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Völkermord oder nicht?
Aktuelle Kriegsinteressen der USA drängen Aufarbeitung der Geschichte in den Hintergrund
Es steht schlecht um die Chancen einer Initiative im US-Kongress zur Verurteilung der Massaker an den im Osmanischen Reich lebenden Armeniern während des Ersten Weltkriegs. Am 10. Oktober hatte eine Resolution, in der von "Völkermord" gesprochen wird, mit einem Votum von 27 gegen 21 Stimmen den einflussreichen Außenpolitischen Ausschuss des Abgeordnetenhauses passiert. Seither hat aber der Druck verschiedener Seiten die Wahrscheinlichkeit schwinden lassen, dass der Antrag eine parlamentarische Mehrheit bekommen würde. Solange das nicht gesichert ist, wird die Sprecherin des Abgeordnetenhauses, Nancy Pelosi, es wahrscheinlich vermeiden, die Resolution überhaupt zur Abstimmung zu stellen. Pelosi, die Fraktionschefin der Demokraten, vertritt einen kalifornischen Wahlkreis, in dem viele Armenier leben, und gehört selbst zu den Initiatoren des Antrags.
Oberflächlich schien es bis zum 10. Oktober so, als wäre die Annahme der Genozid-Resolution ein Selbstgänger. Mehr als die Hälfte der Parlamentarier hatten sich als "Co-Sponsoren" eingetragen. Das ist eine ungewöhnlich hohe Zahl. Hauptsächlich wird die Resolution von den Demokraten unterstützt. Etliche Republikaner tragen sie aber mit, während es umgekehrt auch demokratische Parlamentarier gibt, die dagegen sind. Eigentlicher Initiator des Antrags ist der Demokrat Adam Schiff, der wie Pelosi einen kalifornischen Wahlkreis mit vielen armenischen Einwohnern vertritt. Insgesamt leben in den USA schätzungsweise 1,5 Millionen Armenier, die Mehrheit von ihnen in Kalifornien.
Die Absegnung des Antrags durch den Außenpolitischen Ausschuss war eine wesentliche Voraussetzung, um die Resolution im Abgeordnetenhaus einbringen zu können. Die Türkei reagierte auf das Votum des Ausschusses sofort sehr scharf, indem sie Folgen für die "strategische" Zusammenarbeit mit den USA androhte. Zugleich verschärfte sie ihre Drohungen, zur Bekämpfung der PKK unter Umständen auch ohne amerikanische Zustimmung militärische Operationen im Nordirak durchzuführen. Auch die US-Regierung malte die Folgen der Resolution in den allerschwärzesten Farben aus: "Ihre Verabschiedung würde unseren Beziehungen zu einem Schlüsselverbündeten in der NATO und dem Krieg gegen den Terror großen Schaden zufügen." (Bush)
Durch die Türkei laufen rund 70 Prozent der gesamten Lufttransporte mit Nachschub für den Irakkrieg sowie ein Drittel der Treibstoffversorgung der US-Streitkräfte. Fast alle Panzerfahrzeuge, die im Irak eingesetzt werden, kommen über den amerikanischen Luftwaffenstützpunkt Incirlik.
Inzwischen sind zahlreiche Co-Sponsoren des Genozid-Antrags abgesprungen, und täglich werden es mehr. Ein nicht unwesentlicher Faktor für diese Entwicklung ist, dass die Resolution auch den Interessen Israels widerspricht, für das die Türkei der einzige Verbündete in der Region ist. Folglich macht hinter den Kulissen die pro-Israel-Lobby gegen die Resolution mobil, auch wenn sie es vermeidet, ihr öffentlich direkt zu widersprechen. Tom Lantos, der demokratische Vorsitzende des Außenpolitischen Ausschusses, hat am 10. Oktober zwar für die Resolution gestimmt, zugleich aber damals schon davor gewarnt, sie setze die Sicherheit und das Leben amerikanischer Soldaten aufs Spiel. Der aus Ungarn stammende Lantos ist der einzige Holocaust-Überlebende im Kongress und der gewichtigste Sprecher der pro-Israel-Lobby im Abgeordnetenhaus.
Knut Mellenthin
Junge Welt, 20. Oktober 2007