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Rechtsfreie Haftanstalt

Über 700 Personalakten aus Guantanamo, die jetzt mehreren Zeitungen zugänglich gemacht wurden, lenken wieder einmal die internationale Aufmerksamkeit auf das skandalöse Gefangenenlager, dass die USA in ihrem Militärstützpunkt auf Kuba unterhalten. Präsident Barack Obama, der vor zwei Jahren die Schließung dieser rechtsfreien Haftanstalt angeordnet hatte, ist mittlerweile auf die Linie der Republikaner eingeschwenkt und will Guantanamo unbegrenzt lange weiterführen.

Insgesamt sind es 759 Geheimdokumente aus dem Lager, die im vorigen Jahr bei WikiLeaks gelandet waren und nun der New York Times und dem britischen Guardian zugespielt wurden. Neben Berichten und Einschätzungen über die einzelnen Gefangenen gehört zum Material auch ein 17-seitiger Leitfaden, der die Ermittler instruieren soll, an welchen Kennzeichen typische „feindliche Kämpfer“ und „Al-Qaida-Terroristen“ zu erkennen sind. Dazu gehört der Besitz einer bestimmten – weltweit verbreiteten – Uhr oder eines Taschenrechners. Denn der könnte beispielsweise dazu dienen, Berechnungen für die Lenkung von Artilleriefeuer auszuführen. Terroristentypisch ist natürlich auch das Fehlen von Reisedokumenten – unter den Gefangenen nicht selten, da viele unvermutet von afghanischen oder pakistanischen Sicherheitskräften aufgegriffen und den Amerikanern übergeben wurden – ebenso wie „Verweigerung der Kooperation“. Zum Terroristenraster gehören jedoch auch, was man in Islamabad nicht gern hören wird, Verbindungen zum pakistanischen Geheimdienst ISI.

Die jetzt zugänglichen Akten erfassen die meisten der Personen, die im Laufe der Zeit nach Guantanamo transportiert wurden. Nach einigen Zeitungsberichten fehlen die Akten von 75 Gefangenen, nach anderen Meldungen nur die von zwanzig. Das Material bietet ein Horrorkabinett der Gründe, aus denen Menschen in diesem Lager landeten und dort zum Teil jahrelang widerrechtlich und ohne jede Chance auf juristische Gegenwehr festgehalten wurden.

Ein vierzehnjähriger Junge, den Afghanen den Amerikanern übergeben hatten, kam nach Guantanamo, weil man hoffte, durch ihn vielleicht irgendwelche Erkenntnisse über örtliche Talibanführer gewinnen zu können. Ein Mann von 89 Jahren, der an Altersdemenz litt, war ins Lager eingeliefert worden, weil man angeblich in seinem Haus „verdächtige Telefonnummern“ gefunden hatte.

Unter den Gefangenen war zeitweise auch ein afghanischer Taxifahrer, gegen den absolut nichts vorlag. Die Ermittler erhofften sich lediglich – so steht es tatsächlich in seiner Personalakte - wegen seiner häufigen Fahrten in der Umgebung von Kabul „allgemeine Erkenntnisse über Aktivitäten in diesem Gebiet“.

Durch die Veröffentlichung seiner Personalakte ist nun auch definitiv klar, warum Sami al-Haji, ein sudanesischer Kameramann von Al-Jazeera, sechs Jahre lang in Guantanamo bleiben musste: Die Amerikaner wollten von ihm alles über das Ausbildungsprogramm des populären arabischen Senders, seine technische Ausrüstung und seine Arbeit in Tschetschenien, im Kosovo und in Afghanistan wissen.

In Guantanamo werden immer noch 172 Menschen gefangen gehalten. Kaum einer von ihnen hat Aussicht auf ein rechtsstaatliches Gerichtsverfahren oder auf Freilassung. Seit 2007 werden keine neuen Häftlinge mehr in das Lager gebracht. Die Republikaner drängen darauf, das zu ändern und künftig sogar US-Staatsbürger, denen terroristische Aktivitäten im eigenen Land vorgeworfen werden, nach Guantanamo zu schicken.

Knut Mellenthin

Junge Welt, 24. April 2011