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Was wusste Steinmeier?
Das Massaker von Kunduz hat ein Wunder bewirkt, das der SPD und den Grünen sehr entgegen kommt: Die Verantwortlichen für Deutschlands Beteiligung am Afghanistan-Krieg können sich plötzlich als kritische Opposition aufspielen. Dabei war es die von Gerhard Schröder und Joseph Fischer geführte „rot-grüne“ Regierung, die 2002 erstmals Bundeswehrsoldaten nach Kabul entsandte und auch für die folgenden Erweiterungen des Mandats verantwortlich war. Die Grünen wurden 2005 in die Opposition geschickt, während die SPD sogar noch während des Kunduz-Massakers zusammen mit der CDU/CSU in der Regierungsverantwortung war.
Die jetzt von SPD-Politikern vorwurfsvoll gestellte Frage, „was die Regierung wusste“, müsste sich also auch an ihre eigenen Leute richten. Darunter vor allem an den damaligen Außenminister Frank-Walter Steinmeier. Dies umso mehr, weil er zuvor sechs Jahre lang (1999 bis 2005) Chef des Bundeskanzleramts und damit auch politischer Koordinator der deutschen Geheimdienste war. Er verfügt also über hervorragendes Machtwissen und hat wahrscheinlich immer noch zahlreiche Kontakte zu den Diensten. Bei einem solchen Mann stellt sich nicht nur die Frage, was er zu einem sehr frühen Zeitpunkt über alle Hintergründe des Massakers wusste, sondern im Zweifelsfall auch, was er zumindest hätte wissen können, wenn er gezielt nachgefragt und nachgeforscht hätte. Falls Steinmeier jetzt behaupten sollte, er habe damals als Außenminister nicht mehr gewusst und erfahren als normale deutsche Zeitungsleser, sollte er anständigerweise seine unverdient kassierten Gehälter einem guten Zweck, beispielsweise den Hinterbliebenen der Opfer von Kunduz, zur Verfügung stellen.
Mehr oder weniger gilt das aber auch für den gesamten Deutschen Bundestag. Dass Verteidigungsminister Franz Josef Jung log und dass ein deutscher Oberst in vollem Bewusstsein einen rechtswidrigen Luftangriff ohne Rücksicht auf die Anwesenheit zahlreicher Nicht-Kombattanten angeordnet hatte, war schon zwei Tage nach den Ereignissen, also am 6. oder 7. September, offensichtlich. Es erhob sich jedoch keineswegs ein Sturm von Protesten und bohrenden Nachfragen im Hohen Haus, und von diesem Vorwurf kann man ehrlicherweise auch die Linken nicht ganz ausnehmen. Die parlamentarische Kriegskoalition aus Union, SPD und Grünen spielte zusammen, um das heikle Thema aus der bevorstehenden Bundestagswahl (27. September) heraus zu halten. Auch danach gab es von der SPD und den Grünen, die nun in der Opposition vereint waren, keine erkennbaren Initiativen, um die Aufklärung des Massakers voranzutreiben.
Die Wende kam erst durch die Enthüllungen der BILD-Zeitung Ende November. SPD und Grüne entdeckten plötzlich die „gezielten Tötungen“ als Problem. Dass diese von der Leitmacht des westlichen Bündnisses, den USA, die auch das mit Abstand stärkste Kontingent in Afghanistan stellen, schon seit Jahren ganz offen und in großem Umfang praktiziert werden, scheint den frischgebackenen Kriegskritikern entgangen zu sein. Der Krieg auf dem „afghanisch-pakistanischen Schauplatz“ ist ein Verbrechen und er wird mit verbrecherischen Mitteln geführt. Nicht erst seit Kunduz.
Knut Mellenthin
Junge Welt, 15. Dezember 2009