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China und USA: Feinde von Morgen? (Teil 1)
In diesen Tagen kann man viele Prognosen über einen nahe bevorstehenden Handelskrieg zwischen den USA und China lesen. Das eine ist immer noch die größte Wirtschaftsmacht der Welt, das andere die drittgrößte, die bald an Japan vorbeiziehen und sich an die zweite Stelle schieben wird. China hat zudem im vergangenen Jahr erstmals Deutschland als „Exportweltmeister“ abgelöst. Ein Handelskrieg zwischen den USA und China würde voraussehbar die Weltwirtschaft erheblich in Mitleidenschaft ziehen und vielleicht zum Auslöser der nächsten schweren Finanzkrise werden.
Im Hintergrund steht aber eine schwerwiegendere strategische Frage: Wie werden sich auf längere Sicht, im Zeitraum von vielleicht zwei, drei oder vier Jahrzehnten, die Beziehungen zwischen den beiden Staaten gestalten? Werden die USA bereit sein, in einer sich herausbildenden multipolaren Welt eine bescheidenere Rollen als bisher zu spielen? Oder werden sie ihren arroganten imperialistischen Anspruch auf weltweite „leadership“ auch gegen den neuen Herausforderer militärisch durchzusetzen versuchen, wenn sie ihn mit wirtschaftlichen Mitteln allein nicht mehr bremsen können?
Am 15. April wäre der nächste Bericht des US-Finanzministeriums über Staaten fällig gewesen, die angeblich den Wechselkurs ihrer Währung manipulieren, um sich „unfaire“ Handelsvorteile zu verschaffen. Die US-Regierung gab aber während der Osterfeiertage bekannt, dass die Vorlage des Berichts verschoben wird. Dadurch gewinnen beide Seiten Zeit für Verhandlungen.
China war zuletzt 1994 auf dieser Liste aufgetaucht. 1995 koppelte Peking den internationalen Kurs des Yuan an den Dollar. Diese Bindung wurde 2005 nicht zuletzt aufgrund US-amerikanischen Drucks aufgehoben. In der Folgezeit stieg der Wert der chinesischen Währung um über 20 Prozent. Während der weltweiten Finanz- und Wirtschaftskrise 2008 kehrte China zur Koppelung zurück.
Diese Maßnahme wurde aber von chinesischen Finanzpolitikern, insbesondere auch von der Leitung der Bank of China, als vorübergehende Flankierung des gigantischen Konjunkturpakets von rund 400 Milliarden Euro bezeichnet, mit dem China aus der damaligen Krise erfolgreich durchstartete. Zwar bestreitet die chinesische Regierung die amerikanischen Vorwürfe, dass der Yuan um mindestens 40 Prozent unterbewertet sei. Andererseits deuten Äußerungen chinesischer Finanzexperten schon seit einiger Zeit auf zunehmende Bereitschaft hin, den Wechselkurs in einem bestimmten Rahmen wieder freizugeben.
Sicher würde Peking in einem solchen Fall Vorkehrungen treffen, um den Yuan nicht zum Objekt von globalen Spekulanten werden lassen. Und wahrscheinlich ist außerdem, dass die Chancen für einen solchen Schritt durch amerikanischen Propagandalärm nicht gefördert, sondern erheblich beeinträchtigt werden. Denn der populistische Opportunismus, der US-Politiker dazu treibt, China als Sündenbock zu brandmarken und mit lautstarken Forderungen zu konfrontieren, ist andererseits für die chinesische Führung Grund genug, dem Druck nicht nachzugeben.
130 Kongressabgeordnete aus beiden Parteien hatten Mitte März in einem offenen Brief an Minister Tim Geithner gefordert, China in seinem Bericht, dessen Veröffentlichung damals noch für den 15. April erwartet wurde, der Währungsmanipulation zu bezichtigen. Sie verlangten darüber hinaus, China „durch eine kombinierte Strategie legaler Aktionen und internationalen Drucks“ zur Aufwertung zu zwingen. „Falls diese Bemühungen nicht zum Erfolg führen, fordern wir die Regierung auf, alle ihr zur Verfügung stehenden Instrumente in Betracht zu ziehen, einschließlich der Erhebung von Zöllen auf chinesische Importe“, hieß es weiter in dem Brief der Abgeordneten. Einer der Initiatoren, der Demokrat Mike Michaud, drohte bei der Vorstellung des Briefes vor der Presse: „Wenn die Regierung es unterlässt, zu diesem Thema aktiv zu werden, wird sie die Erholung unserer Wirtschaft aufhalten und die Fähigkeit der kleinen amerikanischen Geschäftsleute und Fabrikanten beschädigen, ihre Produktion zu steigern, ihre Unternehmen offen zu halten und neue Arbeitsplätze zu schaffen.“
Zahlreiche Gewerkschaften und Wirtschaftsverbände, die sich zur Fair Currency Coalition (Koalition für faire Währung) zusammengeschlossen haben, wettern schon seit Jahren, dass Amerikas Wohlstand und amerikanische Arbeitsplätze „nach China transferiert“ oder gar „von den Chinesen gestohlen“ würden. Dieser Vorwurf hat mittlerweile in einer rein fiktiven Zahl Gestalt angenommen: Durch das Ungleichgewicht im Handel mit China seien den USA in den letzten Jahren 2,4 Millionen Arbeitsplätze verloren gegangen. In Wirklichkeit sind die Ursachen für den schon seit Jahrzehnten anhaltenden Niedergang der US-amerikanischen Industrie vielfältig und nicht einmal annähernd auseinander zu rechnen.
Besondere Aktualität und Schärfe bekommt das Thema jetzt dadurch, dass am 2. November Kongresswahlen stattfinden. Alle 435 Abgeordneten und 36 der 100 Senatoren sind neu zu wählen. Die Anprangerung Chinas als Sündenbock für die hausgemachte Finanz- und Wirtschaftskrise der Vereinigten Staaten wird dabei eine wesentliche Rolle spielen. Kaum ein Parlamentarier, der um seine Wiederwahl kämpfen muss, wird sich dieser Stimmungsmache entziehen oder ihr gar öffentlich widersprechen. Umfragen zeigen, dass 70 Prozent der US-Amerikaner China für eine wirtschaftliche Bedrohung halten und immerhin jeder Zweite das ostasiatische Land auch als militärische Gefähr ansieht.
Wie geschlossen die Kongressmitglieder am populistischen China-Bashing teilnehmen oder sich ihm unterordnen, bewies eine Abstimmung im Abgeordnetenhaus am 16 März: Mit nur einer einzigen Gegenstimme – des konservativen Isolationisten Ron Paul – wurde eine Solidaritätsresolution für Falun Gong verabschiedet. Die Gruppe, die ein seitenverkehrtes Hakenkreuz als Symbol benutzt, tarnt sich in China als meditative Sekte, ist aber vor allem eine im Ausland agierende antikommunistische Propagandazentrale. Unter anderem warnt sie mit gefälschtem Material im Stil der „Protokolle der Weisen von Zion“ davor, dass China auf dem Weg zur Weltherrschaft die Bevölkerung der USA und Kanadas mit biologischen Waffen ausrotten wolle, um anschließend Nordamerika mit Chinesen zu besiedeln. In der bewusst provokatorisch formulierten Resolution werden Präsident Barack Obama und alle Kongressmitglieder aufgefordert, den 11. Jahrestag des Verbots von Falun Gong am 20. Juli zum Anlass offizieller Solidaritätserklärungen zu nehmen. Außerdem sollen sie Treffen mit Falun-Gong-Vertretern arrangieren, „wann immer und wo immer das möglich ist“.
Mit der Verschiebung von Finanzminister Geithners Bericht ist etwas Dampf aus dem Streit um die Aufwertung des Yuan gelassen. Das Thema wird demnächst in Diskussionen zwischen Finanz- und Wirtschaftsvertretern beider Seiten behandelt werden, die im Mai stattfinden sollen. Pekings Politiker haben zwar öffentlich mit Reaktionen gedroht, falls die US-Regierung chinesische Importe durch Strafzölle verteuern und einschränken würde. Andererseits hat China bisher hingenommen, dass die USA seit September 2009 solche Zölle in teilweise beträchtlicher Höhe bereits für eine ganze Reihe chinesischer Produkte eingeführt haben. Darunter sind Autoreifen, Stahlrohre, beschichtetes Papieren und Chemikalien, die für die Herstellung von Reinigungsmitteln benutzt werden. Chinas bisherige Zurückhaltung deutet auf die Absicht hin, den Streit nicht eskalieren zu lassen, sondern einzudämmen.
Viele internationale Finanzexperten, darunter auch US-Amerikaner, bestreiten, dass die geforderte Aufwertung des Yuan zur Verwirklichung des von Barack Obama verkündeten hochgesteckten Ziels beitragen könnte, die gesamten Exporte der USA in den nächsten fünf Jahren zu verdoppeln, zwei Millionen neue Jobs zu schaffen und das Defizit im Handel mit China entscheidend zu verringern. Dieses Defizit lag 1985 lediglich bei 6 Millionen Dollar, 1989 bereits bei 6,2 Milliarden, überstieg 2002 erstmals die 100-Milliarden-Grenze, verdoppelte sich bis 2005 auf 202 Milliarden und betrug im vergangenen Jahr 226,8 Milliarden. Der Anstieg des Handelsdefizits hat sich in den letzten Jahren deutlich verlangsamt. Von 2008 auf 2009 verringerte sich das Defizit sogar um über 40 Milliarden Dollar. China hat 2009 wertmäßig drei mal so viel Importgüter aus USA aufgenommen wie 2002. Allerdings weisen nicht nur chinesische Experten darauf hin, dass der zentrale Schlüssel zur Steigerung der amerikanischen Importe in der Freigabe vieler sehr willkommener Hochtechnologie-Produkte läge, deren Ausfuhr nach China die US-Regierung immer noch verbietet.
Im Interesse größerer Unabhängigkeit von der wirtschaftlichen und politischen Konjunktur der USA ist Peking schon seit Jahren bemüht, den Anteil der Ausfuhren in die Vereinigten Staaten am Gesamtexport der Volksrepublik zu senken. Lag dieser im Jahr 2000 noch bei 40 Prozent, so sank er bis 2005 auf 32 Prozent und betrug im vergangenen Jahr 24,7 Prozent oder nach dem Factbook der CIA sogar nur 17 Prozent. Die Vereinigten Staaten sind damit immer noch Chinas größter Absatzmarkt, vor Japan und Südkorea. Ein erheblicher Anteil der chinesischen Exporte in die USA – nach manchen Berechnungen etwa die Hälfte – geht allerdings auf das Konto amerikanischer Unternehmen, die große Teile ihrer Produktion aus Kostengründen nach Ostasien verlagert haben. Diese Firmen würden durch einen Handelskrieg schwer getroffen, wie überhaupt die US-amerikanische Wirtschaft dabei vermutlich mehr verlieren als gewinnen würde.
Dämpfend auf eine reale Eskalation des bisher hauptsächlich verbal ausgetragenen Konflikts wirkt sich auch die Tatsache aus, dass China seit einigen Jahren vor Japan und den arabischen Öl-Staaten Hauptgläubiger der gigantischen Auslandsschulden der USA von 13 bis 14 Billionen Dollar ist. Chinas Devisenreserven in Höhe von über 2 Billionen bestehen etwa zur Hälfte aus Dollar. Peking Möglichkeiten, diese Dollars im Fall eines Handelskriegs auf den Markt zu werfen, sind freilich sehr beschränkt, da China dabei hohe Verluste in Kauf nehmen müsste. Die USA sind jedoch daran interessiert, dass die Volksrepublik auch künftig durch weitere Käufe von Schatzbriefen und Dollars einen erheblichen Teil der amerikanischen Schuldenlast trägt. Indessen scheint die Bereitschaft dazu seit dem großen Finanzkrach etwas abgenommen zu haben.
Bei der Einschätzung der kurz- und mittelfristigen Entwicklung der amerikanisch-chinesischen Beziehungen muss auch berücksichtigt werden, dass diese seit ihrer Anbahnung unter Präsident Richard Nixon vor 40 Jahren etliche Rückschläge verkraftet haben und insgesamt trotzdem einigermaßen kontinuierlich verbessert und ausgeweitet wurden. Ein zunächst schwerwiegend erscheinender Einbruch in den Beziehungen war mit der Niederschlagung der Pekinger Studentenproteste im Juni 1989 verbunden. Auf den beiderseitigen Handel wirkte sich das zwar überhaupt nicht aus, wohl aber vorübergehend auf die Bereitschaft US-amerikanischer Unternehmen, in China zu investieren. Bis heute in Kraft geblieben ist das totale Waffenembargo der USA und der EU gegen China. Letztlich hat es der Volksrepublik hauptsächlich genutzt, weil es sie zwang, sich auf den Aufbau einer eigenen Rüstungsindustrie zu konzentrieren und insoweit zu Mao Tse-tungs altem Prinzip des „Vertrauens auf die eigene Kraft“ zurückzukehren.
Zu den Rückschlägen gehörte auch die Taiwan-Krise von 1996. Damals schickten die USA als Drohgeste zwei Flugzeugträger vor die chinesische Küste, nachdem die Marine der Volksrepublik Gefechtsübungen in der etwa 180 Kilometer breiten Meeresstraße zwischen dem Festland und der Insel durchgeführt hatte. Weitere schwere Zwischenfälle waren die angeblich irrtümliche Bombardierung der chinesischen Botschaft in Belgrad im Mai 1999 während des Kosovo-Krieges und der Zusammenstoß eines US-amerikanischen Spionageflugzeugs mit einem chinesischen Aufklärungsflieger über der Insel Hainan im April 2001.
Dass trotz dieser amerikanischen Provokationen jedes Mal sehr schnell wieder „business as usual“ herrschte, ist in erster Linie der Strategie der chinesischen Führung zuzuschreiben, beim derzeitigen Kräfteverhältnis keine nachhaltigen Konflikte mit den USA zu riskieren, sondern die politischen und damit verbunden auch die wirtschaftlichen Beziehungen stabil zu halten. Das wird als „friedlicher Aufstieg“ bezeichnet. Zu dieser Strategie gehört auch, dass die Volksrepublik das weltweite aggressive und hegemoniale Treiben der USA kaum oder nur äußerst zurückhaltend kritisiert. Widerspruch wird hauptsächlich geäußert, wenn die Politik der Vereinigten Staaten chinesisches Territorium betrifft, sowie abgeschwächt auch hinsichtlich des amerikanischen Vorgehens in Nachbarstaaten wie Korea, Afghanistan, Pakistan und Indien.
In diesem Jahr schien es an den Themen Taiwan und Tibet politische Verstimmungen zu geben, die in vielen Medien als Anzeichen für eine Verschlechterung der chinesisch-amerikanischen Beziehungen interpretiert wurden. Erster Auslöser war Ende Januar die Ankündigung der Obama-Regierung, an Taiwan Waffen im Gesamtwert von 6,4 Milliarden Dollar zu liefern. Hauptsächlich geht es dabei um Black-Hawk-Kampfhubschrauber und das Luftabwehr-System Patriot. Der zweite Anlass war der Empfang des Dalai Lama durch Obama am 18. Februar. Seit der Präsident im vorigen Jahr diese Absicht angekündigt hatte, waren aus Peking Warnungen vor einer damit verbundenen Beschädigung des Verhältnisses zwischen beiden Staaten zu hören gewesen.
Indessen ist nicht anzunehmen, dass China daraus tatsächlich praktische Konsequenzen ziehen wird. Denn in beiden Punkten folgt Washington lediglich der Politik, die die USA schon seit der Anbahnung der Beziehungen in den 70er Jahren betreiben. Den tibetanischen Exilführer zu empfangen, ist übliche Praxis der amerikanischen Präsidenten – ebenso wie die gleichzeitige Behauptung, man sehe in ihm nur ein religiöses Oberhaupt und stelle die Zugehörigkeit Tibets zur Volksrepublik nicht in Frage. Diese Begegnungen sind ein permanentes Ärgernis, aber wirklicher Schaden für China entsteht dabei nicht.
Auch die Aufrüstung Taiwans stellt keine Überraschung dar. Erstens sind die jetzt angekündigten Lieferungen lediglich Teil eines 11-Milliarden-Dollar-Pakets, das schon im Jahr 2001 unter dem damaligen Präsidenten George W. Bush vereinbart wurde. Darüber hinaus ist die ständige Versorgung der Insel mit „Defensivwaffen“ im Taiwan Relation Act festgeschrieben. Dieses Gesetz wurde im April 1979 vom Kongress verabschiedet, nachdem die USA ein Vierteljahr zuvor die Beziehungen zur Volksrepublik aufgenommen und zu der separatistischen Inselregierung abgebrochen hatten. 1982 wurde der Taiwan Relations Act zusätzlich durch die sogenannten sechs Zusicherungen befestigt. Peking weiß seit langem, dass die USA „jede Maßnahme, die Zukunft Taiwans anders als durch friedlichen Methoden zu bestimmen“, als „Bedrohung für Frieden und Sicherheit des westpazifischen Raums“ und als Anlass für „schwere Besorgnis“ ansehen würden. Das verpflichtet Washington im Konfliktfall nicht unbedingt, zugunsten Taiwans militärisch einzugreifen, hält diese Option aber offen.
Nach Bekanntwerden der geplanten Waffenlieferungen im Januar drohte China, die ohnehin nur symbolische, „vertrauensbildende“ Zusammenarbeit zwischen den Streitkräften beider Länder einzustellen. Außerdem sollten Sanktionen gegen die beteiligten US-Unternehmen, darunter Lockheed Martin, verhängt werden. Bis Ende März waren allerdings noch keine Strafmaßnahmen ausgesprochen worden. Was die militärische Kooperation angeht, die unter anderem im Austausch von Delegation besteht, so ist festzustellen, dass diese in den vergangenen Jahren schon mehrfach wegen Taiwan unterbrochen und bald darauf wieder aufgenommen wurde. Dass China im Februar das Andocken des Flugzeugträgers Nimitz in Hongkong gestattete, wurde in den USA als Zeichen interpretiert, dass die bisherige Zusammenarbeit weitergeht. Vielleicht würde China etwas schärfer reagieren, wenn Washington dem seit 2006 in der Schwebe gehaltenen Wunsch Taiwans nachgäbe, 66 Kampfflugzeuge vom Typ F-16 zu kaufen.
Auf kurze Sicht ist jedoch keine nachhaltige Verschlechterung der Beziehungen zwischen den Vereinigten Staaten und China zu erwarten, weder in wirtschaftlicher noch in politischer Hinsicht. Die tatsächlichen Probleme sind langfristiger Art. Nach dem bisherigen Verhalten der USA ist nicht damit zu rechnen, dass sie bereit wären, ihre hegemoniale, weltweit intervenierende Rolle als einzige Supermacht mit einem immer stärker werdenden China zu teilen. Noch weniger würden sie voraussichtlich akzeptieren, irgendwann nur noch die Nummer Zwei zu sein. Beispielsweise könnte China, das in hohem Maß auf den Import von Energieträgern und anderen Rohstoffen angewiesen ist, die größtenteils über See führenden Transportwege nicht gegen US-amerikanische Erpressungsversuche sichern. Besondere Schwachstellen sind dabei die Meerengen von Hormuz und Malakka. Pipelines und Landtransportwege durch von den USA abhängige Staaten wie Afghanistan und Pakistan oder durch das von autoritären und käuflichen Regimes beherrschte Zentralasien stellen keine zuverlässige Alternative dar.
Chinas Verteidigungshaushalt macht nach offiziellen Angaben nur etwa ein Siebtel des US-amerikanischen aus. Selbst nach den politisch motivierten „Schätzungen“ des Pentagon über die wirkliche Höhe der chinesischen Rüstungsausgaben bleibt ein Verhältnis von vier zu eins. Schon das bezeichnen die maßgeblichen Politiker und Medien der USA als „besorgniserregend“. Schließlich habe China doch, wie schon der frühere Kriegsminister Donald Rumsfeld erklärte, gar keine realen Feinde. Chinas vermutete Absicht, einen alten sowjetischen Flugzeugträger zu modernisieren und in ein paar Jahren in Dienst zu stellen, wird in der amerikanischen Propaganda zur Absicht hochgespielt, den USA die Herrschaft über die Weltmeere streitig zu machen.
In Wirklichkeit kann China, dessen Streitkräfte großenteils noch mit weiterentwickelten
Typen der 1950er Jahre bewaffnet sind, mit den bisherigen Ausgaben selbstverständlich keine Aufholjagd gegen den riesigen Vorsprung der USA finanzieren. Hier liegt ein wesentlicher Grund für die chinesische Strategie des „friedlichen Aufstiegs“ und des insgesamt sehr niedrigen Profils auf außenpolitischem Gebiet. China versucht, Konflikte mit der Hegemonialmacht USA möglichst zu vermeiden oder klein zu halten. Die Frage ist, wie lange sich diese damit zufrieden gibt. China könnte, wenn der Iran erst einmal militärisch „abgehakt“ ist, zum nächsten Feind Nummer Eins aufgebaut werden.
Knut Mellenthin
Junge Welt, 6. April 2010