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Der Kongress tanzt

Riesenkluft zwischen Pseudo-Aktivitäten der „internationalen Gemeinschaft“ und politisch-sozialer Realität in Somalia.

Zwischen zwei und drei Millionen Somalis leben seit Jahrzehnten in extremen Notsituationen. Aber internationale Aufmerksamkeit ganz großen Stils bleibt ihrem Land gewiss. Vertreter aus 57 Ländern – das sind rund 30 Prozent aller Mitgliedstaaten der Vereinten Nationen – hatten sich zur Somalia-Konferenz einfliegen lassen, die am Donnerstag und Freitag voriger Woche im türkischen Istanbul stattfand.

Konkrete Beschlüsse standen von vornherein nicht auf der Tagesordnung. Das Abschlusskommunique ist trotzdem sechs Seiten lang und umfasst 40 Einzelpunkte, die überwiegend aus hohlen Phrasen bestehen. Das mit Abstand wichtigste Ergebnis ist die Vereinbarung, sich am 2. und 3. Juli zu einer Fortsetzung der Schaumschlägerei in Rom zu treffen.

Bei einem solchen Auflauf von Teilnehmern aus aller Welt fiel nicht weiter auf, dass mit Puntland und Galmudug zwei de facto selbstständige Bestandteile Somalias den Gastgebern kurzfristig eine Absage erteilt hatten. In einer gemeinsamen Stellungnahme kritisierten sie , dass die Konferenz „kein selbstbestimmter somalischer Prozess“ sei, dass „Zweck und Tagesordnung“ des Treffens „unklar“ seien, und dass frühere Beschlüsse missachtet würden.

Hauptsächlich hatten die Führer der beiden autonomen Staatswesen sich offenbar über eine von der türkischen Regierung einberufene einwöchige „Vorkonferenz“ geärgert, die angeblich „die somalische Zivilgesellschaft“ darstellen sollte, aber von kaum jemand als auch nur halbwegs repräsentativ angesehen wurde. Auch die in Mogadischu residierende sogenannte Übergangsregierung (TFG) und die anti-islamistische Bewegung Ahlu Sunna, die erhebliche Teile Zentralsomalias kontrolliert und eng mit dem benachbarten Äthiopien kooperiert, äußerten in scharfer Form ihre Unzufriedenheit mit der Zusammensetzung und Tagesordnung dieser „Vorkonferenz“.

Somalische Medien meldeten sogar, dass korrupte Beamte der TFG an über 60 interessierte Personen Einladungen zu diesem obskuren Treffen für bis zu 10.000 Dollar verkauft hätten. Gleichzeitig wurde ein Bericht der Weltbank bekannt, dem zufolge in den Jahren 2009 und 2010 rund 130 Millionen Dollar, die die TFG von ausländischen Geldgebern bekommen hatte, so gründlich veruntreut wurden, dass ihr Verbleib nicht mehr nachweisbar ist.

Mittlerweile sind Interventionstruppen aus fünf Ländern – Uganda, Burundi, Kenia, Äthiopien und Dschibuti – mit mehr als 20.000 Soldaten in Somalia präsent. Das hat zu schweren militärischen Rückschlägen für die bewaffnete islamistische Organisation Al-Schabab, besonders zum Verlust fast aller von ihr kontrollierten Städte, geführt. Auf der anderen Seite stagniert jedoch das Vorhaben der „internationalen Gemeinschaft“, den niemals demokratisch gewählten Regierungsstrukturen Somalias bis zum 20. August einen Anschein von Legitimität zu verschaffen.

Seit Anfang Mai sind in Mogadischu 135 sogenannte „traditionelle Älteste“ versammelt, die nach absolut undurchschaubaren Kriterien zusammengestellt wurden. Ihre Aufgabe soll darin bestehen, die personelle Zusammensetzung einer 825 Mitglieder umfassenden „Verfassungsgebenden Versammlung“ zu bestimmen. Diese soll einem von der Regierung vorgelegten Verfassungsentwurf zustimmen und außerdem die Abgeordnetensitze eines stark verkleinerten neuen Parlaments vergeben, das schließlich seinerseits den Präsidenten und den Premierminister „wählen“ soll. Man ist jedoch weit hinter dem Zeitplan zurück: Die Mitglieder der Verfassungsgebenden Versammlung hätten bereits am 15. Mai bestimmt sein sollen.

Knut Mellenthin

Junge Welt, 5. Juni 2012