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"Mangel an Verständnis für lokale Bräuche"
Blutiges Ende einer Feier in Afghanistan: Bewaffnete US-Amerikaner stürmten das Haus und erschossen fünf Menschen: Zwei schwangere Frauen, Mütter von zusammen 15 Kindern, eine Achtzehnjährige und zwei Regierungsbeamte, die sich unter den Gästen befanden. Das geschah am 12. Februar. Etwa 25 Menschen hatten sich an diesem Abend versammelt, um die Namensgebung eines neugeborenen Jungen zu feiern.
Obwohl zahlreiche Überlebende die Vorgänge in allen Einzelheiten schilderten, verbreitete die NATO zunächst routinemäßig ein von Lügen strotzendes Kommunique. „Mehrere Aufständische verwickelten die gemeinsame – aus US-Amerikanern und Afghanen bestehende – Einsatzgruppe in ein Feuergefecht und wurden getötet“, hieß es in der Presseerklärung. Und weiter: Die Soldaten hätten „eine entsetzliche Entdeckung gemacht“, nämlich zwei „gefesselte, geknebelte und erschossene Frauen“.
Am 13. März veröffentlichte die britische Tageszeitung Times Ergebnisse ihrer Recherchen zu dem Zwischenfall und brachte das Thema damit wieder auf die Tagesordnung. Nach Darstellung der Times hatten die beiden Männer, darunter ein hochrangiger Geheimdienstoffizier, das Haus verlassen, weil sie draußen Geräusche gehört hatten, und waren trotz ihres Rufs „Wir arbeiten für die Regierung“, erschossen worden. Die drei Frauen seien getötet worden, als die Angreifer auf einen der beiden Männer schossen, der vor der geöffneten Tür stand.
Nach dem Erscheinen des Times-Berichts bestritt eine NATO-Sprecherin am Sonnabend, dass versucht worden sei, den wirklichen Hergang zu vertuschen. Den Leichen der beiden Frauen seien tatsächlich die Fußgelenke zusammengebunden gewesen und ihre Unterkiefer seien mit Stoffstreifen befestigt gewesen. Allerdings seien das bereits Begräbnisvorbereitungen gewesen, die die US-Amerikaner aus „Mangel an Verständnis für lokale Bräuche“ jedoch nicht erkannt hätten. Da sich unter den Angreifern auch afghanische Soldaten befanden, ist diese Ausrede allerdings nicht überzeugend.
Obwohl die NATO-Militärs ständig beteuern, dass alles getan werde, um Verluste unter der Zivilbevölkerung zu vermeiden, nimmt die Zahl solcher Vorfälle weiter zu. So wurden bei der mit Medienbegleitung inszenierten „Großoffensive“ amerikanischer und britischer Truppen in der Provinz Helmand im Februar nach wahrscheinlich zu niedrigen offiziellen Angaben 28 Zivilpersonen getötet.
Was für Einheiten bei dem Massaker vom 12. Februar eingesetzt waren, verschweigt die NATO noch immer. Vermutlich handelte sich um Angehörige von Spezialeinheiten oder des Geheimdienstes CIA. Diese Formationen stehen noch mehr als die US-Streitkräfte außerhalb von Kontrolle und Verantwortlichkeit.
Indessen demonstrierten die Aufständischen am Sonnabend auf ihre Art, dass mit ihnen weiterhin zu rechnen ist. Bei mehreren Sprengstoff-Anschlägen in der Provinzhauptstadt Kandahar wurden 35 Menschen getötet. Es soll sich um 22 Zivilisten und 13 Polizisten gehandelt haben. Hauptziel der koordinierten Aktionen war offenbar das Gefängnis der Stadt. Im Juni 2008 waren durch die Explosion eines mit Sprengstoff gefüllten LKW die Mauern des Gebäudes zerstört worden, so dass 900 bis 1000 Gefangene – unter ihnen zahlreiche Aufständische – fliehen konnten. In der Zwischenzeit wurde das Gefängnis jedoch mit Beton gesichert, und keinem Häftling gelang diesmal die Flucht.
Ein Taliban-Sprecher sagte, die Anschläge vom Sonnabend seien eine Warnung vor der von der NATO angekündigten Offensive in der Provinz Kandahar gewesen.
Knut Mellenthin
Junge Welt, 15. März 2010