Funktionen für die Darstellung
Seitenpfad
Pakistan: Bürgerkrieg im Auftrag der USA
Am frühen Morgen des 17. Oktober hat die seit langem erwartete Bodenoffensive der pakistanischen Streitkräfte gegen rebellische Stammesmilizen in Südwasiristan begonnen. Das Gebiet gilt – ob zu Recht, lässt sich nicht beurteilen – als Zentrum der regional und tribalistisch zersplitterten, wechselnde Allianzen eingehenden Kräfte, die in Pakistan ganz allgemein mit dem Sammelbegriff „Taliban“ bezeichnet werden. Im Grunde kann man das Wort mit „bewaffnete Paschtunen“ übersetzen. Denn in Pakistan werden auch Gruppen, deren Tätigkeit überwiegend krimineller Art ist – wie etwa Schmuggel über die afghanische Grenze und Schutzgeld-Erpressung – den Taliban zugerechnet, und kurioserweise spricht man sogar von „regierungstreuen Taliban“. Gemeint sind damit Milizen, die (meist nur zeitweise) auf Seiten der staatlichen Sicherheitskräfte kämpfen. Manche tun das vor allem aus finanziellen Motiven, andere hauptsächlich als legale, scheinbar ehrbare Tarnung für eine blutige Abrechnung mit einem verfeindeten Clan.
Das Volk der Paschtunen ist sowohl in Pakistan wie in Afghanistan die Hauptkraft des bewaffneten Widerstands gegen die jeweilige Zentralmacht und gegen die in unterschiedlichen Formen auftretende ausländische Intervention. Insgesamt leben in Pakistan rund 30 Millionen Paschtunen, doppelt so viele wie in Afghanistan. Ihre Siedlungsgebiete umfassen die Nordwest-Grenzprovinz (NWFP) und die sogenannten Stammesgebiete, darüber hinaus aber auch angrenzende Teile der Provinzen Belutschistan und Pundschab. Außerdem leben viele Patschtunen aufgrund von Flucht und anderen Migrationsbewegungen über das Land verteilt, davon über eine Million in der südpakistanischen Hafenstadt Karatschi.
Die Stammesgebiete, Federally Administrated Tribal Areas (FATA), bilden eine besondere politische Einheit, die direkt der Regierung in Islamabad untersteht. Diese Verwaltungsform stammt noch aus der britischen Kolonialzeit, ebenso wie die Einteilung in sieben „Agenturen“ (Agencies), denen jeweils ein von der Regierung ernannter „Politischer Agent“ als höchster Verwaltungsangestellter vorsteht. Südwasiristan ist eine der Agenturen der FATA.
In den bundesstaatlich verwalteten Stammesgebieten gilt nicht die pakistanische Verfassung, sondern die Frontier Crimes Regulation (FCR), ein von den früheren britischen Kolonialherren übernommenes diskriminierendes Sonderrecht. Dieses erlaubt unter anderem die Anwendung von Kollektivstrafen. So können die Bewohner nicht nur für die Taten von Familienangehörigen, sondern auch von Mitgliedern ihres Clans oder Stammes zur Rechenschaft gezogen werden. Das kann durch Inhaftierung, aber auch durch hohe Geldstrafen, durch Beschlagnahme ihres Eigentums und Zerstörung ihrer Häuser geschehen. Ein übliches Verfahren ist, Clan-Älteste zur Auslieferung bestimmter Personen innerhalb einer Frist zu verpflichten, und sie dann persönlich hart zu bestrafen, wenn die Forderung nicht erfüllt wird. Kollektivstrafen sind völkerrechtswidrig, aber ihre ständige, formal legalisierte Anwendung in den Stammesgebieten wird international nahezu vollständig ignoriert.
Das pakistanische Parlament hat in Angelegenheiten, die die FATA betreffen, kein eigenes Mitspracherecht. Parlamentsbeschlüsse gelten dort nur, sofern der Präsident ihrer Anwendung zustimmt. Die politischen Parteien des Landes dürfen in den Stammesgebieten nicht tätig werden.
Zusammen haben die FATA eine Fläche von 27.2220 Quadratkilometern – etwas größer als Hessen - mit schätzungsweise 5,6 Millionen Einwohnern. Die geläufige Vorstellung, dass es sich dabei nur um unzugängliche, kaum bewohnte Hochgebirgsgegenden handele, ist irreführend. Mit einer Bevölkerungsdichte von etwa 115 Einwohnern pro Quadratkilometern sind die FATA jedenfalls erheblich dichter besiedelt als Afghanistan (46 Einwohner/qkm) und als die afghanischen Provinzen auf der anderen Seite der Grenze.
Die ebenfalls überwiegend von Paschtunen bewohnte pakistanische Nordwestprovinz, wo im Frühjahr ein Feldzug der Streitkräfte gegen örtliche Taliban stattfand, hat eine Fläche von 74.521 Quadratkilometern, schätzungsweise 22 Millionen Einwohner und damit eine Siedlungsdichte von fast 300 Einwohnern/qkm. Das Kampfgebiet umfasste allerdings nur einen kleinen Teil der NWFP mit ungefähr fünf Millionen Einwohnern.
Südwasiristan, der Schauplatz des derzeitigen Feldzugs der Streitkräfte, ist mit rund 6.500 Quadratkilometern die größte Agentur der FATA. Die Einwohnerzahl wird meist mit 500.000 angegeben. Die Militäroffensive konzentriert sich bisher auf ein etwa 3.000 Quadratkilometer großes Gebiet im Norden der Agentur, das an Nordwasiristan grenzt. Die beabsichtigte Einschränkung der Kämpfe wird aber angesichts der Mobilität der Stammeskrieger und ihrer Verbundenheit untereinander kaum aufrecht zu erhalten sein. Daher rechnen pakistanische Beobachter damit, dass die Bodenkämpfe sich auf ganz Südwasiristan, auf Nordwasiristan und auch auf andere Teile der Stammesgebiete ausweiten könnten. In allen Agenturen der FATA gibt es nach Regierungsangaben Talibangruppen, die das Ziel regelmäßiger Luftangriffe sind.
Die Armee hat ihren Angriff auf Südwasiristan mit zwei Divisionen, zusammen 28.000 bis 30.000 Mann, begonnen. Verstärkungen könnten später hinzukommen. Schätzungen über die Stärke der gut bewaffneten Rebellen, die überwiegend zum Stamm der Mehsud gehören, bewegen sich in einer Bandbreite zwischen 5.000 und 20.000. Außerdem sollen sich angeblich 1.000 bis 1.500 ausländische Kämpfer, vor allem Usbeken, in Südwasiristan aufhalten.
Der Großangriff gegen Südwasiristan wurde schon seit Anfang Juni, nachdem der Frühjahrsfeldzug in der Region Malakand der Nordwestprovinz weitgehend abgeschlossen war, immer wieder als unmittelbar bevorstehend angekündigt. Die Armee hatte sich aber zunächst darauf beschränkt, regelmäßig mutmaßliche oder angebliche „Taliban-Verstecke“ zu bombardieren und mit schwerer, weit reichender Artillerie zu beschießen. Schon vor einigen Monaten hatten das Militär und andere Sicherheitskräfte alle nach Südwasiristan führenden Straßen abgeriegelt. Diese Blockade hatte einen Zusammenbruch der Versorgung mit Lebensmitteln, Heizöl und Benzin zur Folge. Das trieb, zusammen mit den fast täglichen Luftangriffen, zehntausende Bewohner zur Flucht. Die pakistanischen Behörden sind, anders als während des Feldzugs gegen Malakand im Frühjahr, diesmal mit der Veröffentlichung von Zahlen sehr zurückhaltend. Die UNO rechnet mit derzeit schon über 150.000 Flüchtlingen aus Südwasiristan und fürchtet, dass ihre Zahl auf 250.000 ansteigen könnte.
Das Erzeugen von Massenfluchtbewegungen durch systematische Vertreibung der Bevölkerung aus den Kampfgebieten ist ein fester Bestandteil der pakistanischen Form der Aufstandsbekämpfung. Erreicht wird damit, dass die Taliban zeitweise ihre gesellschaftliche Unterstützung verlieren. Außerdem ermöglicht die Entfernung der Bevölkerung ein rücksichtsloseres Vorgehen des Militärs. So trieben die Streitkräfte im August 2008 mehr als ein Drittel der 600.000 Bewohner der FATA-Agentur Bajaur in die Flucht, bevor sie das Gebiet „von den Taliban säuberten“. Inzwischen sind diese ebenso zurückgekehrt wie die meisten Einwohner. Auf dem Höhepunkt der Frühjahrsoffensive in der Region Malakand waren über 2,5 Millionen Flüchtlinge registriert. Wie hoch zur Zeit die Gesamtzahl liegt, ist nicht bekannt. In der Regel finden 80 bis 90 Prozent der Flüchtlinge bei außerhalb des Kampfgebiets lebenden Angehörigen ihrer Großfamilie oder ihres Clans Aufnahme und Unterstützung. Andere, die über Ersparnisse verfügen, mieten Wohnungen oder kleine Häuser. In fast allen Fällen reichen die Mittel aber nicht für eine monatelange Versorgung großer Flüchtlingsmassen aus. Vom Staat kommt sehr wenig Hilfe, was auch von den örtlichen Behörden immer wieder beklagt wird.
Die anscheinend mehrfach verschobene Bodenoffensive gegen Südwasiristan hat, unter logistischen und technischen Gesichtspunkten, eigentlich zu spät begonnen. Vielleicht hätte die Führung der Streitkräfte einen Termin im nächsten Jahr bevorzugt, wenn der Druck der USA und der ihnen ergebenen pakistanischen Regierung nicht so stark gewesen wäre. Jedenfalls bleibt der Armee jetzt nicht mehr viel Zeit, wesentliche Ziele ihres Feldzugs zu erreichen, bevor Ende November oder Anfang Dezember winterliche Schneefälle die Straßen unpassierbar machen. Alle Experten gehen davon aus, dass die Streitkräfte in Südwasiristan auf sehr viel stärkeren, besser bewaffneten und organisierten Widerstand stoßen werden als vor fünf-sechs Monaten in Malakand. Damals dauerten die Kämpfe im engeren Sinn rund sechs Wochen, in Wirklichkeit jedoch über zwei Monate. So weit dies als Maßstab dienen kann, sind die Chancen der Armee, ihre wesentlichen Ziele in Südwasiristan noch vor Winterbeginn zu erreichen, praktisch kaum größer als null. Das bedeutet auch, dass mehrere Hunderttausend Menschen den Winter über auf der Flucht sein werden, ohne einen voraussagbaren Zeitpunkt für ihre Heimkehr vor Augen.
Der jetzige Feldzug in Südwasiristan ist übrigens schon der vierte innerhalb weniger Jahre seit der Verkündung des Anti-Terror-Kriegs durch Präsident George W. Bush. Ähnliche militärische Unternehmungen gab es 2004, 2005 und 2008. Allein in Wasiristan kamen bei Kämpfen mit den Aufständischen zwischen 1.800 und 2.000 Angehörige der pakistanischen Sicherheitskräfte ums Leben. Das sind mehr als die gesamten Verluste der USA und ihrer Verbündeten in Afghanistan seit Kriegsbeginn. (1.456 Tote, Stand 22.10.2009)
Die früheren drei Feldzüge in Südwasiristan endeten mit Friedensvereinbarungen, die aber von der pakistanischen Führung aufgrund des massiven Drucks der US-Regierung nicht eingehalten wurden. Etwas ähnliches ist dieses Mal nicht zu erwarten. Den Taliban bleibe nur die Wahl, sich zu ergeben oder „ausgelöscht“ zu werden, erklärte Premierminister Jusaf Rasa Gilani. Gefangene werden, wie schon während des Feldzugs in Malakand, kaum gemacht. Damals behauptete das Innenministerium nach sechs Wochen, dass 1244 feindliche Kämpfer getötet worden seien, während die Zahl der Gefangenen nur mit 92 angegeben wurde.
Seit Juli berichten pakistanische Medien immer wieder von Erschossenen, die mit gefesselten Händen an bestimmten Straßen und Plätzen der Region Malakand aufgefunden werden. Offenbar handelt es sich dabei um mutmaßliche Taliban-Unterstützer, die ermordet wurden. Manchmal finden sich bei den Leichen auch Zettel mit entsprechenden Hinweisen. Am 3. Oktober berichtete Gilani in einer Ansprache an den Senat, dass sich in den vergangenen Monaten 3.000 „Terroristen“ den Sicherheitskräften ergeben hätten. Weitere 2.000 Gefangene seien in den nächsten Monaten zu erwarten, womit der Premier auf die bevorstehende Offensive gegen Südwasiristan anspielte. Es gebe aber, fügte Gilani hinzu, in den Gefängnissen gar nicht genug Platz, um alle diese Gefangenen unterzubringen. (1)
Die Propaganda der politischen und militärischen Führung Pakistans suggeriert, dass es sich bei ihren Feldzügen jeweils darum handelt, ein bestimmtes Gebiet ein für alle mal von Aufständischen zu „säubern“. Anschließend werde man dieses Gebiet dauerhaft so mit Sicherheitskräften belegen, dass die Taliban nie wieder zurückkehren können. In diese Richtung erteilt die pakistanische Regierung sogar Ratschläge an die NATO-Interventionstruppen in Afghanistan, die angeblich noch nicht wissen, wie man Aufstandsbekämpfung und Gebietssicherung betreibt. (2) Tatsächlich sind die pakistanischen Streitkräfte den NATO-Truppen im Nachbarland jedoch ausrüstungsmäßig weit unterlegen – beispielsweise besitzen sie zu wenig moderne Kampfhubschrauber (3) - und verfügen längst nicht über die Counter-Insurgency-Erfahrungen der US-Amerikaner. Die selbstherrliche Illusion oder Pose der pakistanischen Führung, im Nordwesten ihres Landes innerhalb kurzer Zeit Erfolge zu erreichen, die die USA und ihre Verbündeten in Afghanistan in acht Jahren nicht geschafft haben, ist fern von jedem Bezug zur Realität.
Diese Haltung schadet im Übrigen den Pakistanis selbst, weil sie scheinbar den jahrelangen Vorwürfen aus USA Recht gibt, der politischen und vor allem der militärischen Führung Pakistans habe es bisher nur am guten Willen gefehlt, mit den Taliban „aufzuräumen“. Die hinter diesen Anklagen stehende Arroganz US-amerikanischer Politiker bricht selbst jetzt, während der zweiten Großoffensive der pakistanischen Streitkräfte in diesem Jahr, immer wieder durch. Der demokratische Senator Robert Menendez wetterte am 21. Oktober: „Bis zu diesem Zeitpunkt haben fast acht Jahre und mehr als sieben Milliarden Dollar der amerikanischen Steuerzahler nicht verhindert, dass sich Taliban und Al-Kaida entlang der pakistanisch-afghanischen Grenze neu gruppiert haben.“ (4) – Der Senator meint die seit dem 11. September 2001 an Pakistan geflossene amerikanische Militärhilfe, die von manchen auch mit neun Milliarden Dollar angegeben wird.
Wie auch immer: Die USA haben an Pakistan für acht Jahre Bürgerkrieg weniger Geld gezahlt als sie selbst für den Afghanistankrieg in zwei Monaten ausgeben. (5) Dass sie dafür in Afghanistan sehr viel erfolgreicher waren als die pakistanischen Streitkräfte im eigenen Land, kann man nicht ernsthaft behaupten.
Kathy Gannon bemerkte dazu: „Pakistan hat mehr Geld aus dem Fond bekommen als irgendeine andere Nation. Zugleich ist das aber die am wenigsten teure Kriegsfront. Der Betrag, den die USA pro Monat für einen (pakistanischen) Soldaten aufwenden, liegt bei nur 928 Dollar, verglichen mit 76.870 Dollar in Afghanistan und 85.640 Dollar im Irak.“ (6)
Der bekannte pakistanische Journalist Ayaz Amir, der seit vorigem Jahr auch Parlamentsabgeordneter ist, kommentierte die amerikanische „Hilfe“ ebenso sarkastisch wie treffend: „Das wird als strategische Partnerschaft bejubelt. Klingt mehr wie der billigste Rent-a-Nation-Kontrakt der modernen Geschichte.“ (7) – Pakistanische Medien schätzen, unter Berufung auf Insider im Militär- und Regierungsapparat, dass der unter amerikanischem Druck geführte Bürgerkrieg das Land bisher 35 Milliarden Dollar gekostet hat. (8) Zum Vergleich: Im selben Zeitraum hat Pakistan von den USA, militärische und zivile Hilfe zusammengerechnet, rund 12 Milliarden Dollar bekommen.
Wahrlich ein sehr schlechtes Geschäft für ein Land, das in wenigen Jahren seine Auslandsschulden von 32,3 Milliarden Dollar (2003) auf 57,4 Milliarden Dollar im laufenden Haushaltsjahr gesteigert hat (9), und das im Jahr 2008 allein für die Bedienung seiner Schulden über drei Milliarden Dollar aufbringen musste (10). Also mehr als die Summe der US-“Hilfe“ im selben Zeitraum. Und diese kommt zudem befrachtet mit arroganten und selbstgefälligen Sprüchen amerikanischer Politiker daher, dass man auf diese Weise „Herzen und Hirne“ der Pakistanis gewinnen wolle. Dringend nötig wäre das allerdings, denn nach einer Umfrage des Pew Research Centers im September haben nur 16 Prozent der Pakistanis eine günstige Meinung über die USA. Noch etwas weniger, 13 Prozent, haben Zutrauen zum neuen Präsidenten Barack Obama. (11)
Pakistanische Medien haben auf die auffallend enge zeitliche Nähe zwischen dem Beginn der Großoffensive gegen Südwasiristan (17. Oktober) und dem Inkrafttreten des umstrittenen US-amerikanischen Hilfsgesetzes, der Kerry-Lugar-Bill, durch die Unterschrift von Präsident Barack Obama (16. Oktober) gezogen. Das Gesetz sichert Pakistan zum einen 1,5 Milliarden jährliche zivile Hilfe über einen Zeitraum von fünf Jahren zu, zusammen also 7,5 Milliarden Dollar. Zugleich wird aber künftige militärische Hilfe an Pakistan – über deren Höhe in der Bill nichts ausgesagt ist – davon abhängig gemacht, dass das Land eine Reihe von Bedingungen erfüllen muss. Unter anderem wird Pakistan kategorisch aufgefordert, „Al-Kaida, die Taliban und andere mit ihnen verbundene terroristische Gruppen (…) daran zu hindern, auf dem Territorium Pakistans zu arbeiten (..), die Terroristen-Lager in den FATA zu schließen, die Terroristen-Stützpunkte in anderen Teilen des Landes zu zerstören, einschließlich Quetta und Muridke (…).“ (12)
Der letzte Punkt hat in breiten Kreisen Pakistans besonders starke Verärgerung ausgelöst. Quetta ist die Hauptstadt der Provinz Belutschistan, liegt von den Stammesgebieten und der Nordwestprovinz Hunderte von Kilometer entfernt. US-amerikanische Politiker und Militärs behaupten seit langem, dass sich die Führungsspitze der afghanischen Taliban in Quetta aufhält, und fordern von den Pakistanis einen militärischen Zugriff. Anderenfalls, so lauten die immer wieder durch Insider vorgetragenen Drohungen, müssten die USA selbst aktiv werden: durch Drohnenangriffe, vielleicht auch durch Operationen von Spezialkommandos. Alle relevanten Kreise Pakistans, sogar die den USA ansonsten sehr ergebene Doppelspitze aus Präsident Asif Ali Zardari und Premierminister Jusaf Rasa Gilani, bestreiten die amerikanischen Behauptungen entschieden. Sie wissen überdies, dass es verhängnisvoll wäre, den Bürgerkrieg nun auch noch nach Quetta und dessen Umgebung zu tragen, wo zahlreiche paschtunische Flüchtlinge leben.
Das in der Kerry-Lugar-Bill erwähnte Muridke liegt in der Nähe von Lahore, der Hauptstadt des Pundschab, der bevölkerungsreichsten Provinz Pakistans. Der Name Muridke steht für die verbotenen islamistischen Organisationen Lashkar-e-Taiba and Markaz Ad-Dawa-wal-Irshad, bei deren Bekämpfung die pakistanischen Behörden nach vorherrschender US-amerikanischen Meinung nicht entschlossen und hart genug sind. Die Erwähnung Muridkes unter den Konditionen für die Gewährung von Militärhilfe an Pakistan ist ein klares Signal, dass die USA eine Ausweitung des Bürgerkriegs auch auf Pundschab oder zumindest den Süden der Provinz fordern.
Dieser sich ausweitende, sich selbst reproduzierende Bürgerkrieg übersteigt die wirtschaftlichen und militärischen Möglichkeiten Pakistans. Je tiefer sich die Führung des Landes darin verstrickt, um so näher rückt der Zeitpunkt, wo ihnen die Dinge von den USA ganz offen aus der Hand genommen werden.
Seit August 2008, ziemlich genau zeitgleich mit dem Rücktritt des früheren Militärdiktators Perves Muscharraf vom Präsidentenamt, ließ George W. Bush die Drohnenangriffe gegen Ziele in Pakistan, und zwar fast ausschließlich in den beiden Agenturen Wasiristans, drastisch steigern. Sein Nachfolger Obama hat seit der Amtsübernahme im Januar die Frequenz der Angriffe noch weiter erhöht. Die Attacken, militärisch nicht sehr effektiv und in ihren politischen Auswirkungen katastrophal, sind in erster Linie ein ständiges Druckmittel der USA gegen die Führung Pakistans: „Wenn ihr die Taliban nicht unter Kontrolle kriegt, tun wir es!“
Knut Mellenthin
Hintergrund Online, 23. Oktober 2009
Anmerkungen
- The News (Pakistan), 3.10.2009
- Pakistans Außenminister Schah Mahmud Qureschi im Interview mit der Los Angeles Times (3.10.2009): „Wir haben von Ihren Erfahrungen gelernt. Was haben Sie im Süden (Afghanistans) gemacht? Die USA sind in diese Provinzen hineingegangen und haben die Taliban vertrieben. Aber nachdem sie (die US-Truppen) weg waren, kamen die Taliban wieder. Unsere Strategie heute ist wirkungsvoller. Denn nachdem wir sie aus dem Swat-Tal (in der Region Malakand) vertrieben hatten, haben wir uns entschlossen, dort zu bleiben. Wir haben uns dafür entschieden, eine ständige Militärpräsenz aufrecht zu erhalten, bis wir ausreichend zivile Strukturen haben, um dort Recht und Ordnung aufrecht zu erhalten.“
- Kathy Gannon, AP: Billions in US aid never reached Pakistan army. (4.10.2009)
- Anwar Iqbal: US Congress approves new restrictions on military aid. The Dawn (Pakistan), 22.20.1009
- Laut Sunday Times kostet die Kriegführung in Afghanistan die USA zur Zeit 165 Millionen Dollar pro Tag. (Barack Obama ready to pay Afghan fighters to ditch the Taliban, 11.10.2009) –
- Siehe Anmerkung 3. Gemeint ist der Coalition Support Fond, aus dem die USA einigen ihrer Verbündeten Geld für ihre Beteiligung am „Krieg gegen den Terror“ bezahlen.
- Ayaz Amir: Kerry-Lugar: bill or document of surrender? The News (Pakistan), 2.10.2009
- S.M. Naseem: US military aid: then and now. The Dawn (Pakistan), 11.7.2009
- Index Mundi (nach CIA World Factbook) http://www.indexmundi.com/pakistan/debt_external.html
Tariq Butt: Pakistan's debts to touch $75 billion by 2016. Saudi-Gazette (online). http://www.saudigazette.com.sa/index.cfm?method=home.regcon&contentID=2009082447774 - Mehul Srivastava und Frederik Balfour: Pakistan Faces Default on Its Huge Foreign Debt. Business Week, 20.10.2008.
<link http: www.businessweek.com globalbiz content oct2008 gb20081020_947596.htm>http://www.businessweek.com/globalbiz/content/oct2008/gb20081020_947596.htm - Karen DeYoung und Pamela Constable: Anti-U.S. Wave Imperiling Efforts in Pakistan, Officials Say. Washington Post, 25.9.2009
- The Kerry-Lugar Bill: details and conditions. The News (Pakistan), 26.9.2009 http://www.thenews.com.pk/daily_detail.asp?id=200156