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34 Leichen im Keller
Die Chicago Tribune hat am 2. Oktober neues sensationelles Material über den "Liberty-Zwischenfall" veröffentlicht, bei dem Israel 1967 ein US-amerikanisches Spionageschiff in internationalen Gewässern angriff und fast versenkte. Autor des umfangreichen Artikels ist John Crewdon, ein anerkannt seriöser, sorgfältig arbeitender Autor und Träger des Pulitzer-Preises. Crewdon hat für seinen Artikel zahlreiche Zeugen interviewt und gewichtige neue Indizien für die These beigebracht, dass die israelische Militärführung damals ganz bewusst den Angriff auf das Schiff angeordnet hat, in voller Kenntnis, dass es Israels "engstem Verbündeten" gehörte.
Die Reaktion der US-amerikanischen Medien auf Crewdons Recherchen ist nicht überraschend: Schweigen im Blätterwalde. Offenbar haben sich die Mainstream-Medien des "freiesten Landes der Welt" schon vor Jahren darauf geeinigt, dass der Zwischenfall "abgeschlossen" ist und nichts mehr veröffentlicht werden soll, was der offiziellen Version widerspricht. Und die lautet: Alles war ein tragisches Versehen. 1980 vereinbarten beide Regierungen im Rahmen eines Entschädigungsabkommens sogar ausdrücklich, "das Thema nicht mehr aufzugreifen und den Fall aus keinerlei Grund neu aufzurollen". (Das berichtet der israelische Historiker Michael Oren in dem weiter unten zitierten Artikel.)
Bei Beginn des Juni-Krieges 1967 hatte die US-Marine ihr modernstes Spionageschiff, die Liberty, in die Nähe der Küsten Ägyptens und Israels geschickt. Das mit Elektronik vollgepackte Schiff sollte den arabischen und sowjetischen Funkverkehr abhören, nicht aber den israelischen.
Am 8. Juni, dem vierten Kriegstag, tauchten über der Liberty israelische Kampfflugzeuge auf, die das Schiff zunächst in niedriger Höhe überflogen und plötzlich mit Maschinengewehren, Bordkanonen und schließlich auch mit Napalmbomben angriffen. Anschließend erschienen drei israelische Torpedoboote. Mehrere Geschosse trafen die Liberty mittschiffs und rissen ein großes Loch. Insgesamt kamen bei dem Angriff 33 Besatzungsmitglieder und ein ziviler Übersetzer ums Leben. Mindestens 173 weitere Menschen wurden verletzt. Es war für die US-Marine der größte Verlust seit Ende des Zweiten Weltkriegs.
Seit langem ist bekannt, dass die 6. US-Flotte, die etwa 400 Seemeilen westlich von der Liberty kreuzte, nach den ersten Funkmeldungen über den Angriff Kampfflugzeuge losschickte, um dem Schiff zu helfen. Ebenfalls bekannt ist, dass die Flugzeuge kurz darauf umkehrten. Über den Grund gab es bisher jedoch nur Spekulationen. Jetzt berichtet John Crewdon in der Chicago Tribune über ein Gespräch, das er mit J.Q. Hart führte. Der Offizier hatte an jenem Tag Dienst in einer Relaisstation der US-Marine in Marokko, über die der Funkverkehr zwischen Washington und der 6. Flotte lief. Hart erinnert sich daran, wie Verteidigungsminister Robert McNamara dem Kommandanten der 6. Flotte, Admiral Lawrence Geis, den Befehl gab, die Flugzeuge zurück zu holen. Als Geis protestierte, habe McNamara erwidert: "Präsident Johnson wird nicht wegen ein paar Seeleuten gegen einen amerikanischen Verbündeten Krieg führen oder ihm Schwierigkeiten machen."
Noch während die stark beschädigte Liberty auf dem Weg zum Stützpunkt Malta war, ordnete die Marineführung eine Untersuchung an. Die dafür eingesetzte Gruppe bekam jedoch nur eine Woche Zeit, um ihr Abschlussergebnis vorzulegen. Gegenstand der Untersuchung war lediglich, ob fehlerhaftes Verhalten von Seiten der Mannschaft oder anderer Marinestellen vorlag. Die Gruppe hatte keine Möglichkeit, Israel zu besuchen und dort mit Beteiligten zu sprechen. Die Regierungen der USA und Israels waren sich sehr schnell einig, den Vorfall als versehentliches Ergebnis tragischer Umstände darzustellen. Der Verband der Überlebenden der Liberty kämpft seit 40 Jahren für eine Untersuchung durch den Kongress.
Mehrere US-Militärstellen, darunter ein Spionageflugzeug, hatten den israelischen Funkverkehr während des Zwischenfalls mitgeschnitten. Crewdson hat für seinen Artikel in der Chicago Tribune Zeugen interviewt, die damals Abschriften der Bänder gesehen haben. Sie erklären übereinstimmend, aus diesen sei eindeutig hervorgegangen, dass die Israelis sich während des Angriffs über die Identität des Schiffes im klaren waren. Offenbar sind ein großer Teil der Bänder und Abschriften später vernichtet worden. Crewdson verweist auch auf die bekannte Tatsache, dass alle Überlebenden bestätigen, dass auf dem Schiff eine große US-Flagge geweht habe. Das wird von israelischer Seite jedoch bestritten. Die Israelis behaupteten, die Liberty für das ägyptisches Versorgungsschiff El Quseir gehalten zu haben. Das war allerdings nur halb so groß wie die Liberty, sicher nicht mit mehreren riesigen Abhör-Antennen ausgerüstet und sah überhaupt völlig anders aus.
Unstrittig ist, dass israelische Flugzeuge wenige Stunden vor Beginn des Angriffs die Liberty eindeutig anhand des Flottenhandbuchs identifiziert hatten. Das Schiff war auf der Planungstafel in der militärischen Kommandozentrale eingetragen und als "neutral" markiert worden. Dass sie kurz danach dennoch angegriffen wurde, wird von israelischer Seite offiziell so erklärt: Das Schiff habe sich zwischen Identifizierung und Angriff so weit fortbewegt, dass man in der Kommandozentrale nicht mehr gewusst habe, dass es sich um die Liberty handelte. Allerdings: Warum israelische Flugzeuge das Schiff im Morgengrauen genau identifizieren konnten, hingegen einige Stunden später angeblich nicht mehr, wird auch durch diese Erklärung nicht glaubwürdig.
Bleibt die Frage nach dem Motiv des Angriffs. Der amerikanisch-israelische Historiker Michael Oren schrieb vor sieben Jahren in einem Artikel über den Zwischenfall:
"Der Stabschef der Israelischen Streitkräfte (IDF), General Jitzhak Rabin, informierte den Marineattaché der USA in Tel Aviv, Kommandant Ernest Carl Castle, dass Israel seine Küste mit allen verfügbaren Mitteln verteidigen werde. Nicht identifizierte Schiffe würden versenkt, warnte Rabin. Die USA sollten entweder ihre Schiffe in dem Gebiet mitteilen oder sie daraus entfernen. Dennoch lieferten die Amerikaner Israel keine Informationen über die Liberty. Die USA hatten auch Israels Ersuchen um eine formale Verbindung zwischen den beiden Kriegsmarinen abgelehnt. Am 31. Mai hatte Avraham Harman, Israels Botschafter in Washington, den Staatssekretär im Außenministerium, Eugene V. Rostow, gewarnt: 'Falls ein Krieg ausbricht, hätten wir keine Telefonnummer, die wir anrufen könnten, keinen Code für die Flugzeugerkennung und keine Möglichkeit, Kontakt zur 6. US-Flotte aufzunehmen'." ("The USS Liberty: Case Closed” in der Zeitschrift Azure, Frühjahr 2000, Nr. 9)
Oren, der im Wesentlichen der offiziellen israelischen Version folgte, stützte sich für die zitierten Aussagen auf freigegebene Akten. Er schrieb weiter, dass der US-amerikanische Generalstab nach Kriegsbeginn mehrmals per Funk angeordnet habe, dass sich die Liberty 100 Seemeilen weit von den Küsten Israels und Ägyptens zurückziehen sollte. Diese Befehlen seien auf dem Schiff aber nicht angekommen: "Die Übertragung verzögerte sich durch das überlastete, übermäßig komplizierte Kommunikationssystem der Marine, das Nachrichten erst bis zu den Philippinen schickte, um sie dann von dort an den Bestimmungsort weiterzuleiten."
Orens exakt dokumentierte Darstellung lässt den Verdacht zu, dass die israelische Militärführung damals kaltblütig und bewusst, in voller Kenntnis der Tatsachen, ihrem "engsten Verbündeten" eine blutige Lektion erteilt hat. Ohne Billigung höchster Regierungsstellen hätte das kaum geschehen können. Dieser mutmaßliche Verlauf macht aber auch verständlich, warum die amerikanische Regierung strikt darauf bedacht war, den Zwischenfall, der die "Sonderbeziehungen" zu Israel auf Jahre hinaus belastet hätte, unaufgeklärt zu lassen.
Knut Mellenthin
Erweiterte Fassung eines Artikel, der am 9. Oktober 2007 in der Jungen Welt erschien