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Naturschutz gegen Tierschutz?
Ein gutes hat die Sache jedenfalls: Viele Menschen wissen jetzt zum ersten Mal, was ein Wachtelkönig ist. Der knapp 30 cm große Vogel liebt Moorgebiete. Weil er Kälte nicht mag, zieht er sich im Herbst ins sonnige Afrika zurück.
Der Bestand dieser äußerst scheuen Tierart gilt weltweit als gefährdet. In ganz Deutschland kommt er nur noch an zwanzig Plätzen vor. Darunter befindet sich ein 150 Hektar großes Sumpfwiesen-Gebiet in Harburg-Neugraben. Ausgerechnet hier soll eine Neubausiedlung für rund 10.000 Menschen entstehen. Naturschützer lehnen das Projekt entschieden ab, weil es ein weiteres Naturgebiet im Nahbereich Hamburgs unwiderbringlich zerstören würde.
Jetzt gehen die Wogen des politischen Streits hoch. "Diese Wachtel stoppt Wohnungen für 10.000 Hamburger", schrieb eine Morgenzeitung, und eine andere schimpfte auf den "Wohnungskiller von Neugraben". "Wie weit darf Umweltschutz gehen?", fragte ein Sonntagsblatt. Politiker fordern bereits, das Bundesnaturschutzgesetz müsse geändert werden, "damit klargestellt wird, daß notwendige Baumaßnahmen durchgeführt werden können". - Aber wer, bitte sehr, definiert, was notwendig ist, und warum ausgerechnet in Naturschutzgebieten gebaut werden muß?
Das Problem, um das es in Neugraben geht, wird leider zum Teil sehr tendenziös ins Lächerliche gezogen. Eigentlich habe dort noch niemand einen Wachtelkönig gesehen; nur gehört worden sei er dort gelegentlich, und selbst das bloß in der Nacht. Oberbaudirektor Kossak argumentiert allen Ernstes damit, der Vogel sei ja sowieso nur von Mitte Mai bis Anfang August in Neugraben. Wenn man diese Überlegung weiter denkt, läuft sie darauf hinaus, daß der Schutz von Zugvögeln zweitrangig ist, weil sie sowieso wieder weg fliegen.
Tatsächlich geht es aber nicht bloß um einige Exemplare der Gattung Wachtelkönig, sondern um den Schutz des Neugrabener Niedermoor-Gebiets insgesamt, das einer Vielzahl von Tieren und Pflanzen eine Heimat bietet. Der Wachtelkönig ist die juristische Trumpfkarte der Naturschützer. Denn für ihn gibt es Schutzbestimmungen der Europäischen Union. Diese Bestimmungen gelten für alle EU-Staaten gleichermaßen - auch wenn das im konkreten Fall unbequem, ärgerlich und teuer sein mag. In Österreich beispielsweise durfte eine Bundesstraße nicht gebaut werden, weil sie durch ein Gebiet geführt hätte, in dem der Wachtelkönig lebt. In Großbritannien wurde eine Hafenerweiterung gestoppt, weil sie zur Beschneidung eines Vogelsschutzgebietes geführt hätte.
Naturschutz fällt uns immer dort am leichtesten, wo nicht wir selbst, sondern andere von den Folgen betroffen sind. Die Zerstörung des tropischen Regenwaldes in Brasilien oder Zentralafrika beispielsweise ist ein sehr bequemes Thema, wo wir über die Unvernunft der dortigen Regierungen und Bewohner leicht den Kopf schütteln können. Auch die Empörung über die Gefährdung seltener Tierarten in Asien kostet uns nichts. Problematisch wird erst der Naturschutz vor der eigenen Haustür.
Ja, selbstverständlich ist es eine auf den ersten Blick unverhältnismäßig große Ausgabe, wenn beispielsweise 70 Millionen Mark aufgewendet werden müssen, um einige vom Aussterben bedrohte Großtrappen an der ICE-Strecke Hannover-Berlin zu schützen. Aber wohin würde es wohl weitweit mit dem Tier- und Naturschutz kommen, wenn ausgerechnet eines der immer noch reichsten Länder der Erde sich vor seiner Verantwortung drücken würde?
Hamburgs Umweltsenator Fritz Vahrenholt meint nun offenbar, den Stein der Weisen gefunden zu haben: Die Neubausiedlung könnte gebaut werden, meint er, wenn man im Bebauungsplan festlegen würde, daß den Menschen, die dort hinziehen wollen, die Hunde-und Katzenhaltung verboten wird.
Die Idee scheint bewußt darauf angelegt, Haustierfreunde und Naturschützer gegeneinander aufzubringen und auszuspielen. Sicher ärgern sich Naturschützer oft über die Gedankenlosigkeit und manchmal auch brutale Rücksichtslosigkeit von Hundebesitzern, die ihren ungestümen Liebling ohne Leine nach Herzenslust durch ein Gebiet toben lassen, in dem beispielsweise Wasservögel ihre Bodennester gebaut haben. Andererseits werden Hunde- und Katzenhalter sich nun vielleicht über die "spinnerten" Vogelschützer aufregen, die wegen ein paar Sumpfhühnern so ein Theater machen.
Wir sollten nicht in diese Falle gehen. Die Idee des Senators ist schlecht sowohl für den Naturschutz wie auch für den Tierschutz im Sinne der Partnerschaft mit Hund oder Katze. Ökologen warnen, daß das Neugrabener Moorgebiet durch die Neubauten schwer geschädigt werden würde, und der Wachtelkönig würde wahrscheinlich angesichts von Straßenlärm, Abgasen, erheblichen Einschnitten in seinen Lebensraum usw. entsetzt das Weite suchen.
Schlecht aber auch für die Menschen, die dort einmal wohnen sollen. Nicht wenige Politiker warnen jetzt schon, daß dort ein "Wohnghetto" für ärmere Bevölkerungsschichten, ein "sozialer Konfliktherd" entstehen wird. Stellen wir uns nun aber auch noch vor, daß alle Kinder und Jugendlichen dort kategorisch ohne Hund oder Katze aufwachsen sollen. Das wäre ein beispielloses Experiment, dessen Folgen so klar auf der Hand liegen, daß schon der bloße Gedanke daran verantwortungslos ist.
Knut Mellenthin
ich & du, Nr. 3/96