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Irak: Wie man einen "gescheiterten Staat" produziert
Zwei große Irrtümer über den amerikanischen Irak-Krieg gilt es zu berichtigen.
Erster Irrtum: In der politischen Klasse der USA gehe der Trend zur schnellstmöglichen Beendigung der aussichtslosen Militärintervention. Das Gegenteil ist der Fall. Immer mehr führende Politiker der oppositionellen Demokraten sprechen sich dafür aus, amerikanische Soldaten in etwas reduzierter Zahl für eine Vielzahl von Aufgaben zeitlich unbegrenzt im Irak zu lassen. Angeführt wird das Einschwenken auf die Bush-Linie von den beiden aussichtsreichsten demokratischen Bewerbern um die Präsidentschaftskandidatur, Hillary Clinton und Barack Obama.
Zweiter Irrtum: Die Tatsache, dass Irak im Chaos versinkt, dass Angehörige der Mittelschicht zu Zehntausenden flüchten, dass zentrale Wirtschaftsdaten immer noch schlechter sind als vor Kriegsbeginn im Frühjahr 2003 und dass eine Teilung des Landes droht, bedeute ein Scheitern der amerikanischen Kriegsziele. In Wirklichkeit spricht die politische Logik dafür, dass genau diese Entwicklung von Anfang an geplant war und systematisch in die Tat umgesetzt wurde.
Die US-amerikanischen Geheimdienste haben am 23. August ein Papier mit Einschätzungen zur Lage in Irak veröffentlicht. Es aktualisiert ein entsprechendes Dokument vom Januar. Gleichzeitig bietet es einen Vorgeschmack auf den Bericht, den der Oberkommandierende im Irak, General David Petraeus, und der amerikanische Botschaft in Bagdad, Ryan Crocker, dem Kongress im September vorlegen sollen. Es wird erwartet, dass dieser Bericht die Diskussion über die Fortführung des Krieges wesentlich beeinflussen wird.
Die Einschätzungspapiere der Geheimdienste, abgekürzt NIE (National Intelligence Estimate), finden in den Medien der USA stets große Beachtung, obwohl sie extrem arm an sachlichem Gehalt sind. In erster Linie vermitteln sie politische Botschaften der Regierung. Im Falle Irak: Durch die von Präsident George W. Bush angeordnete Verstärkung der US-Besatzungstruppen um 30.000 Mann habe sich die Sicherheitssituation seit Januar merklich, wenn auch regional ungleichmäßig verbessert. Gleichzeitig seien die irakische Armee und Polizei aber immer noch weit davon entfernt, die Sicherheit im Land aus eigener Kraft gewährleisten zu können. Die Schwierigkeiten, eine funktionierende Zentralregierung zu schaffen, würden eher weiter zunehmen. Die Anwesenheit der US-Streitkräfte bleibe daher unverzichtbar.
Alle in dem Papier ausgesprochenen Einschätzungen sind allgemein und unkonkret formuliert; Zahlen sucht man vergeblich. So heißt es beispielsweise, die Eskalation der Gewalt sei eingedämmt worden und das Ausmaß der Angriffe im ganzen Irak sei zurückgegangen. Im Gegensatz dazu brachte die Nachrichtenagentur AP am 25. August harte Fakten: Durch politisch motivierte Gewalttaten sind in diesem Jahr im Tagesdurchschnitt 62 Menschen ums Leben gekommen. Im Jahr 2006 lag der Tagesdurchschnitt bei 33. In diesen Zahlen sind die Opfer der amerikanischen Aufstandsbekämpfung nicht enthalten.
Ein anderes Beispiel: In dem Papier der Geheimdienste wird lediglich unkonkret gesagt, die Flucht und Vertreibung aufgrund von "sektiererischen" Gewalttaten gehe weiter. Nicht ausgesprochen wird, dass die Fluchtbewegungen stark zugenommen haben, seit die US-Truppen im Februar verstärkt wurden und ihre Offensive in Bagdad und Teilen des mittleren Irak begannen. Einem Bericht der New York Times vom 24. August zufolge ist die Zahl der Binnenflüchtlinge seither von 500.000 auf 1,1 Millionen gestiegen. Die Zeitung stützte sich dabei auf statistisches Material des Irakischen Roten Halbmonds.
Hinzu kommt, dass im Tagesdurchschnitt fast 3.000 Menschen den Irak verlassen, wie die New York Times am 8. Dezember 2006 aufgrund eines UN-Berichts meldete. Seit Kriegsbeginn im März 2003 sind mehr als 1,6 Millionen Iraker emigriert. Viele Flüchtlinge gehören der Mittelschicht an, sind Ärzte, Ingenieure, Facharbeiter. Ihr Weggang verstärkt die im Irak herrschenden katastrophalen Verhältnisse. Die Aufnahmeländer, hauptsächlich Syrien und Jordanien, sind an der Grenze ihrer Möglichkeiten angekommen.
Dass die US-Regierung mit diesen Ergebnissen ihrer Kriegführung und Besatzungspolitik nicht identifiziert werden will, ist logisch. Schwerer verständlich ist der ätzende Zynismus führender Demokraten, mit dem sie Bush entlasten und alle Schuld für die geschaffene Lage den Irakern anlasten. Hillary Clinton erklärte im Februar, als Präsidentin würde sie den Irakern sagen: "Tut mir leid, jetzt ist Schluss. Wir werden nicht Babysitter in einem Bürgerkrieg spielen." Ebenso hatte sich Obama schon im Januar ausgedrückt. Der demokratische Senator Joseph R. Biden griff diese Formulierung im Juli wieder auf. Offensichtlich herrscht bei den Demokraten die Meinung vor, auf diese Weise am besten jene amerikanischen "Patrioten" ansprechen zu können, die niemals die Schuld für irgendetwas im eigenen Land suchen.
Senator Biden hat seine Vorstellung über die Zukunft des Iran schon im Vorjahr in einem Leitartikel dargelegt, den er gemeinsam mit Leslie H. Gelb am 1. Mai 2006 in der New York Times veröffentlichte: Teilung des Irak in eine kurdische, eine sunnitische und eine schiitische Region. Dass auf diese Weise drei Staaten entstehen würden, wird in Bidens Vorschlag dadurch bemäntelt, dass die Zentralregierung in Bagdad als dekorative Hülle zunächst noch erhalten bleiben soll. Sein Ko-Autor Gelb, Ex-Präsident der einflussreichen Außenpolitik-Lobby Council on Foreign Relations, hatte sich in einem am 25. November 2003 erschienen Artikel der New York Times weniger Zurückhaltung auferlegt: Er sprach dort damals, acht Monate nach Kriegsbeginn, schon offen von einer Drei-Staaten-Lösung. In Verbindung mit deren gewaltsamer Durchsetzung sah Gelb "Bevölkerungsverschiebungen" in großem Umfang voraus, die von den USA finanziert und militärisch abgeschirmt werden sollten.
Die Dreiteilung des Irak ist seither Gegenstand vieler ernst zu nehmender Studien. Die gründlichste Arbeit dieser Art stammt von Edward P. Joseph und Michael E. O'Hanlon. Sie wurde im Juni dieses Jahres vom Saban Center for Middle East Policy am Brookings Institute veröffentlicht. Das Zentrum wird vom Medienmilliardär Haim Saban finanziert, der riesige Summen für die vermeintlichen Interessen Israels ausgibt. Joseph und O'Hanlon plädieren als Voraussetzung der Zerschlagung Iraks für ein großes Umsiedlungsprogramm, um ethnisch bzw. religiös weitgehend "reine" Territorien zu schaffen. Das könne mit einzelnen "Pilotprojekten" beginnen. Die drei Staaten sollen durch zahlreiche Kontrollstellen und Sperrmaßnahmen gegeneinander abgeschottet werden. In einem Land, in dem etwa ein Drittel der Bevölkerung religiös oder ethnisch gemischten Familien angehört, bedeutet das selbstverständlich erhebliche menschliche Härten, wie die Autoren selbst einräumen.
Die Aufteilung Iraks würde zudem zahlreiche schwer lösbare Grenzprobleme aufwerfen, angefangen beim Streit um das von den kurdischen Parteien beanspruchte Erdöl-Zentrum Kirkuk. Nicht weniger konfliktträchtig wäre die Aufteilung der religiös stark durchmischten Hauptstadt Bagdads. Die US-Besatzungsverwaltung plante im Frühjahr, Mauern und Sperrgürtel um einige Stadtteile zu legen, wurde aber durch einen Einspruch der irakischen Regierung gestoppt. Auf jeden Fall würde die Teilung Iraks den Vorwand für eine langjährige Festsetzung der US-Streitkräfte liefern: "zur Verhinderung eines Genozids", wie in der politischen Klasse Amerikas immer häufiger argumentiert wird.
Die Studie von Joseph und O'Hanlon trägt übrigens den Titel "The Case for Soft Partition in Irak", Argumente für eine sanfte Teilung im Irak. Falls es dabei nicht wirklich sanft zugeht, steht jetzt schon fest, dass auch daran nur die Iraker schuld sein werden. Deren Mehrheit ist selbst heute, nach mehreren Jahren eines mörderischen Bruderkriegs, gegen eine Teilung ihres Landes.
Die Vorschläge zur Auflösung der staatlichen Einheit Iraks werden in der Regel als alternativlose Antworten auf eine unerwartet eingetretene, bei Kriegsbeginn nicht vorhersehbare Zwangslage dargestellt. Gegen diese apologetische These sprechen vor allem zwei Tatsachen:
Erstens: Dass der Sturz Saddam Husseins, verbunden mit der folgenden Besatzungspolitik, insbesondere der systematischen Zerschlagung von Armee, Verwaltung und sämtlichen anderen zentralen Strukturen, ein generelles Chaos und schließlich einen Kampf aller gegen alle auslösen wurde, war vor vornherein zu erkennen. Die New York Times berichtete am 13. Oktober 2005, dass Bush schon im Januar 2003, vor Kriegsbeginn, zwei Geheimberichte vorlagen. Sie "sagten voraus, dass eine amerikanisch geführte Invasion Iraks die Unterstützung für den politischen Islam verstärken würde und dass sie zu einer tief gespaltenen irakischen Gesellschaft mit der Tendenz zu gewalttätigen inneren Konflikten führen würde". Es handelte sich dabei um Analysen des National Intelligence Council, dem wichtigsten Gremium für die Kommunikation zwischen Geheimdiensten und Regierung.
Zweitens: Die Ergebnisse, die der US-amerikanische "Krieg gegen den Terror" in anderen Ländern und Regionen bewirkt hat, ähneln oder gleichen fatal dem im Irak angerichteten Desaster.
- Der Libanon ist aufgrund der massiven Einmischung von USA, Israel und Frankreich kaum noch als einheitlicher Staat regierbar. Das Land droht nach einer Phase innenpolitischer und wirtschaftlicher Stabilisierung in den Bürgerkrieg der 70er Jahre zurückzufallen.
- Das israelisch besetzte Palästina ist in zwei Teile mit konkurrierenden Führungen zerfallen.
- In Afghanistan hat die militärische Aufstandsbekämpfung durch die USA und ihre NATO-Verbündeten ein Wiedererstarken der Taliban begünstigt. Es wird dort mehr Opium und Heroin produziert als jemals zuvor in der Geschichte des Landes. Das NATO-Protektorat Afghanistan liefert den Rohstoff für 92 Prozent des auf dem Weltmarkt gehandelten Heroins. Große Teile von Regierung und Verwaltung sind mit dem Rauschgifthandel verfilzt.
Alles Zufälle und Fehler? Eher drängt sich das Hamlet-Zitat auf: "Ist es auch Wahnsinn, hat es doch Methode".
Knut Mellenthin, 26. August 2007
Veröffentlicht auf www.hintergrund.de