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Wie die USA die sudanesische Arzneimittel-Produktion zerstörten

Am 20. August 1998 schossen die USA 79 Cruise Missiles und Raketen auf Afghanistan und Sudan ab. 13 davon legten die Fabrikanlagen von "Al Schifa" in der sudanesischen Hauptstadt Khartum in Schutt und Asche. Dort waren mehr als die Hälfte der sudanesischen Arzneimittel produziert worden, darunter so lebenswichtige wie Antibiotika, Malaria- und Tuberkulose-Medikamente. Bei dem Raketenangriff starb lediglich der Nachtwächter der Fabrik, aber in der Langzeitwirkung muss die Zahl der durch die Zerstörung von "Al Shifa" verursachten Toten auf Hunderte oder sogar Tausende geschätzt werden.

Präsident Clinton war sich damals "absolut sicher": In der sudanesischen Fabrik war Giftgas produziert worden. Im Auftrag Bin Ladens, dem das Unternehmen angeblich gehörte, und in engster Zusammenarbeit mit dem Irak. Am Tag, der den Raketenangriffen folgte, musste die Praktikantin Monica Lewinsky vor Gericht über ihre Beziehung zum Präsidenten aussagen. Clintons Ausreden über diese banale Privataffäre erregten in den Medien weitaus mehr Aufmerksamkeit als seine Lügen über "Al Shifa" und die zumindest verbrecherisch leichtfertige Zerstörung einer lebenswichtigen pharmazeutischen Fabrik in einem der ärmsten Länder der Welt.

Das einzige angebliche Beweismittel der US-Regierung bestand in einer Bodenprobe, die ein V-Mann des CIA Monate zuvor heimlich in der Nähe des Fabrikgeländes entnommen hatte. Sie soll einen chemischen Stoff "Empta" enthalten haben, der ausschließlich bei der Produktion des Nervengases VX benutzt wird - so jedenfalls die Behauptung der US-Regierung. Dagegen wiesen Experten darauf hin, dass "Empta" sehr wohl auch bei anderen Vorgängen anfällt, etwa bei der Herstellung von Pflanzenschutzmitteln.

Die USA behaupteten ferner, dass die Fabrik auffallend stark gesichert und bewacht gewesen  sei. Als unwiderlegbar feststand, dass die Anlagen lediglich von einem einzigen Nachtwächter geschützt wurden, drehte die US-Regierung das Argument einfach um: Die geringen Sicherheitsvorkehrungen hätten dazu gedient, die hochbrisante Produktion von "Al Schifa"  zu tarnen.

Ein weiteres Indiz für die angebliche Giftgas-Produktion soll darin bestanden haben, dass gelegentlich irakische Delegationen die Fabrik besuchten. Dies ließ sich allerdings sehr harmlos erklären: "Al Schifa" stand auf der offiziellen Liste der Unternehmen, die mit Genehmigung der UNO außerhalb der Sanktionen humanitäre Güter, in diesem Fall Medikamente, in den Irak liefern dürfen.

Aus Aussagen von ausländischen Technikern, die in der Fabrik gearbeitet hatten, und von Diplomaten, die die Anlagen besichtigt hatten, darunter auch der deutsche Botschafter in Khartum, ergab sich eindeutig das Bild eines völlig transparenten Betriebs. Dem entsprach das Verhalten der sudanesischen Regierung nach dem Raketenangriff: Sie lud nicht nur sofort die internationalen Medien ein, sich in den Trümmern der Anlage uneingeschränkt umzusehen, sondern forderte darüber hinaus die Prüfung der amerikanischen Vorwürfe an Ort und Stelle durch UNO-Inspektoren. Die 22 Staaten der Arabischen Liga stellten sich einstimmig hinter diese Forderung. Kuwait brachte eine Resolution dieses Inhalts in den UNO-Sicherheitsrat ein. Es bedurfte des Vetos der USA, um eine internationale Untersuchung zu verhindern. Mit gnadenloser Arroganz erklärte der Stellvertretende US-Vertreter in der UNO, Peter Burleigh: "Ich sehe nicht, was der Sinn einer Fact-Finding-Untersuchung wäre. Wir haben glaubwürdige Informationen, die den Schlag, den wir gegen die Fabrik in Khartum geführt haben, voll rechtfertigen." - Auch die angeblich "Empta"-haltige Bodenprobe aus der Umgebung der Fabrik wurde niemals zu einer Prüfung vorgelegt.

Hatte die US-Regierung zunächst einfach behauptet, "Al Shifa" gehöre zum Wirtschaftsimperium Bin Ladens, stellte sich bald nach den Raketenangriffen heraus, dass der Besitzer ein saudiarabischer Staatsbürger namens Salah Idris war. Die amerikanische Regierung musste öffentlich eingestehen, dass ihr die Besitzverhältnisse bis dahin überhaupt nicht bekannt gewesen waren. Nun wurde, wiederum ohne jeden Beweis, Salah Idris zum Strohmann Bin Ladens erklärt und seine Konten in den USA - insgesamt 24 Millionen Dollar - wurden gesperrt. Idris klagte vor einem US-Gericht, die Regierung widersprach der Klage nicht, sodass im Mai 1999 die beschlagnahmten Gelder wieder freigegeben wurden. Offiziell ließ das US-Justizministerium verlauten, man sei nach wie vor überzeugt, dass Idris in den internationalen Terrorismus verwickelt sei, doch wolle man darüber keine gerichtliche Auseinandersetzung, um die eigenen Informationen nicht preis zu geben.

Die "Al Shifa"-Affäre demonstriert die Leichtfertigkeit, mit der die US-Regierung Gründe für schwerwiegende Kriegshandlungen gegen andere Staaten konstruiert. Schon damals wurde offen das Prinzip verkündet, dass angebliche Beweise für militärische "Vergeltungsschläge" durchaus nicht so eindeutig sein müssen, dass sie auch vor einem amerikanischen Gericht Bestand haben könnten. Ebenfalls schon damals wurde das Prinzip eingeführt, dass die USA ihre Beschuldigungen nicht der internationalen Öffentlichkeit zur Prüfung vorlegen müssen.

Vor diesem Hintergrund ist eindeutig, dass die Legitimierung der amerikanischen Kriegshandlungen durch das von der UNO akzeptierte Recht auf Selbstverteidigung fehl geht. Denn dieses Recht setzt den international überprüfbaren Nachweis voraus, dass es sich bei dem Land, gegen das sich Militärschläge richten, tatsächlich um einen Angreifer handelt. Es ist daran zu erinnern, dass die US-Regierung sich auch geweigert hat, ihre angeblichen Beweise für die Beteiligung Bin Ladens an den Anschlägen vom 11. September vorzulegen. Die Bereitschaft der internationalen Staatengemeinschaft, diese Arroganz der einzig verbliebenen Weltmacht ohne kritisches Hinerfragen zu akzeptieren, scheint mittlerweile fast grenzenlos.

Knut Mellenthin

Neues Deutschland, 3. Dezember 2001