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Gerüchte um israelischen Atomschlag gegen Iran
Die Los Angeles Times behauptete vor zweieinhalb Wochen unter Berufung auf anonyme Quellen, Israel sei es gelungen, amerikanische Harpoon-Raketen so umzubauen, dass sie nukleare Sprengköpfe tragen können, die von U-Booten abgeschossen werden könnten. Der Spiegel griff die Meldung auf und ergänzte sie durch ein eigenes Gerücht: Eine Spezialeinheit des israelischen Geheimdienstes Mossad habe schon vor zwei Monaten den Auftrag erhalten, Pläne zur Zerstörung der iranischen Atomanlagen auszuarbeiten. Die Planung sei inzwischen abgeschlossen und der Luftwaffe übergeben worden. Vorgesehen sei, sechs Anlagen gleichzeitig anzugreifen und vollständig zu zerstören.
In der vergangenen Woche behauptete ein Londoner Journalist, der schon wiederholt durch fragwürdige "Exklusivstorys" aus angeblich geheimdienstlichen Quellen hervorgetreten ist, die israelischen U-Boote seien im US-Stützpunkt Diego Garcia im Indischen Ozean mit atomar bestückten Harpoons beladen worden und stünden nun zum Angriff auf den Iran bereit.
Die Meldung der Los Angeles Times war sofort von Experten bestritten worden. Ted Hooton, Chefredakteur der Londoner Zeitschrift "Jane's Naval Weapon Systems" -eine der besten Militärquellen im NATO-Bereich - erklärte, ein Umbau der Harpoon zur Atomwaffe würde sich negativ auf die Zielgenauigkeit und die ohnehin geringe Reichweite der Rakete (um die 100 km) auswirken. Der ehemalige stellvertretende Verteidigungsminister Israels, Efraim Sneh, nannte einen solchen Umbau der Rakete gar "technisch einfach unmöglich". Die israelische Tageszeitung "Ha'aretz" berichtete, dass die Regierung Scharon in Washington die Gerüchte über eine nukleare Atomrüstung der von den Amerikanern gelieferten Harpoon offiziell dementiert habe.
Die Washington Times hatte die Gerüchte sofort als "Bluff" bezeichnet. Sie seien von israelischen Regierungsstellen nur in die Welt gesetzt worden, um die internationale Öffentlichkeit auf die angeblichen Gefahren des iranischen Atomprogramms aufmerksam zu machen.
Tatsächlich ist eine atomare Umrüstung der Harpoon äußerst unwahrscheinlich. Richtig ist hingegen offenbar, dass Israel seine drei in den neunziger Jahren von Deutschland gelieferten hochmodernen U-Boote als Träger für Nuklearwaffen nutzen will. Der frühere Kommandant der israelischen Marine, Generalmajor Avraham Botzer, hatte schon im Dezember 1990 erklärt, sein Land brauche U-Boote nicht nur, um feindliche Kriegsschiffe anzugreifen, sondern auch als Plattform für Waffensysteme, die der Abschreckung gegen einen Angriff mit nicht-konventionellen Waffen dienen sollen.
Von den zehn Torpedorohren der israelischen U-Boote haben vier einen größeren Durchmesser, um eventuell Cruise Missiles aufnehmen zu können. Israel arbeitet seit einigen Jahren an der Entwicklung einer geeigneten, nuklear bestückbaren Waffe. Vorgesehen ist dafür nach Expertenberichten eine von Israel entwickelte CM, die von den Amerikaner als Popeye Turbo bezeichnet wird. Ein erster Test soll nach offiziell nicht bestätigten Pressemeldungen im Mai 2000 im indischen Ozean stattgefunden worden, möglicherweise in Zusammenarbeit mit der indischen Marine. Die CM soll dabei eine Strecke von rund 1.500 km zurückgelegt haben. Das läge allerdings weit über der bisher vermuteten Reichweite der Popeye Turbo von 200-350 km.
Es gibt bisher keine Anzeichen, dass Israel die mit einer atomaren Bewaffnung seiner U-Boote verbundenen technischen Probleme schon gelöst hat. Grundsätzlich bewahren alle israelischen Stellen über sämtliche Aspekte der Atomrüstung absolutes Stillschweigen. Der israelische Militärtechniker Mordecai Vanunu, der im September 1986 der Londoner Zeitung Sunday Times umfangreiche Informationen übergab, weil er auf die Risiken des Atomprogramms aufmerksam machen wollte, wurde zu 18 Jahren Gefängnis verurteilt. Er wird voraussichtlich im nächsten Jahr aus der Haft entlassen.
Die Schätzungen über den Umfang des israelischen Atomarsenals gehen weit auseinander. Die meisten Vermutungen bewegen sich zwischen 100 und 200; maximale Angaben gehen bis zur Zahl 400.
Israel hat schon in den 50er Jahren, damals in erster Linie mit Hilfe Frankreichs, begonnen, an der Entwicklung eigener Atomwaffen zu arbeiten. Anfang 1968 ging der US-Geheimdienst CIA in einem Bericht erstmals davon aus, dass Israel die Entwicklung einer Atombombe gelungen sei. 1974 schätzte die CIA deren Zahl bereits auf 10 bis 20.
Ein Teil der israelischen Atomwaffen sind Bomben, die von Flugzeugen transportiert werden können. Auch eine unbekannte Anzahl von Raketen des Typs Jericho-1 und Jericho-2 (letztere vermutlich mit einer Reichweite bis zu 5.000 km) sollen mit Atomsprengköpfen bestückt sein.
Die frühere israelische Doktrin, dass die Atomwaffen nur dazu da seien, auf einen Angriff mit nicht-konventionellen Waffen zu reagieren, scheint inzwischen nicht mehr gültig zu sein. Auch in dieser Hinsicht setzt die israelische Regierung auf maximale Ungewissheit.
Knut Mellenthin
Neues Deutschland, 30. Oktober 2003