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Übergangsregierung in Zeitnot

Der von der „internationalen Gemeinschaft“ diktierte Terminkalender setzt Somalia unter Druck. Neue Verfassung soll ohne Diskussion verabschiedet werden.

In der somalischen Hauptstadt Mogadischu tagt seit vorigem Mittwoch die sogenannte Verfassungsgebende Versammlung, nachdem deren Beginn mehrmals verschoben worden war. Entsprechend groß ist der Zeitdruck: Bis Ende dieser Woche soll das aus 825 Personen bestehende Gremium – darunter angeblich mindestens 30 Prozent Frauen – nicht nur den Entwurf einer neuen Verfassung verabschieden, sondern auch noch die Zusammensetzung eines neuen Parlaments bestimmen. Dessen 275 Abgeordnete sollen anschließend entscheiden, wer der nächste Präsident des Landes wird. Das Ergebnis muss bis zum 20. August feststehen, auf gar keinen Fall auch nur einen Tag später. Denn dann soll nach dem von der „internationalen Gemeinschaft“ diktierten strengen Zeitplan die Übergangsperiode enden, die vor acht Jahren mit einer Konferenz in Kenia begann. Falls der Termin nicht exakt eingehalten wird, droht Geld- und Liebesentzug.

Ob sich durch diesen „Einschnitt“, der eigentlich nur auf dem Kalender stattfindet, in Somalia irgendetwas ändert, wann die somalische Bevölkerung erstmals eine repräsentative Regierung wählen kann – optimistische Schätzungen sprechen von 2016 - und nach welchen Kriterien die Verfassungsgebende Versammlung zusammengeschoben wurde, scheint aus Sicht der „internationalen Gemeinschaft“ noch nicht einmal von zweitrangigem Interesse zu sein. Dass ausgerechnet in diesen Tagen UN-Berichte bekannt wurden, die die derzeitige somalische Führung, die höchstwahrscheinlich auch nach dem 20. August im Amt bleiben wird, als korrupt und kriminell kennzeichnen, ist nur ein ärgerlicher Regiefehler, der von der „internationalen Gemeinschaft“ ignoriert wird. Hauptsache, der Termin – in den Worten des UN-Beauftragten Augustine Mahiga „der bedeutendste Moment in der Geschichte Somalias“ - kann gehalten werden. 

Die 825 Mitglieder der Verfassungsgebenden Versammlung wurden von einem 135 Personen zählenden, neu geschaffenen Gremium namens „Traditionelle Älteste“ zusammengestellt, das auf undefinierbaren Wegen zustande kam. Angeblich sollten diese „die ganze Breite der somalischen Gesellschaft repräsentieren“. Das kann freilich schon deshalb nicht stimmen, weil immer noch etwa ein Drittel Somalias von der islamistischen Al-Schabab kontrolliert wird. Andere Landesteile werden von äthiopischen oder kenianischen Besatzungstruppen beherrscht, die nicht einmal davor zurückschrecken, hochrangige Regierungsbeamte zu verhaften, wenn ihnen diese nicht genehm sind. Überdies sollen sich einige Unterclans geweigert haben, Vertreter zu den „Traditionellen Ältesten“ zu senden, weil sie mit der gesamten Vorgehensweise und der neuen Verfassung nicht einverstanden sind.

Nach einem früheren Zeitplan hätte die Verfassungsgebende Versammlung eigentlich schon am 12. Juli eröffnet und am 20. Juli beendet werden sollen. Am selben Tag hätte das neue Parlament zusammentreten und am 4. August seinen Sprecher wählen sollen. Laut somalischen Medienberichten wird die Versammlung über den von der Regierung vorgelegten Verfassungsentwurf nicht diskutieren, sondern nur mit Ja oder Nein abstimmen. Die Verfassung gilt offiziell nur als „vorläufig“. Irgendwann in ferner Zukunft – angeblich frühestens in sieben Jahren - soll die Bevölkerung darüber in einem Referendum entscheiden können. Bis dahin muss sie sich mit einem Umfrageergebnis des US-Propagandasenders Voice of America begnügen, wonach 78 Prozent mit der – im Land bisher kaum bekannten - neuen Verfassung einverstanden sind.

Knut Mellenthin

Junge Welt, 30. Juli 2012