Funktionen für die Darstellung

Darstellung:
  • Standard.
  • Aktuelle Einstellung: Druckansicht.

Seitenpfad

Die Macht des Drohnen-Präsidenten

„Eine seltene Demonstration von Einigkeit“ nannte es Scott Shane am 6. Juni in der New York Times. Die Rede war von einer Stellungnahme, die die Vorsitzenden der Geheimdienstausschüsse des Senats und des Abgeordnetenhauses am vorigen Mittwoch veröffentlicht hatten. Die kalifornische Senatorin Dianne Feinstein gehört zu den Demokraten, der Abgeordnete Mike Rogers aus Michigan zu den Republikanern. Und wirklich „selten“ war ihr gemeinsamer Vorstoß eigentlich nicht: Die beiden Parlamentarier hatten sich schon früher wiederholt zusammengefunden, um sich über sogenannte Leaks, unerwünschte Pressemeldungen aufgrund von Insiderinformationen, zu empören.

In diesem Fall forderten sie eine strenge Untersuchung der Berichte über zwei geheime Kriegsführungs-Programme der US-Regierung: die Einsätze bewaffneter Drohnen gegen Länder, mit denen sich die Vereinigten Staaten nicht im Krieg befinden, und den „Cyber War“, das Ausforschen und Beschädigen von ausländischen Computersystemen. Feinstein und Rogers interessieren sich selbstverständlich nicht für die Richtigkeit der in bedeutenden Mainstream-Medien veröffentlichten Informationen, Schlussfolgerungen und Vermutungen sowie deren juristische und außenpolitische Relevanz. Sie wollen stattdessen wissen: Wie konnte das in die Presse kommen - und wie kann man solche „Leaks“ künftig noch wirksamer verhindern?

„Vollständig, fair und unparteisch“ müsse die Untersuchung sein, heißt es in der Stellungnahme von Feinstein und Rogers, die auch von den Vize-Vorsitzenden der beiden Ausschüsse, dem Republikaner Saxby Chambliss und dem Demokraten Charles Albert „Dutch“ Ruppersberger, unterzeichnet ist. „Diese Enthüllungen haben laufende geheimdienstliche Programme ernstlich gestört und die künftige Handlungsfähigkeit unserer Geheimdienste in Gefahr gebracht. Jede Enthüllung gefährdet das Leben von Amerikanern, macht es schwerer, Agenten zu rekrutieren, strapaziert das Vertrauen unserer Partner und kann direkten irreparablen Schaden für unsere nationale Sicherheit angesichts der akuten, sich schnell anpassenden Bedrohungen bedeuten.“

Die gemeinsame Erklärung signalisiert, dass die Spitzenpolitiker beider Kongressparteien eine informierte öffentliche Debatte über Rechtmäßigkeit, Ziele und Auswirkungen der geheimen Kriegführung verhindern wollen. Diese Einheitlichkeit ist offenbar auch stärker als die taktischen Reflexe der Opposition, dem amtierenden Präsidenten und seiner Partei mit Hilfe solcher Presseberichte Schwierigkeiten zu bereiten.

Die Reaktion der Regierung ließ nicht lange auf sich warten: Am Freitag beauftragte Justizminister Eric H. Holder zwei Staatsanwälte mit der Leitung der Ermittlungen über die Leaks der jüngsten Zeit. Sie sollen, so Holder, alle sachdienlichen Spuren auch innerhalb des Regierungsapparats verfolgen. Zuvor hatte Präsident Barack Obama beteuert, dass das Weiße Haus nichts mit dem „Durchsickern“ von Informationen zu tun habe. „Seit ich im Amt bin, ist meine Praxis, dass es null Toleranz für diese Art von Leaks und Spekulationen geben darf.“ Tatsächlich hat Obama, Presseberichten zufolge, schon in sechs solcher Fälle – darunter gegen den Soldaten Bradley E. Manning wegen der Weitergabe der WikiLeaks-Depeschen – Strafverfahren auf den Weg gebracht. Alle vorangegangenen US-Präsidenten brachten es zusammen nur auf drei Verfahren.

Einige republikanische Parlamentarier haben Zweifel angemeldet, ob die von Holder beauftragten beiden Staatsanwälte genug Unabhängigkeit besitzen werden. Sie fordern, wie in der Vergangenheit häufiger geschehen, die Einsetzung eines nicht im Regierungsdienst stehenden Untersuchungsleiters. Politiker beider Parteien haben angekündigt, dass sie sich im Kongress für schärfere Gesetze gegen die Weitergabe geheimer Regierungsinformationen einsetzen wollen.

Auslöser der Aufregung war hauptsächlich ein ungewöhnlich langer und gründlich recherchierter Artikel, den die New York Times am 29. Mai veröffentlichte. Die Autoren Jo Becker und Scott Shane setzten sich dort mit juristischen, politischen und ethischen Implikationen des Drohnenkrieges auseinander. Dieser war zwar bald nach dem 11. September 2001 von George W. Bush begonnen worden, wurde aber von seinem Nachfolger seit dessen Amtsantritt im Januar 2009 massiv ausgeweitet. Von über 300 Angriffen, die seit 2004 gegen Ziele in Pakistan durchgeführt wurden, fielen nicht einmal 15 Prozent in die acht Regierungsjahre von Bush. Das konservative Long War Journal schätzt, wahrscheinlich zu niedrig, dass in Pakistan und im Jemen 2.000 Menschen getötet wurden, seit Obama Präsident ist, verglichen mit 500 in der Amtszeit seines Vorgängers. In diesem Jahr gab es bereits 22 Drohnenangriffe im Jemen, mehr als in den vergangenen neun Jahren zusammen.

Es gibt zudem Anzeichen, dass der Herr des Weißen Hauses die Mord-Einsätze auch in Somalia, wo sie bisher sehr selten waren, ausweiten will. Dafür spricht, dass die US-Regierung in der vergangenen Woche Kopfprämien in Höhe von insgesamt 33 Millionen Dollar auf mehrere führende Mitglieder der islamistischen Organisation Al-Schabab ausgesetzt hat. Das signalisiert, wie aus Pakistan und Jemen bekannt ist, dass diese Personen nun systematisch gejagt werden sollen, um sie zu töten.

Becker und Shane beschreiben in ihrem Artikel, wie Obama nach Kriterien und Erwägungen, die niemals offiziell und überprüfbar dargelegt werden, Todeslisten studiert und abzeichnet, und wie Raketen in Häuser, Menschenansammlungen oder Fahrzeuge geschossen werden, ohne dass jemals irgendeine US-Dienststelle sich über Gründe und Folgen äußert – außer, dass man generell bestreitet, dass es überhaupt „zivile“ Tote geben könnte oder für diese allenfalls „eine Zahl im einstelligen Bereich“ einräumt. Die strenge Geheimhaltung, auf die man sich ansonsten ständig beruft, wird nur durchbrochen, wenn es triumphierend den Tod eines „hochwertigen Zieles“, eines angeblichen „Al-Qaida-Kommandeurs“, zu melden gibt.

Die Autoren schildern auch, wie das Leugnen „ziviler“ Toter durch eine trickreiche Sprachreglung der US-Regierung erleichtert wird: Alle männlichen Opfer „im waffenfähigen Alter“ - das können auch Vierzehn- oder Fünfzehnjährige sein – werden automatisch als „militants“ deklariert. Dieses Wort hat zwar eine breite Skala von Bedeutungen, schließt aber jedenfalls aus, dass es sich um „civilians“, Zivilisten, handeln könnte.

Das Hauptinstrument des Leugnens und Ignorierens bleibt jedoch die mit der „nationalen Sicherheit“ nur notdürftig begründete Geheimhaltung der Angriffsfolgen: Militärische Fehler und „zivile“ Opfer ihrer Streitkräfte in Afghanistan wird die US-Regierung unter Umständen allenfalls mehr oder weniger eingestehen, in Ausnahmefällen vielleicht sogar ihr Bedauern aussprechen. Aber niemals nach Drohnenangriffen in Pakistan, im Jemen oder in Somalia.

In ihrem Fazit schreiben die beiden Journalisten: „Seine – Obamas – Schwerpunktsetzung auf die Drohnenangriffe hat es erst einmal unmöglich gemacht, am neuen Verhältnis zur muslimischen Welt zu arbeiten, das er sich vorgestellt hatte. Sowohl Pakistan als auch Jemen sind wahrscheinlich weniger stabil, aber feindseliger gegenüber den Vereinigten Staaten, als sie es zu der Zeit waren, wo Obama Präsident wurde. Ob zu Recht oder nicht: Drohnen sind zu einem provokativen Symbol amerikanischer Macht geworden, die die nationale Souveränität mit Füßen tritt und Unschuldige tötet. Unter den wachsamen Augen Chinas und Russlands haben die USA einen internationalen Präzedenzfall für die grenzüberschreitende Entsendung von Drohnen zur Tötung ihrer Feinde geschaffen.“

Einen Tag nach dem Artikel von Becker und Shane, am 30. Mai, schob die New York Times einen Kommentar unter der Überschrift „Zu viel Macht für einen Präsidenten“ nach. In ihrem Editorial forderte die Redaktion des Blattes Obama auf, „klare Richtlinien“ für die Drohnen-Einsätze zu veröffentlichen, Tötungen „wirklich zum allerletzten Mittel zu machen“ und das vermeintliche Belastungsmaterial von einem ordentlichen Gericht prüfen zu lassen, bevor US-amerikanische Staatsbürger auf die Todesliste gesetzt werden. Darüber hinaus solle die Regierung die rechtlichen Einschätzungen frei geben, mit denen die Tötungen begründet werden.

Weiter heißt es in dem Kommentar der New York Times: „Wie kann die Welt wissen, ob die Ziele, die von diesem Präsidenten oder seinen Nachfolgern ausgewählt werden, wirklich gefährliche Terroristen sind, und nicht einfach Menschen mit falschen Verbindungen? (Es ist zum Beispiel eindeutig, dass viele von denen, die nach den Angriffen vom 11. September 2011 inhaftiert wurden, keine Terroristen waren.) Man macht es sich zu leicht, wenn man sagt, dass das die natürliche Macht eines Oberkommandierenden ist. Die USA können keinen permanenten Krieg gegen den Terror führen, der die Anwendung tödlicher Gewalt gegen jedermann, überall, wegen jeder unterstellten Drohung erlaubt. Diese Macht ist zu groß, sie lässt sich zu leicht missbrauchen, wie diejenigen, die die Regierung von George W. Bush erlebt haben, noch in Erinnerung haben.“

Die Argumente sind offenbar zwingend, wenn auch nicht wirklich neu. Eine nachhaltige Debatte werden sie in den USA voraussichtlich auch jetzt nicht auslösen. Allzu einig sind sich die beiden großen Parteien, dass das heikle Thema aus der öffentlichen Diskussion herausgehalten werden sollte. Letztlich möchten selbstverständlich auch die Republikaner, falls sie den nächsten Präsidenten stellen, Obamas Praxis der unerklärten, vom Kongress nicht explizit gebilligten Angriffskriege und „verdeckten Operationen“ fortsetzen.

Außerdem sind diese Mordaktionen ohne gerichtliches oder sonstwie nachvollziehbares Verfahren bei der Mehrheit der amerikanischen Bevölkerung durchaus populär. Das geht so weit, dass der neokonservative Kriegshetzer Charles Krauthammer am 31. Mai in der Washington Post, wo er eine regelmäßige Kolumne hat, höhnte: Der Artikel von Becker und Shane in der New York Times sei kein „leak“, sondern „eine Presseerklärung des Weißen Hauses“. Obama, der in Wirklichkeit außenpolitisch in jeder Hinsicht eine ganz schwache Figur mache, wolle sich im Wahlkampf mit Hilfe der Drohnen-Morde zum „tough guy“, zum harten Burschen, stilisieren.

Zuzutrauen wäre jemandem, der offensiv damit wirbt, dass er Bin Laden erschießen und ins Meer werfen ließ, statt ihn vor Gericht zu stellen, soviel Zynismus durchaus. Im Übrigen zeigt eine aktuelle Untersuchung des neokonservativen Senders Fox News, dass Obama von den Wählern beim Thema „Kampf gegen den Terrorismus“ deutlich besser bewertet wird als sein republikanischer Gegner Mitt Romney, und zwar um 13 Prozentpunkte. Insgesamt liegen die beiden zur Zeit in den Umfragen ungefähr gleichauf. Romney führt bei Themen wie Schaffung von Arbeitsplätzen, Verbesserung der Wirtschaftslage und Kürzung der Regierungsausgaben.

Dem entspricht die Situation im Kongress: Nur eine geringe Zahl von Parlamentariern hat sich einer Initiative des demokratischen Abgeordneten Dennis Kucinich angeschlossen, der „Transparenz, Rechenschaftslegung und Kontrolle“ für den Drohnenkrieg fordert. „Die Folgen des Drohnen-Einsatzes für unsere nationale Sicherheit sind tiefgreifend“, heißt es in einem Brief von Kucinich und zehn anderen Abgeordneten an den Präsidenten. „Die Drohnen sind gesichtslose Botschafter, die zu zivilen Todesopfern führen. Oft sind sie der einzige direkte Kontakt mit Amerikanern, den die angegriffenen Gemeinschaften haben. Sie können starke, dauerhafte anti-amerikanischen Stimmungen hervorrufen.“

Die US-Regierung hat indessen bekräftigt, dass sie ihre Mord-Operationen unvermindert und unverändert fortsetzen will. Ausgerechnet bei einem Besuch in dem mit Pakistan seit Jahrzehnten verfeindeten Indien rechtfertigte Pentagon-Chef Leon Panetta am vorigen Mittwoch die Drohnen-Angriffe als „Selbstverteidigung“. Fragen von Journalisten, ob damit nicht die Souveränität Pakistans verletzt werde, wehrte der Minister mit der Bemerkung ab: „Es geht ebenso auch um unsere Souveränität“.

US-amerikanische Regierungsbeamte, Militärs und Geheimdienstler, die alle großen Wert auf die Wahrung ihrer Anonymität legen, erzählen willigen Journalisten gern „vertraulich“ Märchen über die angeblich sehr strengen und engen Richtlinien für die Durchführung von „gezielten Tötungen“: Selbstverständlich werde alles nur Menschenmögliche getan, um „unschuldige“ Opfer zu vermeiden. Angeblich würden überhaupt nur Personen umgebracht, die eine direkte und unmittelbare Bedrohung der USA darstellen: Leute zum Beispiel, die gerade an einer Bombe basteln oder einen Anschlag vorbereiten. Bloße Mitgliedschaft in Al-Qaida reiche für einen Tötungsbefehl nicht aus. Um diese Propagandalüge besser verkaufen zu können, wurde sogar – Geheimhaltung hin oder her – ein neuer Begriff erfunden: Es handele sich bei den Drohnen-Einsätzen um „terrorist-attack-disruption strikes“, abgekürzt TADS. Also um Militärschläge zur Vereitelung konkret und unmittelbar geplanter terroristischer Angriffe.

In Wirklichkeit stellt schon der für diese Operationen standardmäßig gebrauchte Begriff „targeted killings“, gezielte Tötungen, eine bewusste Irreführung dar: Nur in ganz wenigen Ausnahmefällen werden Menschen ermordet, weil sie nach Einschätzung der US-Regierung auf einem bedeutenden Posten der Hierarchie von Al-Qaida oder irgendeiner Gruppe örtlicher Aufständischer stehen. Eine im August 2011 veröffentlichte, auf Pakistan bezogene Studie des Londoner Bureau of Investigative Journalism kam zu dem Ergebnis, dass nur von etwa 5 Prozent der Getöteten wenigstens der Name bekannt ist. Das bedeutet: Der allergrößte Teil der Angriffe erfolgt ziellos. Im Sprachgebrauch US-amerikanischer Dienststellen wird diese Praxis zutreffend und anschaulich als „crowd killing“ bezeichnet: Menschen müssen sterben, weil sie sich in einer Gruppe oder Ansammlung befinden, die von den Operateuren der Drohnen als lohnendes Ziel betrachtet wird. Im Schutz der Anonymität rechtfertigen manche Regierungsbeamte diese Praxis sogar damit, dass man auf diese Weise, durch reinen Zufall, schon mehr „hochrangige Ziele“ getötet habe als durch die systematische Jagd nach diesen.

Für die „crowd killings“ nutzt der Auslandsgeheimdienst CIA, der die Einsätze lenkt, vorzugsweise kollektive Ereignisse aus. Das können gemeinsame Essen aus festlichem Anlass, oft während des Ramadan oder an religiösen Feiertagen sein, oder beispielsweise auch Beerdigungen. So wurden im Juni 2009 mehr als hundert Menschen getötet, die an der Beisetzung von Drohnen-Opfern des Vortages teilnahmen. Nach Berichten pakistanischer Medien waren 40 der Toten „low-level militants“, einfache Aufständische ohne Rang. Die anderen Opfer wurden als „Zivilisten“ bezeichnet. Zehn der Toten sollen Kinder zwischen fünf und zehn Jahren gewesen sein. Im April 2011 ließ Obama eine Stammesversammlung angreifen, die zur Schlichtung eines Streits um Eigentumsrechte einberufen worden war. Mindestens 45 Teilnehmer kamen dabei ums Leben, die meisten anderen wurden schwer verletzt.

Auf Nicht-Kombattanten, die bei solchen völlig friedlichen Zusammenkünften anwesend sind, wird keine Rücksicht genommen. Oft wird sogar Drohnen-Angriffen nach einer oder zwei Stunden eine zweite Attacke hinterher geschickt, die sich dann gegen die Menschen richtet, die in den Trümmern nach Überlebenden suchen und die Toten bergen, um sie zu bestatten.

Um diese Praxis zu rechtfertigen, wird so getan, als würde es sich bei den Aufständischen um völlig von der Bevölkerung isolierte Gruppen handeln, die streng unter sich bleiben, so dass jedem, der bei einem solchen Anlass anwesend ist, automatisch unterstellt werden kann, er sei, in der infantilisierten Sprache US-amerikanischer Offizieller, ein „bad guy“, ein böser Bursche. Die anonymen Informanten aus dem Regierungsapparat erzählen den Medien auch, dass die Tötungsaktionen sich in der Regel gegen Menschen richten, die irgendwo „in der Wüste“ leben. Tatsächlich werden aber in Pakistan überwiegend Häuser und Gehöfte angegriffen, die zumindest in Sichtweite zu benachbarten Anwesen liegen. Vielfach leben die „militants“ dort mit ihren Familien zusammen, deren Tod von der US-Regierung von vornherein in Kauf genommen wird. Denn die Angriffe mit Hellfire-Raketen, von denen meist gleich mehrere abgeschossen werden, sind so wenig „präzis“ - ein Lieblingswort der offiziellen Propaganda -, dass es im Zielgebiet kaum Überlebende gibt. Gelegentlich stürzen auch andere Wohnhäuser ein, die in der Nähe liegen.

Der erwähnten Londoner Studie vom August vorigen Jahres zufolge wurden bei insgesamt mindestens 291 Drohnenangriffen auf pakistanische Ziele seit deren Beginn (2004) zwischen 2292 und 2863 Menschen getötet. Das liegt um etwa 40 Prozent über dem Fenster früherer Schätzungen. Die Verfasser meinen, dass mindestens 385 der Toten „Zivilisten“ gewesen seien, darunter 168 Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren. Das mag medientechnisch eine sinnvolle Angabe sein – da die US-Regierung die Zahl getöteter „Zivilisten“ fast bis zum Nullpunkt herunter lügt -, aber die Unterscheidung der Opfer in „Zivilisten“ und „militants“ ist in diesem Fall grundsätzlich unsinnig und irreführend: Nur ein äußerst geringer Teil der Getöteten könnte überhaupt als Kombattanten in einem internationalen „War on Terror“ gelten.

US-Dienststellen kommentierten die Studie dahingehend, dass lediglich 2.050 Menschen durch Drohnenangriffe getötet worden seien und dass es sich dabei bis auf 50 Personen ausschließlich um „militants“ gehandelt habe. Im Jahr 2011 seien überhaupt keine Nicht-Kombattanten unter den Opfern gewesen. Die Studie hingegen gab die Zahl der in diesem Zeitraum getöteten „Zivilisten“ mit mindestens 45 an.

Am vorigen Donnerstag griff Navi Pillay, UN-Hochkommissarin für Menschenrechte, das Thema während eines mehrtägigen Besuchs in Pakistan auf. Die Vereinten Nationen müssten eine Untersuchung über die rechtlichen Grundlagen der Angriffe und über die Zahl der dabei getöteten Menschen, insbesondere der „Zivilisten“, einleiten, forderte die südafrikanische Juristin eindringlich. Dieser Vorstoß wird aber möglicherweise schon an der Passivität der pakistanischen Regierung scheitern.

Die wesentlichen Argumente gegen die Drohnen-Morde hatte ein Vertreter der Vereinten Nationen bereits im Oktober 2009 vorgetragen – übrigens knapp drei Wochen, bevor Obama den Friedensnobelpreis zugesprochen bekam. Der Sonderberichterstatter des UN-Menschenrechtsrates für „außergerichtliche, summarische und willkürliche Hinrichtungen“, Philip Alston äußerte damals in einem Bericht an die UNO-Vollversammlung die Sorge, dass die Drohnen-Attacken unter Bedingungen stattfänden, die möglicherweise das internationale Recht verletzen und gegen die Menschenrechte verstoßen. Das zu untersuchen sei aber wegen des absoluten Mangels an Transparenz und wegen der fehlenden Kooperationsbereitschaft der USA unmöglich.

Die Regierung in Washington habe alle von ihm erbetenen Auskünfte verweigert, klagte Alston. Sie habe das mit der Behauptung begründet, dass weder der Menschenrechtsrat noch die Vollversammlung der Vereinten Nationen das Recht hätten, sich mit Tötungen zu beschäftigen, die während bewaffneter Konflikte stattfänden. Diese Position sei „unhaltbar“. Die US-Regierung habe „die Bringeschuld, mehr darüber zu enthüllen, auf welche Weise sie sicherstellen will, dass durch den Einsatz dieser Waffen tatsächlich keine willkürlichen, außergerichtlichen Exekutionen durchgeführt werden“. Das Weiße Haus müsse offenlegen, auf welcher rechtlichen Grundlage diese Operationen stattfinden, welche Strukturen für die Umsetzung des Programms verantwortlich sind, und welche Rechenschaftsmechanismen existieren.

Das internationale Echo auf Alstons Warnruf blieb damals aus. Weder die Vollversammlung noch der Sicherheitsrat der UNO haben sich bisher mit dem Thema befasst. Auch Russland und China scheinen – aus Gründen, über die sich mangels offizieller Stellungnahmen nur spekulieren ließe – an einer öffentlichen politischen Auseinandersetzung nicht interessiert. Derzeit sind die USA, Großbritannien – in Afghanistan - und Israel die einzigen Staaten, die bewaffnete Drohnen einsetzen.

Knut Mellenthin

Junge Welt, 12. Juni 2012