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Al Kaida fünf Jahre danach: Tot und doch lebendig

Fünf Jahre nach dem 11. September 2001 ist die internationale Terrororganisation al-Kaida lebendiger als je zuvor. Zwar nicht in der Wirklichkeit, wo man kaum noch etwas von ihr hört und wo ihr in den vergangenen fünf Jahren kein einziger Anschlag halbwegs sicher zuzuschreiben war. Wohl aber lebt al-Kaida und nimmt immer riesigere Dimensionen an in der Rhetorik von US-Präsident George W. Bush. Die programmatische Rede, die er am 5. September dieses Jahres vor dem Offiziersverband in Washington hielt, beschäftigte sich überwiegend mit al-Kaida und mit deren legendärem Führer Bin Laden.

Nicht von einer wirklichen Organisation war dabei die Rede. Denn diese, soweit sie überhaupt jemals existiert hat, ist nach dem 11. September 2001 zerschlagen worden. Die gelegentlich immer noch zu vernehmende Vorstellung, dass Bin Laden und sein Stellvertreter, Aiman as-Zawahiri, aus irgendwelchen Berghöhlen im afghanisch-pakistanischen Grenzgebiet ein weltweites Terrornetz finanzieren und lenken könnten, liegt aus praktischen Gründen weit jenseits der Realität. Von Bin Laden gibt es seit der US-amerikanischen Offensive auf sein afghanisches Rückzugsgebiet im Dezember 2001 kein zuverlässiges Lebenszeichen mehr. Veröffentlicht wurden in seinem Namen seither fast nur Tonaufnahmen, deren Authentizität lediglich durch CIA-Experten bestätigt ist, denen man getrost eine gewisse politische Interessiertheit unterstellen kann, das Phantom nicht sterben zu lassen. Die einzige in dieser Zeit veröffentlichte Videoaufnahme war von extrem schlechter Qualität und alles andere als ein sicherer Lebensbeweis.

Al-Kaida ist heute in erster Linie ein Mittel westlicher Politiker und Medien, dem Feind einen einfachen Namen mit hohem Bekanntheitsgrad zu geben. George W. Bush hat riesige Probleme, die amerikanische Nation und die Welt davon zu überzeugen, dass sein "Krieg gegen den Terror" eine Erfolgsstory ist. General Wesley K. Clark, Oberbefehlshaber der NATO zur Zeit des Kosovo-Krieges und inzwischen zum Politiker der Demokraten mutiert, drückte es dieser Tage so aus: Als Ergebnis der Politik der Bush-Regierung "haben wir über 2.600 Soldaten im Irak verloren. Wir haben über 300 Milliarden Dollar ausgegeben, woraus über eine Billion oder mehr werden könnten. Wir haben unsere Streitkräfte ernstlich beschädigt. Wir haben unsere diplomatischen Wirkungsmöglichkeiten rund um die Welt verringert."

Gegen solche Feststellungen lässt sich sachlich wenig einwenden. Das ist ein Punkt, wo Präsident Bush den Joker "al-Kaida" aus dem Ärmel zieht. Bin Laden habe, sagte Bush in seiner Rede am 5. September, in einem Brief, der im Jahre 2002 entdeckt wurde, von einer "Medienkampagne" gesprochen, "um einen Keil zwischen das amerikanische Volk und seine Regierung zu treiben". Bush wörtlich: "Diese Medienkampagne werde, sagt Bin Laden, dem amerikanischen Volk die Botschaft übermitteln, dass seine Regierung ihm immer mehr finanzielle Verluste und immer mehr Gefallene einbringt."

Dass al-Kaida in den USA eine "Medienkampagne" führen könnte, ist zwar ein haarsträubender Einfall. Die Logik von Bush' Argumentation liegt aber auf der Hand: Demokratische Politiker, die die Folgen des "Kriegs gegen den Terror" kritisieren, sind auf die Propaganda von al-Kaida hereingefallen, machen sich zu deren Sprachrohr. Bush weiter: "Bin Laden und seine Verbündeten sind überzeugt, dass sie es schaffen können, Amerika zum Rückzug zu zwingen und seinen wirtschaftlichen Zusammenbruch zu bewirken. Sie glauben, unsere Nation ist schwach und dekadent, es fehle ihr an Geduld und Entschlossenheit. Aber damit irren sie sich."

Einfach gesprochen: Wer nicht für Bush und seine unkontrollierbar eskalierende Kriegsstrategie ist, unterstützt al-Kaida. In den USA ist Wahljahr, da kann die Propaganda gar nicht grobschlächtig genug sein. Al-Kaida ist wie Lenin und Hitler, sagte Bush in seiner Rede am 5. September auch. Das macht zwar inhaltlich keinen Sinn, aber die Message ist eindeutig: Alle Gegner der USA sind sich irgendwie gleich. Das passt zur neuen Propagandalinie, den islamischen Fundamentalismus pauschal als "Faschismus" abzustempeln und ständig mit dem deutschen Nationalsozialismus gleichzusetzen. Folglich sind alle, die am "Krieg gegen den Terrorismus" etwas auszusetzen haben, "Beschwichtigungspolitiker".

Was aber ist al-Kaida wirklich? Darüber könnte wahrscheinlich niemand besser Auskunft geben als die US-Regierung. Hat sie doch, nach eigenen Angaben, seit dem 11. September 2001 Hunderte von al-Kaida-Mitgliedern und mehrere Dutzend al-Kaida-Führer festgenommen. Kein einziger von ihnen wurde in den vergangenen Jahren vor ein öffentliches Gericht gestellt. Mehr noch: Kein einziger von ihnen wurde der Öffentlichkeit präsentiert. Es gibt nicht einmal aktuelle Fotos von ihnen. Welche Informationen werden da unter Verschluss gehalten?

Knut Mellenthin

Neues Deutschland, 11. September 2006