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Geheime Friedensverhandlungen in Afghanistan – Hoffnungsschimmer oder Täuschungsmanöver?
Nicht zum ersten Mal seit Beginn der NATO-Militärintervention in Afghanistan vor sieben Jahren gibt es Gerüchte über Geheimgespräche zwischen der Regierung in Kabul und den Taliban. Genährt werden solche Spekulationen vor allem von Präsident Hamid Karzai, während Vertreter der Taliban Allen Vermutungen über diskrete Verhandlungen oder auch nur Sondierungen entschieden widersprechen. Das beweist zwar an sich noch nichts, begründet aber doch einen Anfangsverdacht, dass es sich um Propagandatricks eines Politikers handelt, dem die Felle davonschwimmen.
Am 30. September teilte Karsai auf einer Pressekonferenz mit, er habe den König von Saudi-Arabien, Abdullah, gebeten, bei der Anbahnung von Friedensgesprächen mit den Taliban behilflich zu sein. Um das Zustandekommen von Verhandlungen zu erleichtern, habe er Unterhändler nach Saudi-Arabien und Pakistan geschickt. Diese beiden Staaten waren, zusammen mit den Vereinigten Arabischen Emiraten, die einzigen gewesen, die das Regime der Taliban offiziell anerkannt hatten. Saudi-Arabien und Pakistan hatten außerdem in den 90er Jahren den Aufstieg der Taliban zur Vorherrschaft gefördert.
Die Vorbereitungen für Verhandlungen schritten voran, behauptete Karsai, auch wenn die Diskussionen noch nicht begonnen hätten. Direkt an die Taliban gerichtet sagte der Präsident: „Wir bemühen uns, damit unsere Brüder, jene afghanischen Taliban, die gegen ihr Volk und ihr Land zum Gewehr gegriffen haben, einschließlich ihres Führers Mullah Omar, in ihr Land zurückkehren und für den Frieden arbeiten können.“ (1)
Zwei Tage zuvor hatte die britische Sonntagszeitung Observer berichtet, es gebe bereits von Saudi-Arabien gesponserte Geheimverhandlungen mit den Taliban über Wege zur Beendigung des kriegerischen Konflikts in Afghanistan. Beteiligt sei ein ehemaliges hochrangiges Führungsmitglied der Taliban, das schon seit einiger Zeit zwischen Kabul, Pakistan, Saudi-Arabien und mehreren europäischen Hauptstädten hin und her reise. Großbritannien habe die Gesprächsversuche durch logistische und diplomatische Unterstützung gefördert. Die Gespräche seien im Sommer begonnen worden. Die Taliban hätten inzwischen eine Liste mit elf Bedingungen für einen Friedensschluss übermittelt, darunter die Übergabe von Schlüsselministerien und einen Zeitplan für den Abzug der Besatzungstruppen. In Kabul sei der Nationale Sicherheitsberater des Präsidenten, Salmai Rasul, für die Verhandlungen zuständig. (2)
Die Gerüchte waren zum Zeitpunkt der nicht verifizierbaren „Enthüllung“ des Observer schon durch Äußerungen westlicher Politiker genährt worden. So der französische Premierminister François Fillon, der einige Tage zuvor während einer Parlamentsdebatte erklärt hatte: „Wir müssen Weg erkunden, um die internationalen Dschihadisten von denjenigen zu trennen, die aus mehr nationalistischen oder tribalistischen Motiven handeln. Bemühungen in diese Richtung werden von einigen sunnitischen Ländern wie Saudi-Arabien geführt.“ (3)
Am 3. Oktober wies ein Sprecher der Taliban, dessen Name mit Mullah Brother (Bruder) angegeben wurde, in einem Telefonanruf an eine ausländische Nachrichtenagentur die Äußerungen Karsais schroff zurück: „Wir lehnen jedes Verhandlungsangebot der afghanischen Marionette, Sklavenpräsident Karsai, ab.“ Dieser habe überhaupt kein Recht, Verhandlungen zu führen. „Er sagt und macht nur, was Amerika ihm befiehlt.“ (4)
Im März war allerdings gemeldet worden, Mullah Brother habe zu einem ausgehandelten Ende der Kämpfe aufgerufen und die Bereitschaft der Taliban bekundet, mit Karsais Regierung zusammenzuarbeiten. (5) – Die Identität dieses Sprechers ist unsicher. Im August vorigen Jahres war gemeldet worden, dass ein hochrangiger Taliban-Führer mit dem Namen Mullah Brother, der auch als Abdul Ghani bekannt gewesen sei, bei einem Gefecht im Süden der Provinz Helmand getötet worden sei. (6)
Am 8. Oktober ging quer durch die Medien die Meldung , dass im September ein Bruder von Präsident Karsai mit mehreren ehemaligen Talibanführern zusammengetroffen sei. Anlass war ein Iftar, ein abendliches Festessen während des Fastenmonats Ramadan, dessen Gastgeber der saudische König Abdullah war. Es handelte sich wohlgemerkt um einen älteren Bruder des afghanischen Präsidenten, Qajum Karsai, und nicht um den jüngeren Bruder Ahmed Wali Karzai, der seit Jahren immer wieder mit dem Rauschgiftgeschäft in Verbindung gebracht wird. Insgesamt hätten an dem Essen mindestens 15 Afghanen teilgenommen. Außerdem sei auch der frühere pakistanische Premierminister Nawaz Scharif, ein enger Verbündeter der Saudis, dessen Partei PML-N derzeit zwischen Regierungsunterstützung und Opposition schwankt, mit von der Partie gewesen. (7)
Den Meldungen, soweit sie das Stattfinden geheimer Verhandlungen suggerierten, widersprachen diesmal nicht nur die Taliban, sondern auch die afghanische Regierung. Karsais Sprecher Homajun Hamidsada bestätigte gegenüber der Nachrichtenagentur AFP das Stattfinden des Iftar, bestritt aber, dass es dabei Verhandlungen gegeben habe. Zwar setze sich die Regierung für die Eröffnung von Gesprächen ein, aber so weit sei es leider noch nicht. (8)
Einer der Gäste des Iftar, Wakil Ahmed Muttawakil, der unter den Taliban Außenminister gewesen war, sagte der pakistanischen Nachrichtenagentur AIP: „Das ist eine völlig falsche Meldung. Es gab keine Verhandlungen und es waren keine Taliban-Vertreter dabei. Es war ein ganz gewöhnliches und normales Treffen und Essen.“ (9)
Diese Behauptung kann man angesichts der Besetzung der Runde mit früheren hochrangigen Talibanpolitikern und –geistlichen getrost bezweifeln. Es bleibt aber unwidersprochen, muss also als wahr angenommen werden, dass ausschließlich „Ehemalige“ versammelt waren, deren heutige Position und Funktion schwer auszumachen ist. Muttawakil zum Beispiel lief im Oktober 2001 schon vor dem Zusammenbruch der Taliban über, was ihn aber nicht davor bewahrte, mehrere Monate in einem US-geführten Gefängnis in Kandahar zu verbringen. Bei den Taliban gilt er als Verräter. Ein anderer Gast des Iftar, Abdul Salam Zaif, ehemals afghanischer Botschafter in Pakistan, wurde nach der NATO-Intervention über zwei Jahre lang in Guantanamo gefangen gehalten. Über Zaif wird berichtet, dass er „in Taliban-Kreisen weithin respektiert“ sei. Auch Muhammad Ghaus, ein weiterer Teilnehmer, der unter den Taliban zeitweise Außenminister war (allerdings nur bis 1997), soll angeblich „immer noch freundschaftliche Beziehungen zur Talibanführung unterhalten“. (10) Ghaus lebt in Quetta, der Hauptstadt der pakistanischen Provinz Belutschistan. In den 90er Jahren war Quetta das Zentrum der Steuerung des Krieges gegen die sowjetischen Interventionstruppen in Afghanistan durch CIA und ISI. Zaif wohnt, einem Bericht des Spiegel vom 12. April 2007 zufolge, in einem von Regierungstruppen und Sicherheitsdiensten schwer bewachten Haus in Kabul. Man kann dies als Schutz vor Attentaten ebenso interpretieren wie als eine Art Hausarrest.
Die Taliban bezeichneten in einer scharf formulierten Stellungnahme alle Meldungen über die Einleitungen eines Friedensprozesses als „grundlose Gerüchte und gescheiterte Versuche des Feindes, Misstrauen und Bedenken unter Afghanen und anderen Nationen und Mudschaheddin zu schaffen“. „Kein offizielles Mitglied der Taliban hat derzeit oder in der Vergangenheit Verhandlungen mit den USA oder der afghanischen Marionettenregierung geführt. Ein paar frühere Funktionäre der Taliban, die unter Hausarrest stehen oder kapituliert haben, repräsentieren nicht das Islamische Emirat.“ (11)
Dass an dem saudischen Gastmahl keine Abgesandten der Taliban teilgenommen haben, ist offenbar unstrittig. Auch scheint keiner der Gäste ein Mandat der bewaffneten Opposition gehabt zu haben. Die Teilnehmer waren überwiegend Personen, die schon vor dem Sturz der Taliban-Macht durch die NATO-Intervention im Herbst 2001 international einen Ruf als „Gemäßigte“ hatten. Sofern bei dem Iftar überhaupt über die afghanische Innenpolitik diskutiert wurde – was von einigen Teilnehmern ausdrücklich bestritten wird, ohne dass dies von vornherein unglaubwürdig sein muss -, kann es kaum mehr als ein unverbindliches und allgemein gehaltenes Brainstorming über Optionen für eine „nationale Versöhnung“ gewesen sein.
Der Bruder des afghanischen Präsidenten, Qajum Karsai, erklärt den Sachverhalt so: Das Zusammentreffen in Saudi-Arabien sei Teil des Kabuler Versuchs, das saudische Königreich dazu zu bewegen, Friedensgespräche mit den Taliban zu vermitteln. Es seien keine Vertreter der Aufständischen zugegen gewesen. „Wir haben sie – die Saudis – über die Lage in Afghanistan unterrichtet, wir haben ihnen erzählt, was hier los ist, von unserer Misere, und haben sie gebeten, als unparteiisches Land zu vermitteln.“ Bemühungen in diese Richtung hätten schon vor zweieinhalb Jahren begonnen. Bisher habe es aber noch keine direkten Gespräche mit den Taliban gegeben. (12)
Anders könnte es sich mit den „ausgedehnten Gesprächen“ verhalten, die einer Meldung der britischen Tageszeitung Independent zufolge seit einiger Zeit zwischen afghanischen Regierungsvertretern und der Hizb-e-Islami von Gulbuddin Hekmatjar stattfinden sollen. Hekmatjar war in den 80ern und noch über die Mitte der 90er Jahre hinaus der Favorit der US-Regierung unter den afghanischen Warlords. 1993 und 1996 war er kurzzeitig Premierminister in Kabul, bis die Taliban die Macht übernahmen. Nach Beginn der NATO-Intervention im Oktober 2001 wechselte er die Seite und führt seither weitgehend autonom Krieg gegen die Besatzungstruppen. Anders als die Taliban hat er zu verschiedenen Zeiten relativ enge Beziehungen zum Iran unterhalten. Der Independent berichtete unter Berufung auf nicht näher bezeichnete „diplomatische Quellen“, dass die Karsai-Regierung die „Kanäle“ zu Hekmatjar mit Hilfe von Mitgliedern seiner Familie, die in Kabul zu Besuch waren, geöffnet habe. Vor drei Monaten sei Hekmatjars Schwiegersohn Dr. Ghairat Baheer nach sechsjähriger Haft aus einem afghanischen Gefängnis entlassen worden. Jetzt spiele er eine Rolle bei den Verhandlungen. (13)
Da Hekmatjar stets eigenständig agierte, die Taliban mehrere Jahre lang bekämpft hat und eine Reihe politischer Schwenks vollführt hat, klingen Berichte, dass er Geheimverhandlungen mit Kabul führen könnte, nicht unbedingt unwahrscheinlich. Das ist aber selbstverständlich kein Beweis oder Indiz, dass sie stimmen. Tatsächlich gibt es keine überprüfbaren oder wenigstens diskutierbaren Anzeichen, dass sie wahr sind.
Immerhin weisen die Gerüchte über Separatverhandlungen mit der Hekmatjar-Gruppe aber auf den wahrscheinlichen Zweck des Geredes über taktische Spiele hinter den Kulissen hin: Nicht ein „historischer Kompromiss“ mit den Taliban im engeren und der bewaffneten Opposition im weiteren Sinn steht auf der Tagesordnung Karsais und seiner westlichen Auftraggeber, sondern psychologischer Bodengewinn, das Schüren von Misstrauen und Dissens unter den Gegnern, und im besten Fall die Abspaltung einzelner Teile der gegnerischen Koalition. Individueller Verrat, nicht „nationale Versöhnung“.
Daher vertragen sich Karsais Manöver auch problemlos mit dem absehbaren Kurs der US-Regierung und den Ankündigungen der beiden Präsidentschaftskandidaten Barack Obama und John McCain: Verlängerung und Verschärfung des Krieges in Afghanistan durch immer mehr Truppen aus den USA und anderen NATO-Staaten. Präsident Bush hat bereits angekündigt, dass die Zahl der US-Truppen im kommenden Frühjahr um 8.000 erhöht werden soll. Darüber hinaus verlangt der amerikanische Oberkommandierende in Afghanistan, General David D. McKiernan, weitere 15.000 Soldaten von den NATO-Verbündeten. Die Gesamtzahl der Besatzungstruppen läge dann bei rund 100.000. Gleichzeitig strebt die US-Regierung – und unabhängig vom Wahlausgang aller Voraussicht nach auch die nächste – die Ausweitung des Kriegsschauplatzes auf große Teile Pakistans an, einschließlich der Option einer direkten Militärintervention.
US-Verteidigungsminister Robert Gates brachte auf den Punkt, welche Funktion er in diesem Kontext Verhandlungen oder richtiger gesagt wohl dem Propaganda-Gerede über Verhandlungen einräumt: Jede Einigung mit den Taliban müsse „zu den Bedingungen der Regierung“ in Kabul erfolgen und erfordere, dass sich die Gegenseite der Herrschaft Kabuls unterwirft. „Das ist letzten Endes die Exit-Strategie für uns alle“. (14) Immerhin, damit können die Regierenden in Washington oder beispielsweise auch Berlin künftig dem nahe liegenden Vorwurf begegnen, sie hätten keine Exit-Strategie. Freilich ist das nur eine dumme Ausrede: Selbstverständlich müsste man den Gegnern militärisch entscheidend schlagen, um ihn vielleicht zu der geforderten Unterwerfung und zur Akzeptierung des durch die Intervention geschaffenen gesellschaftlichen und politischen Status quo (einschließlich der dauerhaften NATO-Vorherrschaft im Land) zu veranlassen. Und gerade die Unmöglichkeit, dem Gegner in absehbarer Zeit entscheidende militärische Niederlagen zuzufügen oder auch nur seinen kontinuierlichen Vormarsch zu stoppen, ist derzeit offensichtlich – und nährt die Spekulationen über Verhandlungen.
Aber wie unwahrscheinlich auch die Gerüchte sind, im Iran werden sie offenbar ernst genommen. Der Sprecher des iranischen Parlaments, Ali Laridschani – ein talentierter Diplomat und Politiker, der den Höhepunkt seiner Karriere wohl noch vor sich hat -, verurteilt vorbeugend die „Hintertürgespräche“, die (noch) gar nicht stattgefunden haben, und warnt: „Der Trend geht dahin, dass wir uns darauf gefasst machen müssen, dass der Talibanführer, Mullah Omar, gemeinsam mit westlichen Politikern zu Parties des Weißen Hauses eingeladen wird.“ „Wenn Sie so leicht einen Kompromiss mit den Terroristen erreichen können, warum veranstalten Sie dann ein solches Massaker in der Region?“ (15)
Anmerkungen
- News, 30.9.2008
- Observer, 28.9.2008, und Guardian, 29.9.2008
- Observer, 28.9.2008
- News, 3.10.2008
- News, 3.10.2008
- Fox News, 3.8.2008
- BBC, 8.10.2008. Die Hindustan Times grenzte am 6 Oktober den Zeitpunkt des Gastmahls mit „zwischen 24. und 27. September“ ein.
- Hindustan Times, 6.10.2008
- Reuters, 8.10.2008
- Christian Science Monitor, 9.10.2008
- Asia Times, 8.10.2008. Islamisches Emirat Afghanistan war zur Zeit der Talibanherrschaft der offizielle Landesname.
- News, 10.10.2008
- Independent, 8.10.2008
- Al-Jazeera, 10.10.2008. “Gates said any settlement with the Taliban would be on the Afghan government's terms and would require the group to subject itself to Kabul's rule.”
- Fars (iranische Nachrichtenagentur), 9.10.2008
Knut Mellenthin
Artikel erschienen auf “Hintergrund” am 10. Oktober 2008