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Liberaler Jurist
Keiner seiner Vorgänger ordnete so viele außergerichtliche Tötungen an wie US-Präsident Barack Obama.
Einmal in der Woche treffen sich etwa zwei Dutzend hochrangige Mitarbeiter der US-Regierung, um Todeslisten abzuhaken. Es geht um Personen, deren Ermordung in Auftrag gegeben werden soll. Die bevorzugte Tötungsmethode sind Luftangriffe, überwiegend durch unbemannte Flugkörper, sogenannte Drohnen. Ihr Einsatz ist im Vergleich zu Kampfflugzeugen oder Raketen vergleichsweise billig – und es können garantiert keine US-Amerikaner zu Schaden kommen. Außer sie sind selbst das Angriffsziel, was immer häufiger der Fall ist, seit Barack Obama im Weißen Haus residiert.
Der Friedensnobelpreisträger liebt die Drohnen. Gleich im ersten Amtsjahr 2009 ließ er ebenso viele Killereinsätze gegen Ziele in Pakistan fliegen wie sein Vorgänger George W. Bush in seiner gesamten achtjährigen Regierungszeit. Im folgenden Jahr verdoppelte er die Zahl sogar noch einmal. Das bedeutete im Durchschnitt mehr als zwei Drohnenangriffe pro Woche.
Wie es rund um dieses Thema im Weißen Haus zugeht, beschrieb die New York Times am Dienstag in einem außergewöhnlich langen Artikel. Für die Recherchen waren nach Angaben der Autoren Jo Becker und Scott Shane Gespräche mit drei Dutzend derzeitigen oder früheren Beratern des Präsidenten geführt worden. Darunter der ehemalige Chefkoordinator sämtlicher US-amerikanischen Geheimdienste, Dennis C. Blair, den Obama im Mai 2010 nach nur 16 Monaten aus dem Amt entließ. Er beklagte jetzt gegenüber den Journalisten, dass bei den Diskussionen im Weißen Haus nicht strategische Fragen, sondern die Killeroperationen im Mittelpunkt gestanden hätten. Es habe ihn an den „body count“, die Leichenstatistiken im Vietnamkrieg, erinnert.
Die Genehmigung aller Drohnenangriffe im Jemen und in Somalia habe sich Obama persönlich vorbehalten, schreibt die New York Times. Auch etwa ein Drittel der Einsätze gegen pakistanische Ziele unterliege der Billigung durch den Präsidenten selbst. Was er unterzeichnet, könnte man als Todesurteile bezeichnen – mit der Einschränkung, dass es weder Gerichtsverfahren noch Urteile gegen die Opfer gibt. So weit die Kandidaten auf Obamas Todesliste Staatsbürger der USA sind, sehen viele Amerikaner darin massive verfassungsrechtliche Probleme.
Nicht so der Präsident, der sich gern als „liberaler Jurist“ titulieren lässt. Nachdem er den Mordbefehl gegen den im Bundesstaat New Mexico geborenen Anwar al Awlaki unterschrieben hatte, erklärte Obama zufrieden, das sei „eine leichte Entscheidung“ gewesen. Awlaki war in den USA niemals wegen irgendeines Verbrechens angeklagt worden. Am 30. September 2011 wurde er im Jemen durch die Raketen einer Drohne getötet. Bei einem weiteren Angriff starb am 14. Oktober auch Awlakis 16-jähriger Sohn, ebenfalls ein US-Amerikaner, gegen den außer seiner Verwandtschaftsbeziehung nichts vorgelegen hatte.
22 US-amerikanische Luftangriffe gab es, der Washington Post zufolge, seit Jahresbeginn im Jemen. Das sind mittlerweile sogar mehr als in Pakistan. Meist handelt es sich um Drohneneinsätze. Diese Praxis „nährt Ärger und Sympathie für Al-Qaida“, schrieb die Tageszeitung am Mittwoch. Als Obama im Dezember 2009 seinen ersten Luftangriff im Jemen anordnete – dabei wurden durch Cruise Missiles 14 Frauen und 21 Kinder getötet – habe Al-Qaida dort 300 Kämpfer gezählt. Mittlerweile seien es mehr als 700, die zudem durch Hunderte von Stammeskriegern unterstützt würden, deren Hauptmotiv Rache für die Mordaktionen der USA sei.
Knut Mellenthin
Junge Welt, 31. Mai 2012