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Chronik des Holocaust

Empfehlung für den Besuch einer Baustelle im Internet

Von Kurt Pätzold

Baustellen sind gewöhnlich keine besonders einladenden Orte. Wer da nichts zu tun hat, meidet sie. Anders verhält es sich mit einer Arbeit, die vor wenigen Monaten ins Internet gestellt wurde und die der Autor selbst als "Baustelle" bezeichnete. Zu erreichen ist sie bequem und kostenfrei unter: holocaust-chronologie.de. Dort trifft der Benutzer auf eine Kette zeitlich geordneter Angaben zur Geschichte der deutsch-faschistischen Judenverfolgungen in den Jahren von 1933 bis 1945 und das in einem Umfang, der ähnlich Vorliegendes übertrifft und in Buchform etwa 400 Druckseiten ausmachen würde.

Wer sich angesichts der immer noch anschwellenden Flut vielsprachiger wissenschaftlicher Abhandlungen, prall gefüllt mit ungezählten Tatsachen-Informationen, an ein solches Unternehmen macht, muss auswählen - so er nicht scheitern will. Denn: Im Herrschafts- und Zugriffsgebiet der deutschen Machthaber, im sich seit 1935 ausdehnenden Reichsgebiet schon vor dem Krieg, folgte einer antijüdischen Aktion die nächste. Kein Tag, an dem Juden nicht diffamiert, bedrängt, von Arbeitsstellen entlassen oder dort hintangesetzt, aus Wohnungen und Schulen, aus Lokalen und Bädern, Kulturstätten und Parks gewiesen, aus Ortschaften oder außer Landes vertrieben, vor Gerichte gestellt, ihnen irgendetwas verboten wurde, sie beraubt und enteignet, zu Zwangsarbeit gezwungen, schließlich deportiert, ghettoisiert und ermordet wurden. Welche Ereignisse der zentralen staatlichen, der regionalen oder - wegen ihrer Bedeutung - gar lokalen Ebenen also aufnehmen? Auf welche verzichten?

Knut Mellenthin, der sich in dieses Abenteuer vor nahezu anderthalb Jahrzehnten gestürzt hat, begann mit der Erfassung von - im weitesten Sinne - Äußerungen der Judenverfolger an der Staatsspitze. Er erfasste Gesetze, Erlasse und Verordnungen, öffentliche und interne Reden Hitlers, Goebbels', Himmlers und weiterer führender Politiker, dazu Tagebuch-Aufzeichnungen. Er durchforstete die diplomatische Korrespondenz mit verbündeten Staaten, welche die Praxis der Judenverfolgungen kopierten, mitunter sich als Satelliten dazu gedrängt sahen. Er folgte den blutigen Spuren der Judenfeinde in die besetzten Gebiete, die Ghettos, die Konzentrations- und Vernichtungslager.

Hilfreich sind die allerdings nicht durchgängigen Verweise auf die Literatur, der die Angaben entnommen wurden. Dass sich darunter keine Veröffentlichungen aus Büchern befinden, die in DDR-Zeit entstanden, lässt den Eindruck entstehen, dass im ostdeutschen Staat auf diesem Felde nicht geforscht worden sei, weil unerwünscht. Und dieses Weglassen ostdeutscher Literatur hat Konsequenzen. Wer Suchbegriffe wie "Arisierungs"-Gewinne, Profiteure, Nutznießer und ähnliche eingibt, erhält Fehlmeldungen. Begriffe wie "Arisierung" und Enteignung tauchen 1937 bzw. 1938 das erste Mal auf. Die "Entjudung" von Aufsichtsräten und Vorständen von Bank- und industriellen Unternehmungen kommt nicht vor und Hjalmar Schacht viel zu gut weg. Der Autor ist noch bei der Arbeit. Das von ihm zugänglich gemachte Teilergebnis ist schwergewichtig und kann fraglos Nutzen schon stiften. Über die Eingabe von Suchbegriffen, für die eine Vorinformation natürlich benötigt wird, oder über das Anklicken von Jahreszahlen und Monaten gelangt man zu Mitteilungen über Ereignisse sowie häufig zu wörtlichen Zitaten aus Dokumenten. Eine noch höhere Stufe der Benutzbarkeit, die etwa die strategischen Linien der Judenverfolgung erkennen ließe, wäre durch Verweise von Datum zu Datum erreicht.

Es wäre eine Illusion zu glauben, dass sich eine derartige Datenfülle ohne Irrtum oder Fehler sammeln ließe. Bei der jetzigen Stufe des Entstehungsprozesses des Nachschlagewerkes schon einzelne Lücken einzuklagen, erübrigt sich. Einige Vorschläge für Richtungen der Weiterarbeit seien gegeben. Die eine betrifft die Entwicklung der wirtschaftlichen, beruflichen und sozialen Situation der in Deutschland zeitweilig oder bis zu ihrer Deportation verbliebenen Juden, also Informationen, welche die Folgen der Gesetze und Verordnungen anschaulich machen. Eine andere könnte die Geschichte der Emigration und der Fluchtbewegung bilden, etwa durch Zahlen über die Emigrierten binnen eines Jahres, aber wichtiger noch durch Erwähnung der Rolle emigrierter Juden im Ausland und deren Anteil an der Aufklärung über und am Kampf gegen das Naziregime. Eine dritte wäre die Reaktion der jüdischen Organisationen und Religionsgemeinden auf die Etablierung des Nazistaates und dessen Maßnahmen, die zum gegenwärtigen Stand beispielsweise 1933 nur marginal erwähnt werden.

Eine Chronologie ist keine Gesamtdarstellung. Sie dient knapper Information und erster Orientierung. Sie bildet gleichsam das Skelett. Wer den ganzen Köper aus Fleisch und Blut erfassen will, muss mehr aufwenden als einen raschen Blick. Zu fragen ist nach dem Warum des Geschehens, nach dem Interesse, das ein Gesetz hervorbrachte, eine Aktion auslöste usw. Sodann auch nach den Zielen, denen die jeweiligen Maßnahmen dienten. In einer kurzen, jedoch signalhaften Markierung von Motiven und Antrieben, Gründen und Ursachen, Nah- und Fernwirkungen läge die krönende Herausforderung des verdienstvollen Unternehmens.

Quelle: Neues Deutschland, 5.12.2006