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The Day After

Die USA haben die militärische Konfrontation mit dem Iran verschoben, aber nicht abgesagt

Die Veröffentlichung des Berichts der US-Geheimdienste über die "atomaren Absichten und Fähigkeiten" Irans am Montagabend hat weltweit wie eine Bombe eingeschlagen. Richtiger gesagt: Sie hat eine tickende Zeitbombe zwar nicht entschärft und unschädlich gemacht, aber immerhin fürs erste abgeschaltet.

Die Aufmerksamkeit der Medien hat sich am Dienstag auf die Aussage des National Intelligence Estimate (NIE) konzentriert, dass Iran im Herbst 2003 "sein Atomwaffenprogramm gestoppt" und seither nicht wieder aufgenommen habe. Weniger Beachtung fand die damit unmittelbar verbundene Behauptung, dass Irans Militär bis zum Herbst 2003 "unter Leitung der Regierung" an der Entwicklung von Atomwaffen gearbeitet habe. Außerdem heißt es im NIE, "dass Teheran sich die Option auf Entwicklung von Atomwaffen zumindest offen hält", und dass nicht abzusehen sei, wie lange der derzeitige Stopp aufrecht erhalten bleibt. Zusammen mit der "Einschätzung", dass Iran sein Atomwaffenprogramm "hauptsächlich auf Grund des internationalen Drucks" unterbrochen habe, finden die Befürworter von noch schärferen Sanktionen gegen Iran ausreichend Argument im gemeinsamen Papier der insgesamt 16 US-amerikanischen Geheimdienste.

Die veröffentlichten NIEs erreichen regelmäßig maximale öffentliche Aufmerksamkeit, obwohl sie absolut keinen Erkenntniswert haben. Das zeigte sich zuletzt im Juli, als die Geheimdienste ihre These, al-Kaida habe in Nordwestpakistan eine neue Basis aufgebaut. Die NIEs bestehen ausschließlich aus Behauptungen, den sogenannten Key Judgements. Für diese "Einschätzungen" werden keinerlei Fakten, keine Begründungen mitgeliefert. Unterschieden werden die Vermutungen nur nach dem Grad der Sicherheit, mit dem die Dienste angeblich von der Richtigkeit der jeweiligen Annahme ausgehen. Sowohl die Behauptung, dass Iran seit Ende der 80er Jahre an der Entwicklung von Atomwaffen gearbeitet habe, als auch die Aussage, dass die Arbeiten vor vier Jahren gestoppt wurden, sind mit dem höchsten Prädikat "high confidence" versehen. Das bedeutet, dass sie angeblich auf "hochwertigen Informationen" beruhen.

Logisch ist es zwar nicht, dass Dienste, die angeblich über qualifizierte Informationen (und Informanten) verfügen, drei bis vier Jahre brauchen, um nachträglich festzustellen, dass im Iran das "Atomwaffenprogramm" gestoppt wurde. Es ist aber zu befürchten, dass das NIE trotzdem das auf keinen Indizien aufbauende Vorurteil verstärken kann, dass Iran tatsächlich an der Entwicklung von Atomwaffen gearbeitet hat - und die Arbeiten natürlich jederzeit wieder aufnehmen könnte, wenn der Druck von außen nachlässt. Insofern ist es vielleicht kein Zufall, dass das NIE nach zehnmonatiger Arbeit am Text genau in dem Moment veröffentlicht wurde, in dem die Internationale Atomenergiebehörde (IAEA) zu der Schlussfolgerung kam, dass es keine Anzeichen für ein iranisches Atomprogramm in der Vergangenheit gibt.

Mit der Aussage, Iran arbeite derzeit nicht weiter an der Entwicklung von Atomwaffen, nimmt das NIE von der US-Regierung den unmittelbaren Zugzwang zu einer Militäraktion in den nächsten Monaten, in den sie sich selbst durch irreale, alarmistische Äußerungen gebracht hatte. Andererseits steht es in dem Papier aber auch: "Die iranische Führung zu überzeugen, auf die Entwicklung von Atomwaffen zu verzichten, wird schwierig sein (...), angesichts der beträchtlichen Bemühungen, seit zumindest den späten 1980ern bis 2003 solche Waffen zu entwickeln." - Sollte Iran sich für die Wiederaufnahme des "Atomwaffenprogramms" entscheiden, heißt es weiter, würde es vermutlich versteckte, der IAEA unbekannte Anlagen für die Uran-Anreicherung benutzen. Und: "Wir schätzen mit hoher Sicherheit ein, dass Iran die wissenschaftlichen, technischen und industriellen Fähigkeiten zur Produktion von Atomwaffen hat, falls es sich dafür entscheidet."

Knut Mellenthin

Junge Welt, 6. Dezember 2007