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Schweine-Massenhaltung

Ein Leben lang in der vollbesetzten U-Bahn?

54 Kilo Schweinefleisch verspeist durchschnittlich jeder Deutsche im Lauf eines Jahres. Damit das Fleisch schön billig bleibt und wir davon viel mehr essen können, als für unsere Gesundheit gut ist, werden Tiere auf engstem Raum in einer Weise gehalten, die den Tierschutz verhöhnt. Aber die Verbraucher hätten es in der Hand, Fleisch aus quälerischer Massenhaltung zu meiden und damit für eine Umorientierung der Schweinezüchter zu sorgen.

Würden Sie gern Ihr ganzes Leben in einer U-Bahn im Berufsverkehr verbringen, immer in Tuchfühlung mit Ihren Mitmenschen, in stickiger, übel riechender  Luft, ohne Möglichkeit, wenigstens ein WC aufzusuchen? Oder lieber eingesperrt in einen engen Raum, in dem Sie sich gerade mal niederlegen oder um die eigene Achse drehen können?

Nein, selbstverständlich, so will und soll kein Mensch leben. So sollten aber auch unsere Mitgeschöpfe nicht leben müssen. Dazu heißt es im Tierschutzgesetz, § 2: Wer Tiere hält, muß sie "verhaltensgerecht unterbringen". Er "darf die Möglichkeit des Tieres zu artgemäßer Bewegung nicht so einschränken, daß ihm Schmerzen oder vermeidbare Leiden oder Schäden zugefügt werden."

Diese Formulierungen sind in den konkreten Schlußfolgerungen unterschiedlich ausdeutbar, in ihrer Intention aber ganz gewiß eindeutig: Es gibt überhaupt kein Tier, das sich "artgemäß" bewegen kann, wenn ihm dafür nur eine Fläche zur Verfügung steht, die kaum das eigene Körpervolumen übersteigt. Sich bewegen zu können und zu wollen, eine veränderliche Umwelt sinnlich zu erfahren, das sind Grundbedürfnisse aller tierischen Lebewesen.

Würde beispielsweise ein Privatmensch in seiner Wohnung ein Huhn in einem Schuhkarton eingesperrt halten, so würde man ihm höchstwahrscheinlich, und ganz zu recht, das Tier wegnehmen, falls Nachbarn diese Quälerei anzeigen. Außerdem würde man ihn wohl für geistesschwach oder sadistisch halten. Wer aber als Geschäftsmann zigtausende Hühner so behandelt, hat die Gesetzgebung auf seiner Seite. Sobald wirtschaftliche Interessen ins Spiel kommen, dürfen wesentliche Grundsätze des Tierschutzgesetzes mit Füßen getreten werden.

Beispiel Schweine: Vom Wildschwein abstammend, handelt es sich eigentlich um bewegungsaktive, überdies auch höchst intelligente und sensible Tiere. Wie seine Vorfahren herumzulaufen, selbst nach Nahrung zu suchen und sie mit dem Rüssel aus dem Boden zu graben, gehört eigentlich auch beim Hausschwein zur natürlichen Lebensfreude. Erinnern wir uns, daß in manchen alten Märchen noch der Berufsstand des Schweinehirten vorkommt: Bis ins vorige Jahrhundert hinein wurden Schweine fast ausschließlich tatsächlich "artgemäß", nämlich als Herden- und Weidetiere gehalten. Da die meisten Familien nur ein einziges oder wenige Schweine besaßen, waren sie - ohne sich ausdrücklich mit Tierschutz im heutigen Sinn zu beschäftigen - von selbst daran interessiert, ihre Tiere pfleglich zu behandeln.

Vom Schweinehirten zum Großbetrieb

Erst mit dem Beginn und Voranschreiten der Industrialisierung im 19. Jahrhundert begann der allmähliche Übergang zur Massentierhaltung. Dafür waren unter anderem ausschlaggebend:

  • Aufgrund verbesserter gesundheitlicher Verhältnisse und schnell wachsender Produktion nahm die Bevölkerung sprunghaft zu. Das hatte einen steigenden Bedarf an möglichst billigen Nahrungsmitteln zur Folge.
  • Der Bevölkerungsanteil, der sich ganz oder im Wesentlichen selbst mit landwirtschaftlichen Produkten versorgen konnte, sank parallel zur Verstädterung und Industrialisierung ab. (In Deutschland ging zwischen 1800 und 1900 der Anteil der landwirtschaftlichen Bevölkerung von über 80 Prozent auf weniger als 30 Prozent zurück; heute sind es unter fünf Prozent.)
  • Die Notwendigkeit einer immer intensiveren Bewirtschaftung der Agrarflächen sowie die Ausdehnung der Städte und sonstigen Wohngebiete führten zu einem Rückgang der beweidbaren Flächen.
  • Das Entstehen einer profitorientierten Konkurrenzwirtschaft rückte das Ziel in den Vordergrund, möglichst viel Fleisch in möglichst kurzer Zeit mit möglichst geringem Arbeitsaufwand zu produzieren. Hierfür lieferte der gleichzeitige Einzug wissenschaftlicher Methoden auch in die Landwirtschaft die notwendigen Instrumente. Das Entstehen eines Weltmarktes für Futtermittel und die Entwicklung der Transportmittel ermöglichten die notwendigen billigen Importe als Voraussetzung einer Massentierhaltung.

Der Bestand an Schweinen wuchs in Deutschland von etwa 3,8 Millionen um 1800 auf  25 Millionen zu Anfang dieses Jahrhunderts an. Während die landwirtschaftliche Nutzfläche insgesamt ungefähr gleich groß blieb, versechsfachte sich die Zahl der darauf gehaltenen Schweine.

Aufgrund der hohen Fruchtbarkeit der Schweine, und weil sie besonders schnell zur "Schlachtreife" gemästet werden können, konnte und kann Schweinefleisch deutlich billiger produziert werden als das Fleisch der meisten anderen Nutztiere. Es wird daher von den Verbrauchern eindeutig bevorzugt: Rund zwei Drittel des insgesamt in Deutschland verzehrten Fleisches (samt Fleischprodukten wie Wurst) kommen derzeit vom Schwein. Pro Kopf der Bevölkerung wird heute etwa zehnmal soviel Schweinefleisch produziert und gegessen wie um 1800, und immerhin etwa doppelt soviel wie um 1900 oder um 1950, in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg.

Ende 1994 lag der Schweinebestand in Deutschland bei knapp 25 Millionen. Damit hat sich diese Zahl seit dem Anschluß der Ex-DDR 1990 um über neun Millionen, annähernd 30 Prozent, verringert, und zwar fast ausschließlich auf Kosten der relativ übergroßen Schweinehaltung in den neuen Bundesländern. Der deutsche Pro-Kopf-Verbrauch an Schweinefleisch ist, auch wenn man die gestiegenen Importe vor allem aus den Niederlanden und Belgien berücksichtigt, leicht rückläufig. Er ist jedoch mit rund 54 Kilo jährlich immer noch sehr hoch, vermutlich sogar Weltspitze. (Im Durchschnitt der Europäischen Union liegt er etwas über 41 Kilo.)

Eine Begleiterscheinung und zugleich Voraussetzung der Massentierhaltung ist die ständige Konzentration der Halterbetriebe. Die Zahl der schweinehaltenden Betriebe ist allein von 1984 bis heute um etwa 50 Prozent gesunken. Zugleich hat sich der durchschnittliche Bestand pro Betrieb auf 98 Schweine erhöht. Ende der 70er Jahre waren es nur 35 Tiere gewesen. Der Trend geht, was diese Durchschnittszahlen eher verbergen, unverkennbar zum Mega-Betrieb mit mehreren hundert Schweinen. In einigen anderen EU-Ländern ist diese Entwicklung bereits noch weiter fortgeschritten.

Der Tierschutz bleibt auf der Strecke

Die heutige Massentierhaltung sichert den Verbrauchern gleichbleibend relativ niedrige Feischpreise. Das wird "erkauft" auf Kosten der Tiere durch Unterbringung auf engstem Raum und andere total art-ungemäße Lebensbedingungen (z.B. ständiges Kunstlicht, Einzelhaltung, Betonböden). Die Tiere werden zu apathischen Fleisch-Automaten degradiert - nur mit dem Unterschied, daß kein Unternehmer mit Automaten so verantwortungslos umgehen würde, weil ihr Marktwert viel höher ist als der eines Tieres.

Das führt nicht nur dazu, daß die Tiere verblöden und ihre geistige Energie primär auf die Nahrungsaufnahme verlagern. Hinzu kommt eine hohe Anfälligkeit für körperliche und seelische Erkrankungen. Als Reaktion werden den gequälten Kreaturen alle möglichen Medikamente, von Antibiotika bis Psychopharmaka, verabreicht, die wir dann beim Fleischverzehr mit aufnehmen.

Der "Genuß" von Fleisch aus Massenhaltung ist also, neben allen ethischen Bedenken, über die man geteilter Meinung sein könnte, zweifelsfrei nicht gerade gesund. Untersuchungen haben außerdem ergeben, daß in der Umgebung von Massentierhaltungen die Umweltbelastungen und die Allergie-Anfälligkeit, besonders bei Kindern, steigen. Und ein weiteres Problem: Wohin mit den immer größeren Mengen an Gülle, Schweinemist?! Nach Schätzung der Naturschutzorganisation BUND entstehen bei der Produktion eines Kilos Schweinefleisch 15 Kilo Gülle - insgesamt im Jahr in Deutschland rund 66 Millionen Tonnen Gülle. Ihre Unterbringung und Entsorgung wird immer mehr zu einer "Zeitbombe"; langsam versickert die Gülle ins Grund- und Trinkwasser.

Auch im Interesse des Überlebens der Menschheit werden wir uns den übermäßigen Fleischkonsum abgewöhnen müssen: Der Nährwert des Futters, das in der Tiermassenhaltung verbraucht wird, ist höher als der Nährwertes des dabei produzierten Fleisches. Langfristig werden wir uns, damit alle Menschen dieser Erde satt werden können, darauf einstellen müssen, mehr pflanzliche Kost zu verzehren und Fleisch wirklich nur noch als "Zukost" anzusehen, wie es die Menschen früherer Zeiten auch schon getan haben.

Seit 1994 gilt eine neue "Verordnung zum Schutz von Schweinen bei Stallhaltung". Sie könnte mittelfristig einige der allerschlimmsten Mißstände beseitigen, ist aber insgesamt unter Tierschutz-Gesichtspunkten unzureichend. Immerhin, die Anbindehaltung, bei der Tiere in ihren viel zu engen Boxen nahezu bis zur Unbeweglichkeit fixiert werden und schwere körperliche Schädigungen erleiden, soll nun verboten sein. Allerdings gilt das für alle derzeit schon bestehenden Ställe erst ab dem Jahr 2005. Als "Übergangsregelung" für die nächsten zehn Jahre darf also selbst die extreme Form der Quälerei noch weiter praktiziert werden. Mit welchem Recht, fragt man sich, da doch offensichtlich auch der Gesetzgeber davon ausgeht, daß diese Haltungsform nicht länger vertretbar ist.

Immerhin, erwachsenen Zuchtebern wird jetzt eine Bucht von mindestens 6 Quadratmetern zugebilligt - aber vielleicht eher aus dem Interesse der Besitzer an diesen wertvollen Tieren. Für die übrigen jedenfalls gelten sehr viel kleinere Vorgaben: Beispielsweise für Schweine bis 85 Kilo jeweils ein halber Quadratmeter, ein ganzer bis 150 Kilo, und für Schweine mit noch höherem Gewicht anderthalb Quadratmeter. Gegenüber den alten Werten (Schweinehaltungsverordnung von 1988) sind das nur geringfügige Verbesserungen.

Außerdem  ist es nach wie vor erlaubt, Schweine einzeln in enge Kästen zu sperren. Diese Käfige müssen nur gerade so groß sein, daß ein Schwein sich darin aufrichten oder hinlegen kann. Neu ist lediglich die Vorschrift, daß einzeln gehaltene Schweine "Sichtkontakt" zu ihren Artgenossen haben sollen.

Von "artgemäßen" Bewegungsmöglichkeiten für die Tiere bleiben auch die neuen Bestimmungen weit entfernt. Der Grund ist einfach: Offensichtliche Tierquälerei wird von Staats wegen toleriert, weil die heute praktizierte Form der Massenhaltung den wirtschaftlichen Interessen der Produzenten an maximaler Effektivität und Höchstgewinnen entspricht. Zugleich ergibt sie sich aus der Forderung der Verbraucher nach möglichst billigem Fleisch. Man kann Schweine auch artgemäßer halten, wie es bereits einige Landwirte tun, aber das bedeutet erheblich höhere Selbstkosten und zwangsläufig auch entsprechend höhere Preise.

Also: Nicht nur das Profitinteresse der Produzenten, sondern  auch die Macht der Gewohnheit auf Seiten der Verbraucher führt zur Fortsetzung der quälerischen Massenhaltung. Die Verbraucher hätten es in der Hand, durch eine veränderte Zusammensetzung ihrer Ernährung den Markt zu beeinflussen: Indem sie insgesamt deutlich weniger Fleisch verzehren und Produkte aus Massenhaltung zu meiden versuchen. Weniger, jedoch hochwertigeres Fleisch zu essen und dafür verhältnismäßig einen höheren Preis zu zahlen, bedeutet durchaus kein schweres Unglück: Daß man beispielsweise für ein Kilo schöne Scampi über 50 Mark bezahlt und sie sich entsprechend selten leistet, treibt wohl auch keinem Verbraucher das Wasser in die Augen.

Der Fleischkonsum in heutiger Höhe entspricht in erster Linie vordergründigem Wohlstandsdenken: Wer sich möglichst viel Fleisch in jedweder Form "leistet", bestätigt sich selbst, daß es ihm gut geht. Gesund ist das nicht, zumal angesichts der unabsehbaren Risiken, mit denen Fleisch aus Massenhaltung belastet ist. Die Einsicht, daß man sich damit selbst nichts Gutes tut, wird für die meisten Menschen wahrscheinlich ein wichtigerer Grund für eine Verhaltensänderung sein als das Mitleid mit den geschundenen Tieren. Die Aufklärung der Verbraucher sollte also diesen Aspekt in den Vordergrund rücken, ohne die ethische Argumentation beiseite zu lassen.

Knut Mellenthin

ich & du, Nr. 4/95