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"The Missing Link"

Hintergründe der Umsturzpläne gegen Weißrussland

Im November 2002 fand im Washingtoner Konferenz-Zentrum des American Enterprise Institute (AEI) eine Tagung unter dem Motto "Belarus - the Missing Link" statt. Thema: Der Sturz des weißrussischen Präsidenten Alexander Lukaschenko, des "letzten Diktators Europas", wie die Tagungsteilnehmer ihn nannten. Die Einzelthemen der Tagung waren: "Belarus: Eine Menschenrechts-Katastrophe", "Belarus als Schurkenstaat" und "Belarus nach Lukaschenko".

Das AEI ist eine der neokonservativen Propaganda-Zentralen, die sich hinter der Bezeichnung "Think Tank" (deutsch meist mit "Denk-Fabrik" übersetzt) verstecken. Das Wort entstammt einer vergangenen Zeit und entspricht nicht der tatsächlichen Zielsetzung dieser Einrichtungen: Nachgedacht, analysiert, womöglich gar kontrovers diskutiert wird dort schon längst nicht mehr.

Unter den neokonservativen Zentralen dieser Art ist das AEI unbestritten und mit großem Abstand zum Rest des Feldes die wichtigste und regierungsnähste. Viele seiner "richtungsweisenden", "strategischen" Reden hat US-Präsident Bush in jenem Washingtoner Konferenz-Zentrum gehalten, das nach dem Urvater des Neokonservativismus, Albert Wohlstetter (1914-1997), benannt ist.

Ex-BND-Chef mischt mit

Mitveranstalter der Belarus-Tagung am 14. November 2002 waren unter anderem der Propaganda-Sender Radio Free Europe/Radio Liberty, das Freedom House, das National Endowment for Democracy (NED), das International Republican Institute (IRI) und die US-amerikanische Botschaft in Belarus. Freedom House ist fest in neokonservativer Hand und wirbt weltweit - soweit man nicht inzwischen klugerweise seine Büros geschlossen und seine Missionare hinausgeworfen hat - für den American Way of Life und die Weltherrschaft des US-Imperialismus. Das NED ist eine "überparteiliche" Einrichtung, die Gelder aus dem Staatshaushalt - beantragt sind 80 Millionen Dollar im Steuerjahr 2006 - bekommt, um sie direkt oder indirekt an pro-amerikanische "Oppositionelle" in aller Welt zu verteilen. Das IRI ist eine Organisation der Republikaner, die aus den Etatmitteln des NED finanziert wird und das Geld an rechtsgerichtete, pro-amerikanische Gruppen in Osteuropa, Russland, Lateinamerika u.a. weiterleitet. Die Demokratische Partei der USA hat eine vergleichbare, ebenfalls über das NED finanzierte Einrichtung, das National Democratic Institute (NDI), das es aber offenbar vorgezogen hatte, sich an der Belarus-Tagung nicht zu beteiligen.

Unter den Tagungsrednern war der deutsche Diplomat Hans-Georg Wieck, der in den Jahren 1985-90 unter Bundeskanzler Helmut Kohl etwas abseits seiner diplomatischen Laufbahn Chef des Bundesnachrichtendienstes gewesen war. 1993 tauchte er plötzlich für zwei Jahre in Georgien als persönlicher Berater von Präsident Eduard Schewardnadse auf. 1997 bis 2001 leitete Wieck die sogenannte Berater- und Beobachtergruppe der OSZE in Belarus. Lukaschenko nahm Anstoß daran, dass Wieck engste Kontakte zur belarussischen Opposition unterhielt und offenbar die anstehende Präsidentenwahl massiv zu beeinflussen versuchte. Der Streit endete damit, dass die OSZE vorübergehend Minsk verlassen musste. Wieck ist seither, in Zusammenarbeit mit der Bertelsmann-Stiftung, der rührigste und schärfste deutsche Propagandist für einen von EU und USA finanzierten und gesteuerten Umsturz in Belarus. Dass der muntere Rentner und frühere Spionagechef dies nur als persönliches Hobby betreibt, ohne mit maßgeblichen deutschen Kreisen in Verbindung zu stehen, ist zu bezweifeln.

Einkreisung Russlands soll geschlossen werden

Zurück zur Tagung der AEI im Jahre 2002 und ihrem Titel: "Belarus - the Missing Link". Zu Deutsch: das fehlende Verbindungsstück, das fehlende Kettenglied. Ein Blick auf die Landkarte zeigt, wie das wohl gemeint war: Ein vom Westen gesteuerter Systemwechsel in Belarus würde im Westen den Einkreisungsring der NATO um die russischen Grenzen schließen. Die Waffen und militärischen Beobachtungssysteme (Radar, Lauschanlagen usw.) der NATO würden noch näher an Moskau heranrücken. Umgekehrt würde Russland seine vorgeschobenen Beobachtungs- und Frühwarnsysteme in Belarus - im Westen die letzten außerhalb Russlands noch bestehenden - verlieren und wäre vollständig auf die eigenen Grenzen zurückgeworfen, die etwa denen beim Tod Peters des Großen (1725) entsprechen.

Darüber hinaus würde die feindliche Übernahme von Belarus durch die NATO den Abstand zwischen Russland und seinem vorgeschobenen "Außenposten", der Region Kaliningrad - der Nordteil des früheren Ostpreußen -, nicht nur räumlich vergrößern, sondern auch die Isolierung der Region verstärken. Aufgrund der Auflösung des Warschauer Pakts und der Unabhängigkeit der baltischen Republiken ist die Region Kaliningrad seit Anfang der 90er Jahre vom Rest Russlands abgeschnitten. Der Beitritt Polens und später auch der baltischen Republiken zur NATO hat die Situation noch weiter kompliziert. Die Versorgung der russischen Streitkräfte in Kaliningrad auf dem Landweg durch Litauen erfolgt auf Grund von provisorischen Absprachen, nicht von längerfristigen Verträgen, und ist letztlich vom "guten Willen" der Regierung in Vilnius und der NATO-Gremien abhängig. Russland hat deshalb die Versorgung bereits weitgehend, wenn auch nicht ausschließlich, auf die See- und Luftwege (über der Ostsee) umgestellt.

Isolierung Kaliningrads

Insofern würde ein Systemwechsel in Belarus die Versorgung von Kaliningrad rein materiell betrachtet vermutlich nur unwesentlich erschweren. Politisch-psychologisch würde aber die Isolierung der Region und der internationale Druck auf eine wesentliche Veränderung ihres Status enorm wachsen. Die baltischen Staaten fordern seit Jahren nicht nur eine totale "Entmilitarisierung" Kaliningrads, sondern auch ihre faktische Lostrennung von Russland. Die Region sei, so sagen sie, auch wenn man ihre Zugehörigkeit zu Russland vorerst akzeptieren müsse, eine Angelegenheit, die "ganz Europa" und darüber hinaus jetzt auch das "Sicherheitskonzept" der NATO angehe.

Die drei baltischen Regierungen traten in den 90er Jahren sogar mit der Forderung auf, Russland solle in der Region Kaliningrad die alten, also deutschen Ortsnamen wieder einführen. Da die baltischen Staaten an einer solchen "Reform" nicht das geringste eigene Interesse haben, muss man wohl auf deutsche, gut zahlende Inspiratoren tippen. Die Tatsache, dass Litauen selbst nicht daran denkt, seine Hafenstadt Klaipeda in Memel rückzubenennen, und dass die Forderung nicht auch an Warschau hinsichtlich der seit 1945 polnischen  südlichen Hälfte Ostpreußens gerichtet wurde, zeigt die rein antirussische Stoßrichtung der Initiative an. Was diese Art offen provokatorischer, aggressiv nationalistischer Politik gegen Russland angeht, ist festzustellen, dass sie durch die Mitgliedschaft der drei baltischen Staaten in der EU und der NATO eher gebremst und zivilisiert wird. Ihr hochbrisantes Potential bleibt dennoch erhalten.

Überlegungen, den Status der Region Kaliningrad zu verändern, können sich möglicherweise sogar auf örtliche Politiker und Unternehmerinteressen stützen. Angesichts der Perspektive, dass Russland wohl noch lange außerhalb der EU bleiben wird, gewinnen Hoffnungen auf einen Alleingang der Region an Bedeutung. Planspiele reichen von einer "Freihandelszone" mit Anschluss an eine baltisch-polnische "Euro-Region" über den Status einer autonomen Republik innerhalb Russlands bis zur völligen Unabhängigkeit als vierter baltischer Staat.

Historischer Größenwahn?

Da Belarus schon seit einigen Jahren die meisten westlichen Organisationen, die mit Propaganda und Schmiergeldern auf die weltweite Forcierung "demokratischer Revolutionen" aus sind, von seinem Territorium verbannt hat, konzentrieren sich deren Aktivitäten jetzt in anderen Ländern Osteuropas, vor allem in den Nachbarländern, also in Litauen, Polen und neuerdings auch in der Ukraine. Am intensivsten sind die Verbindungen der belarussischen "Opposition" nach Litauen, was nicht nur daran liegt, dass zwischen Minsk und Wilna bloß etwa anderthalb Autostunden Entfernung liegen.

Ein Blick in einen historischen Atlas zeigt, dass ganz Weißrussland jahrhundertelang von einer Union des Königsreichs Polens mit dem Großfürstentum Litauen beherrscht wurde, die auch den größten Teil der Ukraine einschloss. Es ist zu vermuten, dass das überspannte Interesse in Polen und weit mehr noch in Litauen an direkter Einmischung in die Geschicke von Belarus nicht nur von nachbarschaftlichen Erwägungen, sondern auch von kaum offen ausgesprochenem geschichtlichem Größenwahn geleitet wird. Fast die Hälfte des heutigen Belarus war bis 1939 von Polen okkupiert. Es wird jedoch im Westen oft verkannt, dass dieser historische Hintergrund für die Umsturzpläne gegen Lukaschenko keinerlei Vorteil, sondern eine erhebliche Belastung darstellt. Die große Mehrheit der Belarussen sehnt sich nach keinerlei Form von Fremdbestimmung.

US-Gesetz lag drei Jahre auf Eis

Am 20. Oktober 2004 unterzeichnete Präsident George W. Bush den Belarus Democracy Act of 2004. Das dadurch in Kraft getretene Gesetz soll, wie es im Text heißt, "das Volk von Belarus bei der Wiedergewinnung seiner Freiheit unterstützen und es in die Lage versetzen, sich der Gemeinschaft europäischer Demokratien anzuschließen".  "In einem ganzen, freien Europa ist für ein Regime dieser Art kein Platz", erklärte Bush zur Unterzeichnung des Gesetzes.

Der Belarus Democracy Act of 2004 war zuvor am 4. Oktober im Repräsentantenhaus und am 6. Oktober im Senat jeweils einstimmig angenommen worden, was nur selten vorkommt. Bush hatte mit der Unterzeichnung des Gesetzes bis nach dem 17. Oktober gewartet: An diesem Tag wurde in Belarus ein neues Parlament gewählt. Gleichzeitig fand ein Referendum statt, um dem seit 1996 mit weitgehenden Vollmachten regierenden Präsidenten Lukaschenko die Kandidatur für eine dritte Amtszeit zu ermöglichen. Die nächste Präsidentenwahl steht im September 2006 an.

Ein Belarus Democracy Act war erstmals im Jahr 2001, kurz nachdem Lukaschenko zum zweiten Mal zum Präsidenten gewählt worden war, in den Senat eingebracht worden. Initiator war der legendäre republikanische Senator Jesse Helms, ein Fossil des kalten Krieges, fanatisch antikommunistisch in der Außenpolitik und stockreaktionär in der Innenpolitik. Der Belarus Democracy Act of 2001 kam über den zuständigen Senatsausschuss nicht hinaus.

Nach den Regeln des US-Kongresses muss ein Gesetz in jedem Kalenderjahr neu eingebracht werden, um weiter behandelt zu werden. So gab es auch 2002 und 2003 Anträge für einen Belarus Democracy Act, die ebenfalls blockiert wurden.

Das wesentliche Hindernis für eine frühere Verabschiedung des Gesetzes hatte nicht in den beiden Häusern des Kongresses, sondern bei Präsident Bush gelegen. Auf dessen hinhaltenden Widerstand gegen das Gesetz hatten die maßgeblichen Abgeordneten und Senatoren der Republikaner Rücksicht genommen. Bush ist, so seltsam es auf den ersten Blick scheinen mag, bisher immer noch die wirkungsvollste Bremse gegen starke Tendenzen in beiden Häusern des Kongresses, und zwar quer durch beide großen Parteien, auf Konfrontationskurs gegen Russland zu gehen und mögliche Konflikte mit Moskau nicht etwa abzuschwächen, sondern bewusst zu verschärfen. Und der Belarus Democracy Act, mit seiner erklärten Unterstützung für die belarussische Opposition und für eine außenpolitische Isolierung der Minsker Regierung, enthält offenkundig Konfliktstoff auch für das amerikanisch-russische Verhältnis.

Gesetze dieses Typs ein paar Jahre im Kongress schmoren zu lassen, bevor der Präsident sie unterzeichnet, ist darüber hinaus ein klassisches Instrument amerikanischer Außenpolitik. So ein Gesetzentwurf stellt einen Joker im Ärmel des Präsidenten dar, um eine Regierung - wie etwa auch die syrische - unter Druck zu setzen. Eine der Gegenseite bekannte Reserve also. Oft ist mit der formalen Unterzeichnung des Gesetzes durch den Präsidenten dieses Drohpotential bereits ausgereizt.

Inhalte abgeschwächt

Der Belarus Democracy Act of 2004 wurde in wesentlichen Punkten gegenüber seinen Vorgängern der Jahre 2001 bis 2003 abgeschwächt. Auch das gehört zum klassischen Instrumentarium.

Die früheren Entwürfe sahen vor, die US-Regierung zur Ausgabe von jeweils 20 Millionen Dollar in den nächsten zwei Steuerjahren zur Unterstützung der Opposition gegen  Lukaschenko zu autorisieren. Die Regierung sollte darüber hinaus ermächtigt werden, in jedem der kommenden Steuerjahre 5 Millionen für Propagandasendungen von Voice of America und Radio Free Europe/Radio Liberty speziell nach Belarus auszugeben.

Die im vergangenen Jahr in Kraft getretene Version des Gesetzes nennt keine konkreten Beträge mehr. Die für das Steuerjahr 2006 beantragte Summe, 7 Millionen Dollar, bleibt hinter den früheren Vorstellungen weit zurück. Sie liegt zwar etwas über dem Steuerjahr 2005 (6,5 Millionen), aber unter den Ausgaben im Steuerjahr 2004 ( 8,055 Millionen). Im Jahr 2001 hatte die Summe noch bei rund 10 Millionen Dollar gelegen, und es war davon ausgegangen worden, dass sie kontinuierlich ansteigen würde.

Eine weitere Abschwächung des Belarus Democracy Act of 2004 gegenüber den früheren Entwürfen betrifft die angedrohten Sanktionen. In der jetzigen Fassung wird die Vergabe von Krediten, Kreditgarantien, Bürgerschaften und anderen Finanzhilfen - mit Ausnahme "humanitärer" Güter sowie landwirtschaftlicher und medizinischer Produkte - an Belarus verboten. Die US-Regierung wird darüber hinaus aufgefordert, sich in allen internationalen Finanzinstitutionen (Weltbank, IMF usw.) gegen Kredite an Belarus einzusetzen.

Zusätzlich war in den früheren Fassungen gefordert waren, keine Computer, Software oder ähnliche Technologie an Belarus zu liefern. Ausgenommen sein sollten nur "humanitäre" und "demokratiefördernde" Zwecke. Mit letzterem war die Versorgung oppositioneller Gruppen mit PCs gemeint.

Die früheren Fassungen des Gesetzes sahen außerdem vor, allen belarussischen  Regierungsmitgliedern sowie deren Ehefrauen und minderjährigen Kindern die Einreise in die USA zu verweigern.

Das ist in der in Kraft getretenen Fassung ebenso weggefallen wie die Aufforderung an die russische Regierung, "ihren Einfluss zu nutzen, um eine demokratische Entwicklung in Belarus zu ermutigen, damit Belarus ein demokratischer, wirtschaftlich gesunder, souveräner und unabhängiger, in Europa integrierter Staat werden kann".

Die Streichung dieses Punktes entspricht der schon angesprochenen Tendenz der Bush-Regierung, in der jetzigen Situation und bis auf weiteres mit den amerikanisch-russischen Beziehungen vorsichtiger umzugehen als es vielen Kongresspolitikern und Lobbyisten wünschenswert erscheint. Oberflächlich betrachtet könnte es so erscheinen, als wäre George W. Bush der beste und vielleicht sogar einzige Freund, den Russlands Regierung in Washington hat. Tatsächlich dürfte es sich dabei jedoch zu großen Teilen auch um ein Spiel mit verteilten Rollen handeln, und Russland wäre, ob es nun Belarus oder irgendein anderes internationales Thema angeht, schlecht beraten, sich ausgerechnet auf diesen Freund zu verlassen.

Knut Mellenthin

Junge Welt, 15. Juli 2005