militärischen Kommunikationsstrukturen des Landes zu gewinnen. Die "Maddox" war ein mit Elektronik vollgestopftes Spionageschiff.

Der zweite, entscheidende "Zwischenfall" im Golf von Tonkin ereignete sich am 4. August 1964. Richtig gesagt: Er ereignete sich gar nicht, auch wenn die US-Marine an diesem Tag den Angriff mehrerer nordvietnamesischer Patrouillenboote meldete, eine wilde Schießerei begann und schließlich sogar die Versenkung mehrerer feindlicher Boote verkündete. In Wirklichkeit war kein einziges nordvietnamesisches Kriegsschiff in der Nähe, wie spätere Untersuchungen zweifelsfrei ergaben. Ungeklärt ist nur, ob sich die Besatzungen der amerikanischen Kriegsschiffe geirrt hatten oder ob das imaginäre Seegefecht ganz bewusst simuliert wurde - wofür die Indizien sprechen.

Als unmittelbare Reaktion ließ US-Präsident Lyndon B. Johnson Angriffe auf nordvietnamesische Marinestützpunkte und Treibstofftanks fliegen. Damit war der Luftkrieg gegen Nordvietnam eröffnet. Am 7. August 1964 nahmen beide Häuser des Kongresses eine Resolution an, die den Präsidenten ermächtigte, "alle notwendigen Schritte, einschließlich des Einsatzes bewaffneter Gewalt, zu ergreifen", um dem südvietnamesischen Militärregime "bei der Verteidigung der Freiheit zu Hilfe zu kommen". Die Resolution passierte das Abgeordnetenhaus einstimmig; im Senat gab es zwei Gegenstimmen. Es begann die massive Verstärkung der eingesetzten Truppen. Auf dem Höhepunkt des Krieges waren im März 1969 rund 550.000 amerikanische Soldaten in Vietnam. Ende 1963 waren es erst 16.300 gewesen.

Knut Mellenthin

Junge Welt, 30. März 2007