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Die geheimen Gefangenen der USA

Der einzige in den Vereinigten Staaten wegen der Terrorangriffe vom 11. September eröffnete Prozess ist seit Monaten unterbrochen. Grund: Der Angeklagte will einen in amerikanischem Gewahrsam Festgehaltenen als Entlastungszeugen vernehmen lassen. Die US-Regierung weigert sich strikt, weil das dem Staat "unmittelbaren und irreparablen Schaden" zufügen würde. Der Streit wird vor Gericht ausgetragen, und solange er nicht entschieden ist, ruht der Prozess gegen den französischen Staatsbürger marokkanischer Abstammung, Zacarias Moussaoui.

Der Mann, den er als Zeugen vernehmen lassen will, Ramzi Binalshibh, wird seit neun Monaten von amerikanischen Geheimdienstlern an unbekanntem Ort, höchstwahrscheinlich außerhalb der USA, verhört. Ob er gefoltert und mit Drogen vollgepumpt wird, in welchem körperlichen und geistigen Zustand er ist, ob er überhaupt noch am Leben ist, lässt sich nicht sicher sagen: Kein amerikanischer Richter, geschweige denn internationale Beobachter hatten Zugang zu Binalshibh, seit er am 11. September 2002, genau ein Jahr nach den Anschlägen, in Pakistan festgenommen wurde.

Als die entführten Flugzeuge ins World Trade Center und ins Pentagon krachten, saß Zacarias Moussaoui schon seit einem Monat in einem US-Gefängnis. Trotzdem ist er wegen Verschwörung zu den Angriffen vom 11. September angeklagt, und ihm droht die Todesstrafe. Er hatte in Hamburg zum Bekanntenkreis von Mohammed Atta gehört und war im Februar 2001 in die Vereinigten Staaten eingereist. Dort hatte er Flugstunden genommen, bei denen er sich aber so auffällig benahm, dass die Flugschule die Polizei alarmierte: Moussaoui soll es abgelehnt haben, Starten und Landen zu lernen und nur am Navigieren eines großen Passagierflugzeugs interessiert gewesen sein.

Festgenommen wurde er aber zunächst nur unter dem Vorwurf, gegen Aufenthaltsbestimmungen für Ausländer verstoßen zu haben. Örtliche FBI-Agenten, die bei ihrer Zentrale mehrfach drängten, die Festplatte seines beschlagnahmten Computers untersuchen zu dürfen, erhielten dafür keine Erlaubnis. Nach dem 11. September wurde Moussaoui, wegen seiner Flugstunden, mit den Angriffen in Verbindung gebracht. Die erste Version lautete, er hätte der fünfte Mann für das nur von vier Entführern gekaperte Flugzeug sein sollen, das über Pennsylvania abstürzte. Die anderen drei Teams bestanden aus je fünf Männern. Später hieß es, Moussaoui sei als Pilot für eine fünfte Flugzeugentführung vorgesehen gewesen, die jedoch wegen seiner Verhaftung nicht stattfinden konnte. Diese heute noch von der Anklage vertretene Version ist auf jeden Fall unwahrscheinlich, denn der Franzose war nach Auskunft seiner Fluglehrer ein lausiger Schüler und wäre nicht imstande gewesen, ein Verkehrsflugzeug zu lenken.

Es gibt nicht einen einzigen Anhaltspunkt, dass Moussaoui während seiner Anwesenheit in den Vereinigten Staaten zu irgendeinem der 19 Flugzeugentführer jemals Kontakt hatte. Die Anklage, dennoch Mittäter des 11. September zu sein, stützt sich im Wesentlichen auf die Flugstunden und auf den Umstand, dass Ramzi Binalshibh, der ebenfalls zum Kreis um Atta gehört hatte, ihm zwei Mal aus Hamburg Geld nach USA überwiesen haben soll, angeblich zusammen 14.000 Dollar. Moussaoui will die Vernehmung Binalshibhs erreichen, da dieser bezeugen könne, dass er mit dem 11. Septembers nichts zu tun hatte, sondern für eine spätere Aktion eingeplant gewesen sei, die nicht in den Vereinigten Staaten stattfinden sollte. Das würde Moussaoui zumindest vor der Todesstrafe retten, die ihm droht, falls das Gericht ihn mit dem 11. September in Verbindung bringt.

Der Terrorist, der kein Visum bekam

Ramzi Binalshibh, jemenitischer Staatsbürger, war 1995 nach Deutschland gekommen. Ebenso wie Atta studierte er an der TU Hamburg-Harburg. Als im Laufe des Jahres 2000 mehrere Mitglieder der Hamburger Gruppe in die USA reisten, um die Terrorangriffe vorzubereiten, beantragte auch Binalshibh ein Visum. Zugleich überwies er 2.200 Dollar als Anzahlung an eine Flugschule in Florida, wo er schon einen Kurs gebucht hatte. Doch aus bis heute nicht erklärten Gründen wurde sein Visumsantrag abgelehnt. Ebenso ging es ihm mit zwei oder drei weiteren Anträgen.

Der Sachverhalt ist bemerkenswert. Denn alle 19 Flugzeugentführer konnten legal in die Vereinigten Staaten einreisen. Mindestens zwei von ihnen waren zuvor durch Kontakte im terroristischen Umfeld aufgefallen und standen zum Zeitpunkt ihrer Einreise auf einer Beobachtungsliste der CIA, ohne dass der Geheimdienst dies den Einwanderungsbehörden mitteilte. Mohammed Atta konnte, obwohl sein Visa bereits abgelaufen war, mehrmals aus den USA nach Europa fliegen und wieder einreisen, was normalerweise praktisch unmöglich ist. Sehr penibel scheint es also insgesamt nicht zugegangen zu sein.

Binalshibh war offenbar der einzige, dem ein Visum verweigert wurde. Zu den Gründen haben sich die zuständigen US-Behörden bis heute nicht geäußert. Ein Gerücht besagt, dass der Jemenit verdächtigt worden sei, etwas mit dem Bombenanschlag auf das amerikanische Kriegsschiff USS Cole in Aden im Oktober 2000 zu tun gehabt zu haben. Aber erstens hatte Binalshibh seinen ersten abgelehnten Antrag schon vor diesem Ereignis gestellt, nämlich im Mai. Und zweitens wäre, falls wirklich ernsthafte Verdachtsmomente gegen ihn vorlagen, die logische Schlussfolgerung, dass er schon länger observiert wurde. In diesem Fall hätte auch die Hamburger Gruppe, der er angehörte, schon vor dem 11. September im Blickfeld der Fahnder gewesen sein müssen. Dafür gibt es tatsächlich eine Menge Anhaltspunkte, aber offiziell wird es von amerikanischer und deutscher Seite dementiert.

Eine völlig andere Deutungsmöglichkeit für die Verweigerung der Einreise in die USA wäre, dass der Jemenit als V-Mann für einen amerikanischen Dienst die Hamburger Gruppe ausspähen sollte. In diesem Fall hätte er, um nicht aufzufallen, im Sommer 2000 wie die anderen ein Visum für die Vereinigten Staaten beantragen müssen. Aber natürlich sollte er nicht wirklich an den Selbstmordaktionen teilnehmen. Die Verweigerung des Visums wäre ein naheliegender Weg gewesen, um ihn aus der Sache heraus zu halten, ohne ihn als Verräter auffliegen zu lassen.

Auch in diesem Fall wäre aber nicht auszuschließen, dass die US-Behörden Binalshibh irgendwo gefangen halten oder vielleicht schon ermordet haben. Denn falls er ein V-Mann war, wäre offensichtlich und unzweifelhaft, dass wenigstens einer der amerikanischen Geheimdienste in die gesamte Planung der Hamburger Gruppe um Atta schon sehr frühzeitig eingeweiht war. Das wäre Grund genug, den Agenten aus dem Weg zu schaffen, bevor er über seine Rolle zu sprechen beginnt.

Wenige Tage vor dem 11. September verließ Binalshibh Hamburg und flog wahrscheinlich zusammen mit zwei anderen Mitgliedern der Hamburger Gruppe, Said Bahaji und Zakaria Essabar, nach Pakistan. Im Januar 2002 verbreiteten amerikanische Stellen die Falschinformation, Binalshibh sei bei den Kämpfen in Afghanistan ums Leben gekommen; seine Leiche sei gefunden worden. Ebenfalls aus US-Quellen kam die rätselhafte Behauptung, bei gefangenen oder gefallenen Kämpfern in Afghanistan seien Kopien des Passfotos von Binalshibh gefunden worden.

Kurz darauf gab die US-Regierung bekannt, in den Trümmern eines Hauses nahe Kabul seien fünf Videobänder gefunden worden. Eines zeigt Binalshibh beim Verlesen einer Erklärung und soll eine Länge von einer dreiviertel Stunde haben. Die Amerikaner übermittelten verbündeten Regierungen wie der deutschen nur stumme Standfotos und eine bereinigte "Zusammenfassung" der Video-Texte.

Verhaftung am 11. September

Am 9. September 2002 strahlte der in Katar stationierte arabische Sender al-Dschasira ein Interview mit Ramzi Binalshibh und dem von der US-Regierung als Chefplaner des 11. September bezeichneten Khalid Scheikh Mohammed aus. Josri Fouda, Chefkorrespondent des Senders, behauptete zunächst, die Gespräche im Juni des Jahres in einer konspirativen Wohnung in Karatschi, Pakistan, geführt zu haben. Später gab Fouda April als Zeitpunkt an. Die Verzögerung von drei Monaten bis zur Sendung habe sich daraus ergeben, dass die al-Kaida-Leute die Videobänder zunächst behalten hatten, um sie zu "bearbeiten".

Zwei Tage später, am ersten Jahrestag der Angriffe auf World Trade Center und Pentagon, wurde Binalshibh in Karatschi verhaftet. Um genau zu sein: Das ist die offizielle Version. Fotos zeigen lediglich, dass pakistanische Polizisten einen Mann abführten, dessen obere Gesichtshälfte aus unerklärlichen Gründen so mit einem Tuch verbunden war, dass nur Nasenspitze und Mund zu sehen waren. Das fällt besonders auf, weil von Foudas zweitem Gesprächspartner, Khalid Scheikh Mohammed, nach dessen Festnahme in Rawalpindi am 1. März dieses Jahres erstklassige Fotos an die Medien gegeben wurden, auf denen er einwandfrei zu erkennen ist.

Binalshibh wurde, ebenso wie später Mohammed, sofort den Amerikanern übergeben und mit unbekanntem Ziel weggeschafft. Eine plausible Vermutung ist, dass er in einem befreundeten Land gefangen gehalten wird, wo er mit Hilfe einheimischer Folterspezialisten "verhört" wird, vielleicht in Afghanistan auf dem US-Luftwaffenstützpunkt Bagram oder in Israel. Sicher ist, dass für ihn selbst minimale Standards außer Kraft gesetzt sind, die normalerweise aufgrund internationalen Drucks selbst in Diktaturen beachtet werden. Es scheint keine Menschenrechtsorganisation zu geben, die interessiert und bereit wäre, dagegen zu protestieren.

Gleich nach Bekanntwerden der Verhaftung Binalshibhs beantragte Moussaoui, ihn als Zeugen zu vernehmen. Da das amerikanische Justizministerium ablehnte, ist ein Rechtsstreit anhängig. Im Januar dieses Jahres gab die zuständige Bezirksrichterin Leonie Brinkema dem Antrag des Angeklagten statt. Allerdings mit einer Einschränkung: Binalshibhs Aussagen sollen nur auf Video aufgenommen und im Gerichtssaal vorgeführt werden. Die übliche Prozessordnung, die ein Verhör des Zeugen durch die Verteidigung des Angeklagten vorsieht, ist auch nach dem Urteil von Richterin Brinkema außer Kraft gesetzt.

Dennoch bleibt das US-Justizministerium bei seiner strikten Ablehnung: Eine Befragung Binalshibhs würde angeblich "unmittelbaren, irreparablen Schaden" für die Vereinigten Staaten bedeuten und "die nationale Sicherheit gefährden". Was mit diesen gewichtigen Behauptungen gemeint ist, wurde nicht erläutert. Was immer man an Gründen vermuten mag - alle lassen nur schlimmste Rückschlüsse zu.

Solange der Streit nicht abschließend entschieden ist, ruht der Prozess gegen Moussaoui. Das Justizministerium hat schon angedeutet, er werde, wie immer der Streit auch ausgeht, auf gar keinen Fall irgendeine Art von eine gerichtlicher Vernehmung Binalshibhs zulassen. Nötigenfalls werde man Moussaoui außerhalb der Vereinigten Staaten von einem Militärtribunal aburteilen lassen. Dabei würden praktisch keine rechtsstaatlichen Standards mehr gelten.

Es kennzeichnet die amerikanischen Verhältnisse, dass vergleichsweise liberale Medien wie die Washington Post dieses Vorgehen befürworten. Sie erkennen auf der einen Seite, dass es weitreichende Folgen hätte, wenn das verfassungsmäßige Recht eines Angeklagten, Entlastungszeugen zu benennen, außer Kraft gesetzt würde. Sie unterwerfen sich auf der anderen Seite aber auch der allmächtigen Staatsdoktrin von der "nationalen Sicherheit", die nicht einmal mehr kritische Nachfragen zulässt. Ein Prozess gegen Moussaoui außerhalb der USA scheint den Liberalen daher der beste Weg, den Schaden für das amerikanische Rechtssystem so gering wie möglich zu halten.

Höchststrafe ohne Beweise

Auch der Marokkaner Mounir El Motassadeq, der von Oktober bis Dezember vergangenen Jahres als angeblicher Komplize der Attentäter vom 11. September in Hamburg vor Gericht stand, hatte die Vernehmung Binalshibhs als Entlastungszeugen gefordert. Die US-Regierung lehnte strikt ab und schickte zum Prozess stattdessen einen FBI-Mann, der angeblich zum Stand der Ermittlungen in USA aussagen sollte, tatsächlich aber meist nur antwortete: "Das geht über den Inhalt dessen hinaus, was ich sagen darf". Insbesondere zu den Aussagen Binalshibhs sagte er kein einziges Wort.

Das Hamburger Gericht ließ sich von der Kooperations-Verweigerung der US-Regierung Amerikaner nicht beeindrucken und verurteilte Motassadeq wegen Beihilfe zum Mord und Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung zur Höchststrafe von 15 Jahren. Der Angeklagte kannte zwar unbestritten Mohammed Atta und die anderen Mitglieder der Gruppe persönlich, aber wesentlich mehr war ihm nicht nachzuweisen. Einmal hatte er an Binalshibh zur Weiterleitung an den späteren Attentäter Marwan al-Schehi 2550 Euro  von dessen Konto überwiesen, für das er Vollmacht hatte. Außerdem hatte Motassadeq für al-Schehis nach dessen Ausreise in die USA einige Rechnungen beglichen. Die Aussage des Angeklagten, er habe geglaubt, al-Schehi sei in seine Heimat, die Vereinigten Emirate, zurückgekehrt, war nicht zu widerlegen.

Der Rest war Stimmungsmache: Motassadeq habe "alles amerikanische abgelehnt" und einmal Bin Laden als "großen Mann" bezeichnet, bekundeten Zeugen der Anklage, die zur Sache selbst nichts beizutragen hatten. Den Nachweis, dass Motassadeq in die Pläne für den 11. September vollständig oder auch nur teilweise eingeweiht war, hat das Gericht überhaupt nicht zu führen versucht. Nur mit diesem Nachweis hätte sich aber der Vorwurf der Beihilfe zum Mord begründen lassen. Doch für das Hamburger Gericht hatte offenbar der Ergebenheitsbeweis gegenüber der US-Regierung im weltweit ersten Prozess zum 11. September absolute Priorität.

Die Bleikammern der US-Regierung

Ramzi Binalshibh ist nicht der einzige "Spezialgefangene" der USA, über dessen Haftort und Haftbedingungen selbst amerikanische Gerichte nicht das Geringste wissen. Lässt man die Gefangenen im kubanischen Stützpunkt Guantanamo einmal beiseite, deren Situation freilich kaum besser ist, gibt es inzwischen schon einige Dutzend Häftlinge, die für so wichtig gehalten werden, dass sie vielleicht außer den Wärtern und Verhörspezialisten nie wieder jemand lebend zu Gesicht bekommen wird. Es mag sein, dass der eine oder andere von ihnen irgendwann einmal, körperlich und geistig zerstört, in einem Schauprozess vorgeführt werden wird. Aber selbst das ist völlig in die Willkür der US-Regierung gestellt.

Einer der "Spezialgefangenen" ist ein deutscher Staatsbürger syrischer Herkunft, Mohamed Haydar Zammar aus Hamburg. Nach dem 11. September wurde er kurzzeitig festgenommen, dann aber, vielleicht ganz bewusst, wieder freigelassen. Er flog nach Marokko, wo er sofort festgenommen und nach Syrien abgeschoben wurde. Dort wird er nun, offenbar unter Beteiligung amerikanischer Ermittler, aber vermutlich nach den Regeln der syrischen Diktatur, "verhört". Weder amerikanische Richter noch internationale Beobachter hatten seit seiner Verhaftung in Marokko Zugang zu ihm.

Indessen lässt die US-Regierung immer wieder angebliche Aussagen ihrer "Spezialgefangenen" international verbreiten, vor allem Behauptungen, die andere Gefangene belasten. Sie sind selbstverständlich absolut unüberprüfbar. Weder in den USA noch in irgendeinem rechtsstaatlich funktionierenden Land wären solche Behauptungen vor Gericht verwendbar. Dass sie aber laufende und künftige Prozesse beeinflussen, ist dennoch klar.

Knut Mellenthin

Junge Welt, 18. Juni 2003