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WikiLeaks gekapert

Geheim sind die Dokumente nur für die Öffentlichkeit. Das ermöglicht selektiven und tendenziösen Gebrauch durch die Medien.

Die „WikiLeaks-Dokumente“ aus dem US-Außenministerium dienen zunehmend der politischen Manipulation. Während über 99 Prozent des Materials der Öffentlichkeit immer noch vorenthalten wird, bedient sich die Mainstream-Presse aus den Schubladen. Jüngster Coup ist die stolze Mitteilung der größten norwegischen Tageszeitung Aftenposten, dass sie auf nicht genanntem Weg sämtliche gut 250.000 Dokumente in die Hand bekommen hat. Einige davon will sie nun nach und nach kommentiert veröffentlichen.

Aftenposten stand seit seiner Gründung 1860 immer der konservativen Partei nahe. Während des zweiten Weltkriegs schlug das Blatt unter deutscher Besatzung einen pro-nazistischen Kurs ein. Anschließend verschrieb es sich dem Kalten Krieg und einem rabiaten Antikommunismus. Aftenposten gehört dem Schibsted-Verlag, in dessen Besitz auch Norwegens zweitgrößte Zeitung, das Boulevardblatt Verdens Gang, ist. Die größte schwedische Tageszeitung, Aftonbladet, und das Svenska Dagbladet sind ebenfalls Teil des in 20 Ländern tätigen Medien-Imperiums. Beobachter weisen darauf hin, dass die Aftenposten-Veröffentlichungen vermutlich keine große Bedeutung erlangen würden, da das Blatt nur auf norwegisch erscheint. Das könnte sich allerdings durch Kooperation mit anderen Medien ändern.

Aftenposten begann seine WikiLeaks-Reihe am Montag mit einem Artikel, in dem die syrische Regierung beschuldigt wird, die Proteste gegen die dänischen „Mohammed-Karikaturen“ angestiftet zu haben, die am 4. Februar 2006 in Damaskus stattfanden. Hunderte von Demonstranten hatten damals die Polizeisperren vor den Botschaften Dänemarks und Norwegens überrannt. In beiden Gebäuden wurde großer Sachschaden angerichtet; dabei wurden auch die in der dänischen Botschaft untergebrachten Vertretungen Chiles und Schwedens in Mitleidenschaft gezogen. Ursache des Protestes gegen Norwegen war, dass Aftenposten einige der Karikaturen nachgedruckt hatte, die zuerst in der konservativen dänischen Tageszeitung Jyllands-Posten erschienen waren.

Aftenposten stützt jetzt seine Anschuldigungen gegen die syrische Regierung auf einen Bericht, den die amerikanische Botschaft in Damaskus am 8. Februar 2006 an das State Department geschickt hatte. Darin kommt ausführlich „eine der einflussreichsten sunnitischen religiösen Figuren“ Syriens mit entsprechenden Gerüchten zu Wort. Den Namen des Mannes, der offenbar als regelmäßiger Informant der US-Botschaft fungierte, hat die Redaktion unkenntlich gemacht. Aus dieser und einer weiteren von Aftenposten veröffentlichten Depesche wird deutlich, dass die USA in Syrien über eine große Zahl von auskunftswilligen Zuträgern verfügen. Als erste Reaktion auf den Aftenposten-Artikel ließ die dänische Regierung am Montag den syrischen Botschafter kommen und verlangte eine „Klarstellung“.

WikiLeaks hat die beiden von der norwegischen Zeitung veröffentlichten Dokumente inzwischen gleichfalls ins Netz gestellt, zusammen mit einem dritten Bericht aus Damaskus, der allerdings schon vom Dezember 2005 stammt. Insgesamt befanden sich am Mittwoch erst 1947 Depeschen auf der WikiLeaks-Website.

Knut Mellenthin

Junge Welt, 30. Dezember 2010