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Erschüttertes Vertrauen

In den nächsten Tagen, voraussichtlich schon am Wochenende, ist mit der Veröffentlichung weiterer Geheimdokumente durch WikiLeaks zu rechnen. Diesmal geht es um den Schriftverkehr der amerikanischen Botschaften und anderer diplomatischer Außenposten mit dem State Department. Das Material soll sehr viel brisanter sein als die am 25. Juli veröffentlichten 75.000 Dokumente zum Afghanistankrieg und die am 22. Oktober ins Netz gestellten 400.000 Files zum Irakkrieg. Washington befürchtet „negative Auswirkungen auf die außenpolitischen Beziehungen der USA“ und versucht, die Veröffentlichung schon vorab mit dem gern strapazierten Hinweis zu verteufeln, es könnten Menschenleben gefährdet werden.

Damit ist indessen aufgrund der Behutsamkeit, mit der WikiLeaks und die beteiligten Medien die Vorauswahl und Bearbeitung der Dokumente betrieben haben, am allerwenigsten zu rechnen. Aber Ärger insbesondere mit verbündeten Regierungen wird es reichlich geben. So zum Beispiel mit der Türkei, falls aus den Papieren wirklich – wie einige Zeitungen am Donnerstag vorab meldeten – hervorgeht, dass die USA insgeheim die kurdische PKK mit Waffen versorgt und ihre Tätigkeit im Irak wohlwollend ignoriert haben. Umgekehrt wird man in Ankara auch nicht begeistert über die Anschuldigungen US-amerikanischer Diplomaten sein, die Türkei habe Al-Qaida im Irak unterstützt.

Bei den Dokumenten, die jetzt nach und nach veröffentlicht werden sollen, handelt es sich in erster Linie um Lageeinschätzungen und Gesprächsberichte der in aller Welt stationierten US-Diplomaten. Darunter auch Protokolle zu heiklen Unterredungen mit Oppositionsvertretern, ebenso wie zu Treffen mit Regierungspolitikern, die ihre innige Nähe zur amerikanischen Botschaft nicht gern an die große Glocke gehängt sehen werden. Vorausschauend klagte der Sprecher des US-Außenministerium, Philip J. Crowley, deshalb schon am Mittwoch über die Erschütterung des Vertrauens, die mit dem Bekanntwerden der Geheimdokumente verbunden sein werde. Künftig wird man sich überall darauf einstellen, dass Unterhaltungen mit amerikanischen Diplomaten nicht unbedingt vertraulich bleiben werden.

Verärgerung wird es vermutlich auch über negative Bewertungen „befreundeter“ Politiker in der Korrespondenz zwischen US-Diplomaten und State Department geben. Einige der WikiLeaks vorliegenden Geheimberichte befassen sich mit angeblicher Korruption in den Gastländern. Auch das wird bei den Betroffenen keine Freude auslösen. Die USA haben deshalb in den vergangenen Tagen Kontakt zu zahlreichen Regierungen aufgenommen, um vorbeugende Schadensbegrenzung zu betreiben.

Wie in den beiden früheren Fällen hat WikiLeaks die Dokumente schon vor einigen Wochen an die Redaktionen der New York Times, des Spiegels und des britischen Guardian gegeben. Zusätzlich sind angeblich diesmal auch noch die französische Le Monde und die spanische El Pais mit im Boot. Wann mit den ersten Veröffentlichungen zu rechnen ist, war bei Redaktionsschluss noch nicht bekannt. Spätestens in der Montagsausgabe des Spiegels dürfte aber einiges zu lesen sein.

Über die Menge der nun zur Veröffentlichung anstehenden Papiere herrscht vorläufig noch Rätselraten. Auf einer WikiLeaks-Seite wurde angekündigt, der Umfang werde sieben mal so groß sein wie der der Irak-Files. Das ergäbe ungefähr 2,8 Millionen. Dem Vernehmen nach wird die Zahl der demnächst ins Netz gestellten Dokumente aber sehr viel geringer sein. Weitere sollen möglicherweise später folgen.

Knut Mellenthin

Junge Welt, 27. November 2010