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Beim ersten Mal, da tut's noch weh...

"Doch - alles, was mich dazu trieb,
Gott! war so gut! ach, war so lieb!"
(Gretchen, Goethes Faust I)


"Gewalt geht nicht, weil sie unmenschlich macht", verkündete die grüne Cheftheologin Antje Vollmer vor etlichen Jahren ex cathedra, als sie den Bannfluch gegen RAF, 2. Juni und Revolutionäre Zellen schleuderte. Heute beweist sie, zusammen mit ihren Kolleginnen und Kollegen von der grünen Führungsriege, wie recht sie mit diesem Verdikt hatte. Gewalt macht tatsächlich nicht nur unmenschlich, sondern außerdem auch noch unehrlich, korrupt, dumm und feige.

Am 31. März 1999, als der Nato-Bombenkrieg gegen Jugoslawien gerade ein paar Tage alt war, veröffentlichte der STERN die ersten Umfrageergebnisse über die Reaktionen der Bevölkerung, insgesamt und differenziert nach Anhängern der Parteien. Auf die Frage "Dienen die Luftangriffe der Nato auf Jugoslawien dazu, humanitäre Ziele durchzusetzen?", hatten laut STERN 72% der Grünen-Anhänger mit Ja geantwortet. In deutlichem Abstand folgten die Wähler der CDU/CSU mit 61% Ja-Sagern. Lediglich 58% der Sozialdemokraten waren dieser Meinung, und in der gesamten Bevölkerung 54%. Nur 25% der Grünen-Anhänger beantworteten die Frage mit Nein; bei den CDU/CSU-Leuten waren es immerhin 29%, bei den SPDlern 34% und bei den FDP-Wählern sogar 44%.

Die nächste Frage lautete: "Werden die Nato-Luftangriffe Milosevic zum Einlenken bewegen?" - 50% der Grünen-Freunde antworteten mit Ja. In der gesamten Bevölkerung teilten nur 33% diese Zuversicht. Bei den Sozialdemokraten waren es 36%, bei den Christdemokraten 37%.

Dieses Umfrageergebnis ist vielleicht ungenau, entspricht aber im großen und ganzen dem Trend, den jeder wahrnehmen kann: Seine höchste Popularität hat der Bombenkrieg gegen Jugoslawien eindeutig bei den Anhängern von Rot-Grün, ganz besonders bei der Mehrheit der Grünen und bei vielen Altlinken. Stößt man - außerhalb der radikalen Linken, versteht sich - auf eine maßvolle, besonnene Meinung gegen diesen Krieg, geht man meist nicht fehl, den Gesprächspartner als Wähler der CDU oder FDP oder vielleicht auch als rechten Sozialdemokraten einzuordnen.

Die Deutung, daß die Grünen in Bonn den zwangsläufigen Eintrittspreis für die Regierungsbeteiligung zu zahlen haben, ist zwar richtig, trifft aber nur einen kleinen Teil des Problems. Die Ansicht, "daß man doch nicht einfach zusehen kann", entwickelte sich auf breiter Front gerade in den Kreisen der lieben Menschen, die vor ein paar Jahren noch hübsche Lichterketten gegen Ausländerfeindlichkeit bildeten und die während des Golfkriegs 1991 weiße Laken auf dem Balkon hißten, zum Modehit der Frühjahrssaison 1999. Jetzt läuft er, lustloser geworden, in den Sommer hinein und wird spätestens im Herbst in ein sehr interessantes Stimmungsmosaik auseinanderfallen. Dann erst wird sich zeigen, wer aus dem Rausch in Katerstimmung und beschämt erwacht, oder wer auf Dauer Geschmack am Blut gefunden hat, von dem er eigentlich nur aus reiner Nächstenliebe gekostet hatte.

Zur Rechtfertigung, "daß man doch nicht einfach zusehen kann", hat Daniel Ellsberg - der 1965 die "Pentagon Papers" veröffentlichte, mit denen die Kriegspolitik der USA in Vietnam entlarvt wurden - im Zusammenhang mit diesem Krieg das Notwendige gesagt: Das ist, als ob man an einem brennenden Haus vorbei kommt, einen Eimer Benzin in die Flammen kippt und dann erklärt, man habe eben nichts anderes zur Hand gehabt, aber irgendetwas müsse man schließlich tun. (taz, 26.4.9) Der Bombenkrieg ist auf die Not der Menschen im Kosovo und in den Flüchtlingslagern keine rationale, hilfreiche Antwort. Er hat die "humanitäre Katastrophe" zwar nicht ausgelöst, aber beschleunigt und verschärft. Das war spätestens eine Woche nach Beginn der Luftangriffe klar, das wissen auch die allermeisten Gutmenschen, die diesen Krieg immer noch befürworten oder ihre Entscheidung vor sich selbst zu rechtfertigen versuchen. Längst ist die Aussage, man müsse den Krieg weiterführen, "weil sonst Milosevic gewinnt", zum Hauptargument geworden. Dabei rückt das Leiden der Menschen, der Kosovo-Albaner ebenso wie auch das der Serben, unmerklich auf einen der hinteren Plätze in der moralischen Rangordnung.

Tatsächlich muß man am Tiefgang der plötzlich erwachten Sympathie so vieler guter Menschen für die Kosovo-Albaner zweifeln. Die meisten von ihnen haben deren Auseinandersetzung mit der scharfen politischen Repression und dem serbischen Chauvinismus, die nun schon seit mehr als zehn Jahren andauert (und eine noch weitaus längere Vorgeschichte hat), bis vor kurzem doch nicht einmal richtig wahrgenommen. Und die meisten Gutmenschen reagieren auch nicht gerade sichtbar aufgewühlt auf das vermeidbare Leiden und Sterben in den Flüchtlingslagern, außer daß natürlich auch daran nur Milosevic schuld ist. Warum wird nicht die selbstverständliche Forderung erhoben, für die humanitäre Hilfe genauso viel Geld auszugeben wie für den Bombenkrieg? Das wäre für jemanden, den das Leiden der Kosovaren angeblich so sehr mitnimmt, daß er deswegen einen nun schon mehr als zwei Monaten dauernden Bombenkrieg für gerechtfertigt hält, doch eigentlich das moralische Minimum.

Der Bürgerkrieg in Jugoslawien begann 1991; schon in den Jahren 1992 bis 1995 gab es Massenvertreibungen und Massaker, zunächst in erster Linie durch die Serben in Bosnien-Hercegovina, aber dann auch durch Kroatien, das die gesamte serbische Bevölkerung der Krajina vertrieb. Massenvertreibungen gab es im Kosovo auch schon vor einem Jahr. Und wenn man sich weltweit umschaut, findet man heute und in den letzten Jahren eine ganze Reihe von Konflikten, wo die kriegerischen Gutmenschen ihrer eigenen Logik folgend eigentlich "nicht einfach zusehen" dürften, aber - gemeinsam mit den Politikern und der Nato -genau dies tun.

Der Gutmensch, der lieber zur militärischen Gewalt greifen als bei Verbrechen gegen die Menschlichkeit "einfach zusehen" will, müßte logischerweise - sofern ihm sein hochpathetischer Moralismus wirklich ernst wäre - beim politischen Terrorismus landen. Das hatten wir einmal in den 70er Jahren, aber das heutige Gutmenschentum ist eher das Gegenteil davon. Es lebt nämlich ausschließlich vom präzisen Gleichschritt mit der Nato - und entfaltet sich nur auf der Basis totaler eigener Risikofreiheit zur vollen Pracht. Erst seit dem Tag, an dem die erste Welle von Raketen und Bomben in Jugoslawien einschlug, sind die Gutmenschen davon überzeugt, daß man tatsächlich "nicht länger zusehen" durfte. Kaum jemand von ihnen hat schon vor diesem Tag Nato-Angriffe gefordert, und kaum ein Gutmensch verlangt jetzt von der Nato, nach dem gleichen Prinzip als nächstes auch die Türkei in Trümmer zu legen, weil man der Behandlung der Kurden doch ebenfalls "nicht einfach zusehen" könne.

Nebenbei bemerkt hätte man sicher jeden für total geistesschwach gehalten, der vor ein paar Jahren gefordert hätte, Südafrika - einschließlich der schwarzen Wohnviertel - so lange zu bombardieren, bis das Regime die Apartheid aufgibt. Aber es hat auch kein Gutmensch damals so etwas verlangt.

Eine Moral, die sich darauf beschränkt, sich über Nato-Kriege verwirklichen zu wollen, kann selbstverständlich nicht sehr weit reichen. Was aber folgt daraus für alle schweren Menschenrechtsverletzungen, gegen die die Nato aus unterschiedlichen Gründen nicht militärisch vorgehen will oder die sie sogar unterstützt und schützt? Müßte aus dem exhibitionistischen Pathos des gutmenschlichen Nicht-zusehen-dürfens dann nicht geradezu zwangsläufig folgen, daß die Bundeswehr nötigenfalls auch einmal ganz allein aktiv werden müßte, wenn es außer uns Deutschen niemand tun will? Aber wer will denn heute schon so weit gehen?

Die Nato, oder in Einzelfällen vielleicht auch die UNO, bleibt also der alleinige militärische Vollstrecker der Gutmenschenmoral. Vermutlich würden die meisten Gutmenschen immer noch die Uno bevorzugen. Aber die steht dafür immer weniger zur Verfügung, sofern man nicht das Veto-Recht Rußlands und Chinas im Sicherheitsrat gekippt kriegt, was denn auch einige Gutmenschen tatsächlich schon befürworten. Wenn die Nato es nämlich so macht, daß sie auch ohne UNO-Resolutionen Kriege führt und UNO-Resolutionen nur dazu mißbraucht, sie gegen den Willen Rußlands und Chinas in ihrem Sinn zu "interpretieren"(wie beim Krieg gegen den Irak 1991), macht eine Zusammenarbeit im UNO-Sicherheitsrat aus russischer und chinesischer Sicht keinen Sinn mehr.

Wer seine Moral an die Nato delegiert, sollte sich eigentlich schon vorher über sämtliche Folgen im Klaren sein:

1. Die Nato folgt völlig anderen Gesichtspunkten als die Gutmenschenmoral. Sie interveniert militärisch nur aufgrund von Interessen, unter denen die Moral nicht einmal auf einem der letzten Plätze vorkommt. Dafür rangieren Belange der Rüstungsindustrie, der Wirtschaft allgemein sowie der Großmachtpolitik weit vorn. Die USA haben 1997 Waffen im Wert von 8,3 Milliarden Dollar an 52 Länder geliefert, die im Jahresbericht des amerikanischen Außenministeriums als undemokratisch bezeichnet werden. Zur Klientel der USA, die wie zu Zeiten des kältesten Krieges als "freie Welt" deklariert werden, zählen die Regimes in Saudi-Arabien und Pakistan ebenso wie die wahnwitzigen Taliban in Afghanistan.

2. Die Nato führt den Krieg nach ihren eigenen Grundsätzen. Sie ist durchaus nicht unbedingt daran interessiert, einen Krieg so schnell wie möglich zugunsten einer politischen Lösung zu beenden. Sie ist, abgesehen von Image-Notwendigkeiten, nicht einmal daran interessiert, zivile Schäden zu vermeiden. So hat sie in Jugoslawien offenbar weit mehr zivile als militärische Ziele angegriffen, bzw. den Begriff des militärischen Ziels fast bis ins Unendliche ausgedehnt, indem sie ihn durch den Begriff des "legitimen Ziels" ersetzte. Die Nato selbst gibt die "Kollateralschäden" mit rund 10 Prozent an. Die ökologischen, gesundheitlichen und wirtschaftlichen Langzeitwirkungen werden verheerend sein.

3. Aus der militärischen Konfliktform ergibt sich - vor allem, wenn man zur Rechtfertigung mit überhitzten Begriffen wie "neuer Faschismus" und "Völkermord" operiert - der Zwang zum totalen Sieg und damit tendenziell auch zum totalen Krieg. Wenn die Alternative nur noch ist, "daß sonst Milosevic gewinnt", wächst die Toleranz der Gutmenschen gegenüber den konkreten Kriegsmitteln der Nato fast unbegrenzt. Mit jedem weiteren gräßlichen "Fehltreffer" der Nato wird das irritierte Gemurmel der Gutmenschen wieder etwas leiser. Man kann sich an alles gewöhnen, jedenfalls wenn man selbst durch diesen Krieg nichts verliert und nichts riskiert.

4. Die Grünen, unterstützt von einem breiten Gutmenschen-Milieu, haben mit ihrem Ja zum Krieg gegen Jugoslawien geholfen, insbesondere für die deutsche Politik, aber auch für die Interventionspraxis der Nato insgesamt eine Tür zu öffnen. Sie haben aber keineswegs das Potential, diese Tür auch wieder zu schließen oder den weiteren Gang der Dinge auch nur im geringsten zu beeinflußen.

Die Frage, ob Milosevic ein Verbrecher ist und ob militärische Gegenmittel möglicherweise gerechtfertigt wären, ging von vornherein weit am tatsächlichen Problem vorbei. Zur Diskussion stand insgesamt die neue Strategie der Nato mit ihrem weltweiten Interventionsanspruch. Diesem haben die Gutmenschen, überwiegend nicht willentlich, aber doch in den praktischen Ergebnissen, ihren Segen erteilt und erstmals zum Durchbruch verholfen.

Ein Blick in das von der Nato am 23.-24. April in Washington beschlossene neue "Strategische Konzept" ist lehrreich. Völkermord als Interventionsgrund, der Dauerhit des Gutmenschen-Diskurses, kommt in diesem Papier nicht einmal als Begriff vor. Kein Wunder, da die Nato sich nicht als moralische Anstalt definiert, sondern ausschließlich von der sogenannten "Sicherheit des Bündnisses" her. Die kann nun aber von so ziemlich allem gefährdet werden, was irgendwo in der Welt passiert. Das Papier spricht von "einer breiten Vielfalt militärischer und nichtmilitärischer Risiken" und zählt auf: "ernste wirtschaftliche, soziale und politische Schwierigkeiten", "ethnische und religiöse Rivalitäten", "Territorialstreitigkeiten", "unzureichende oder verfehlte Reformbemühungen", "Mißachtung der Menschenrechte", "Auflösung von Staaten", "Akte von Terrorismus, Sabotage und organisiertem Verbrechen", "Unterbrechung des Flusses lebenswichtiger Ressourcen" und "unkontrollierte Bewegungen großer Menschenzahlen".

Richtungsweisend hat der amerikanische Nato-Botschafter Alexander Vershbow festgestellt: "Die Nato muß sich politisch und militärisch darauf vorbereiten, out of area zu handeln. Denn die meisten Krisen werden sich wahrscheinlich nicht auf Nato-Gebiet ereignen. Die Nato muß sich dafür rüsten, zu den Krisen hinzugehen." - Und Außenministerin Albright definiert den künftigen militärischen Aktionsraum der Nato sehr großzügig: Vom Nahen Osten bis Zentralafrika.

Jedem Gutmenschen, der sich immer noch nicht darüber klar ist, was er mit seinem Ja zum Krieg gegen Jugoslawien bewirkt, sei das Studium sämtlicher Gründe empfohlen, aus denen die USA und andere Nato-Staaten wie Großbritannien und Frankreich seit 1945 militärische Gewalt angewendet haben. Die Bundeswehr wird dabei künftig regelmäßig und immer stärker mitmischen.

Daß sich insbesondere Scharping und Fischer permanent als große Kriegsherren aufspielen, deren Wort angeblich in der Nato Gewicht hat, sollte nicht über die Tatsache hinwegtäuschen, daß der deutsche Beitrag zum Bombenkrieg gegen Jugoslawien kaum mehr als rein symbolischer Natur ist. 14 Kampfflugzeuge unter inzwischen mehr als 1000, in ihrer Funktion beschränkt auf Aufklärung und Angriffe gegen Flugabwehrsysteme - die in diesem Krieg aber noch keine nennenswerte Rolle gespielt haben. Und sollte es gar zu einem Kampfeinsatz von Bodentruppen kommen, würde die Bundeswehr wahrscheinlich zunächst nur Sanitäter, Pioniere und Transporteure beisteuern. Im Kriegsgeschäft, wo die einsame Spitzenstellung der USA außer Frage steht und nur Großbritannien und Frankreich ebenfalls über gewisse praktische Erfahrungen verfügen, sind die Bundeswehrsoldaten immer noch Lehrlinge, die man nicht gleich an die Kochtöpfe läßt, sondern erst einmal zum Kartoffelschälen einsetzt. Insofern hat die einmütige Ablehnung eines Bodenkriegs durch sämtliche deutschen Parteien einen ganz realen Hintergrund.

Daß sich das gründlich ändern soll, ist allerdings schon beschlossene Sache. Die rot-grüne Regierung will die Umstellung der Bundeswehr auf schnelle, weltweite Interventionsfähigkeit in den kommenden Jahren entscheidend voranbringen. Genau in diesen Tagen, während des Nato-Kriegs gegen Jugoslawien, werden die Grundlagen für eine eigenständige Rolle der WEU gelegt, die in Zukunft auch Einsätze europäischer Streitkräfte ohne die USA möglch machen soll. Die Dinge entwickeln sich derzeit eindeutig so, daß die tatsächliche militärische Aktionsfähigkeit eines Staates wieder zu einem entscheidenden Kriterium seines Großmachtsstatus wird. Wenn Deutschland auf dieser Ebene "mitreden" will, muß es auf dem Gebiet der Rüstung eine rasche nachholende Entwicklung vollziehen und seinen Anteil an den kriegerischen Unternehmungen der Nato nicht nur weiter stetig steigern, sondern sogar sprunghaft erhöhen. Der Kosovo-Krieg ist dazu nur der Einstieg, und die Funktion der Grünen wird voraussichtlich erschöpft sein, wenn sie diesen Prozeß erst einmal unumkehrbar auf den richtigen Weg gebracht haben.

Die entscheidende Frage ist, ob die in Gang gebrachte Militarisierung der Außenpolitik strategisch auf eine kriegerische Auseinandersetzung mit Rußland abzielt. Objektiv, also ohne Berücksichtigung der tieferen Absichten der Nato-Staaten, ist festzustellen, daß der Krieg gegen Jugoslawien ganz massiv mißtrauensbildend wirkt:

1. Rußland ist durch die Umgehung des UNO-Sicherheitsrats aus dem Entscheidungsprozeß vollständig hinausgeworfen worden. Bei der sogenannten "Einbindung Rußlands in die Verhandlungsdiplomatie" geht es nur noch darum, die Russen dazu zu instrumentalisieren, Belgrad die Kapitulation schmackhaft zu machen. Schon der Ausdruck "Verhandlungsdiplomatie" ist bewußt irreführend gewählt, weil die volle Anerkennung aller Nato-Forderungen durch Belgrad nach Aussagen der Nato-Politiker nicht verhandelbar ist.

2. Die Nato benutzt den Bombenkrieg gegen Jugoslawien, um große Teile Osteuropas unmittelbar in ihr militärisches Aufmarschgebiet zu verwandeln - durch Stationierung von Truppen, Benutzung von Flughäfen für den Luftkrieg, Gewährung von Überflug- und Durchmarschrechten. Auffällig ist, daß die Nato sich "vorsorglich" sogar Nutzungsrechte für Länder sichert, wo dies praktisch gar nicht nötig wäre und bis heute auch nicht genutzt wird, wie Tschechien, Slowakien oder Rumänien. Gleichzeitig wirkt der Krieg beschleunigend auf die weitere Heranführung Osteuropas an die Nato bzw. im Falle der gerade erst neu aufgenommenen Mitglieder (Tschechien, Ungarn und Polen) auf deren Integration in die Nato-Strukturen. Am Rande des Krieges gegen Jugoslawien finden die ersten Nato-Manöver in Tschechien und Ungarn statt. Die Nato betreibt die Verwandlung Osteuropas in militärisches Hinterland in einem Ausmaß, das für den Jugoslawien-Krieg eindeutig überdimensioniert ist und aus russischer Sicht nur als militärische Einkreisung interpretiert werden kann.

Hinzu kommt, daß auch die kleineren Länder an der russischen Peripherie, wie die baltischen Staaten (unter denen Litauen schon als nächster Nato-Kandidat ausgewählt ist), aber u.a. auch Georgien, Aserbaidschan und Armenien die Integration in die Nato anstreben. Noch vor ein paar Jahren hatte die Nato das Thema "Osterweiterung" mit einer gewissen Vorsicht behandelt, die der Rücksichtnahme auf Rußland geschuldet war. Der Jugoslawienkrieg wirkt auch auf diesem Gebiet offensichtlich stark enthemmend.

3. Die Begründung des Bombenkriegs gegen Jugoslawien muß Rußland direkt auf sich selbst beziehen. Mit der gleichen Logik könnte die Nato Auseinandersetzungen in Rußland, wie noch vor wenigen Jahren der Tschetschenien-Krieg, als Rechtfertigung militärischer Angriffe nehmen. Auch Versuche Rußlands, seinen Einfluß in dem ihm noch verbliebenen westlichen Vorfeld, Ukraine und Weißrußland, zu wahren, könnten von der Nato mit Kriegsdrohungen gekontert werden. Ebenso wäre ein Umsturz in Rußland, der nationalistische Kräfte an die Regierung bringt und die totale Abhängigkeit Rußlands von IWF/Weltbank in Frage stellt, eine interventionsverdächtige Situation.

Aussagen wie etwa, man werde niemals etwas gegen Rußland unternehmen, sind ohne den geringsten praktischen Wert - ganz besonders, wenn sie von deutschen Politikern kommen, die noch vor vier Jahren als ihre feste Überzeugung zum besten gaben, deutsche Soldaten hätten aus historischen Gründen auf dem Balkan nichts zu suchen. Die Frage ist ausschließlich, was die USA und die NATO sich zutrauen. Diesbezüglich ist nicht mehr von einer Berechenbarkeit der NATO auszugehen, und das ist offenbar auch die Sichtweise russischer Politiker und Militärs, die jetzt von einer Überprüfung ihrer militärischen Optionen sprechen.

Knut Mellenthin

Analyse & kritik, Juni 1999