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Wer regiert in Osteuropa?
Die baltischen Republiken und die GUS
Wie haben sich im fünften Jahr nach dem Zusammenbruch der sozialistischen Staaten Osteuropas, zwei Jahre nach der Auflösung der Sowjetunion, die Machtverhältnisse entwickelt?
Litauen
Nach dem klaren Wahlsieg der Sajudis (Volksfront) im Februar 1990 war Litauen die erste Sowjetrepublik, die ihre staatliche Unabhängigkeit beschloß (11. März 1990). Sajudis-Vorsitzender Landsbergis wurde zum Präsidenten gewählt. Ein Referendum im Februar 1991 bestätigte die breite Unterstützung der Eigenstaatlichkeit: Bei einer Beteiligung von 84 Prozent stimmten mehr als 90 Prozent mit Ja.
Litauen, wirtschaftlich schon immer die schwächste der drei baltischen Republiken, geriet nach der Trennung von der UdSSR erst recht in eine schwere Krise. Die Industrieproduktion ging 1991-92 um 55 Prozent zurück, die Inflationsrate lag 1992 bei mehr als 1000 Prozent. Große Teile der Bevölkerung lasteten die drastische Verschlechterung ihrer Lage der Regierungspolitik und der Sajudis an. Außerdem vollzog sich - wie praktisch überall in Osteuropa - in der einst so breiten und heterogenen Volksfront ein schneller Prozeß der politischen Differenzierung und Spaltung. Präsident Landsbergis scheiterte mit dem Versuch, sich nach dem Vorbild Jelzins zur Krisensteuerung autokratische Vollmachten geben zu lassen: In einer Volksabstimmung darüber votierten im Mai 1992 bei einer Beteiligung von nur 58 Prozent rund 60 Prozent mit Nein. Drei Wochen später einigten sich die Parteien auf vorgezogene Neuwahlen am 25. Oktober 1992.
Eindeutige Wahlsiegerin war die Demokratische Arbeiterpartei (LDDP), die Nachfolgeorganisation der früheren KP. Mit 73 von insgesamt 141 Parlamentssitzen erreichte sie sogar die absolute Mehrheit. Das vor allem vom Sajudis-Rest getragene Wahlbündnis Eintracht für ein demokratisches Litauen kam auf 28 Mandate; weitere 16 Abgeordnete stellt die mit Sajudis zusammenarbeitende Christdemokratische Partei. Die Sozialdemokraten gewannen acht, die Kandidaten der polnischen Minderheit vier Mandate. Sechs weitere Parteien sind mit einem bis drei Abgeordneten im Wilnaer Parlament vertreten.
Seit Februar 1993 ist außerdem der Vorsitzende der LDDP, Brasaukas, der zu Sowjetzeiten KP-Chef war, Präsident der Republik: 60 Prozent der WählerInnen stimmten für ihn. Der nationalistische Gegenkandidat Lozoraitis kam auf 38,1 Prozent. Ihn hatte außer Sajudis und anderen konservativen Parteien auch die in Litauen einflußreiche katholische Kirche unterstützt. Lozoraitis hatte sich als Verfechter einer harten wirtschaftlichen "Schocktherapie" beworben, was offensichtlich bei der Bevölkerung mehrheitlich nicht gut ankam.
Wie meist in Osteuropa - vgl. Bulgarien, Rumänien, Albanien - ist auch in Litauen die Anhängerschaft der Exkommunisten am stärksten in den ländlichen Regionen und Kleinstädten. In den größeren Städten ist das politische Kräfteverhältnis sehr viel ausgewogener. Die Sajudis-Regierung hatte die landwirtschaftlichen Kollektive administrativ zerschlagen, ohne Rücksicht darauf, daß mangels Maschinen, Saatgut und Eigenkapital kaum ein Bauer selbständig existieren kann. Zur Vervollständigung des Desasters war 1992 ein Dürresommer hinzugekommen.
Allgemein wirkte bei den WählerInnen der LDDP auch die Überzeugung, daß diese Partei sehr viel bereitwilliger und geeigneter erschien, die weitgehend zerrissenen wirtschaftlichen Beziehungen der Republik zum Bereich der früheren Sowjetunion, in erster Linie natürlich zu Rußland, wiederherzustellen. Besonders bei Erdöl- und Erdgaslieferungen ist Litauen total von Rußland abhängig - und zudem auf dessen Wohlwollen angewiesen, da es notgedrungen ein schlechter Zahler ist und sich erhebliche Schulden angehäuft haben.
Brasaukas betont sehr, daß die LDDP mit der früheren KP rein gar nichts mehr zu tun habe. Sie sei nun eine echte sozialdemokratische Partei, was durch Bemühungen um Aufnahme in die SI unterstrichen wird. Auf ökonomischem Gebiet hat er versprochen, daß die Reformen künftig etwas behutsamer und sozialverträglicher gestaltet werden sollen. Die objektiven Möglichkeiten dafür sind allerdings eng begrenzt. Auch der Ausbau der Beziehungen zu Rußland ist kurzfristig kein Allheilmittel. Das zeigte sich spätestens im Juni 1993, als die russische Seite aufgrund der Zahlungsrückstände - damals rund 88 Mio. DM - wieder einmal die Gaslieferungen einstellte. Andererseits verdeutlicht die Tatsache, daß sich Litauen als erstes Land der ehem. UdSSR explizit um Integration in die NATO bemüht, daß auch von dieser Seite die Wiederannäherung an Rußland ihre Grenzen hat. Hier - wie auch in Polen - täuscht der Spruch von der "Rückkehr der Exkommunisten an die Macht" sehr über die Realitäten hinweg.
Es wäre nicht verwunderlich, wenn demnächst die LDDP das Opfer der Enttäuschungen und Mißstimmungen in der Bevölkerung über die anhaltend schlechte Gesamtsituation wird. Einige Oppositionsparteien haben bereits eine Unterschriftenkampagne für vorgezogene Neuwahlen eingeleitet. Sehr ernst zu nehmen ist außerdem, wie auch in den anderen baltischen Republiken, die Stärke rechtsextremer Gruppierungen in den neuen Streitkräften.
Lettland
Bei den ersten freien Wahlen im März 1990 hatte die Volksfront 138 von 201 Parlamentssitzen gewonnen. So in die Regierungsverantwortung gelangt, zerfiel die einstige breite Bündnisbewegung in zahlreiche Einzelparteien. Die Gruppe, die immer noch den alten Namen trägt, ist inzwischen politisch bedeutungslos.
Stärkste Partei bei den vorgezogenen Neuwahlen im Juni 1993 wurde eine neugegründete Allianz, Latvija Cels (Lettischer Weg): Auf sie entfielen ungefähr ein Drittel der Stimmen und 36 der 100 Parlamentssitze. Beschrieben wird diese Gruppierung im allgemeinen als "heterogenes Zweckbündnis" aus gemäßigten Nationalisten, Konservativen und angepaßten Exkommunisten, also Teilen der ehemals sozialistischen Bürokratie und Intelligenz. Dieses Spektrum repräsentiert Parteichef Gorbunow, früher Vorsitzender des Obersten Sowjet der Republik und KP-Sekretär für ideologische Fragen. Latvija Cels befürwortet einen "raschen Übergang zur Marktwirtschaft" und eine "Orientierung nach Westeuropa"; insofern unterscheidet sie sich nicht von den meisten anderen Parteien des Landes.
Zweitstärkste Gruppierung wurde bei der Wahl die rechtsextreme Nationale Unabhängigkeitsbewegung (LNNK) mit 13,5 Prozent und 15 Mandaten. Herausragende Wahlkampfziele dieser Partei waren die Vertreibung des russischsprachigen Bevölkerungsteils und die "Entbolschewisierung" Lettlands. Die LNNK fand dadurch internationale Beachtung, daß sie einen deutschen Rechtsextremisten, Joachim Siegerist, als Abgeordneten ins Parlament gebracht hat.
Ebenfalls zur äußersten Rechten gehört die Liste Für Vaterland und Freiheit, die es auf knapp 7 Prozent brachte. Auch sie fordert die Ausweisung aller "illegalen Immigranten", das heißt der meisten Nicht-Letten. Zudem stellt sie sich vor, für ein solches Programm internationale Finanzhilfe gewinnen zu können.
Den russischen Teil der Bevölkerung - soweit er Wahlrecht hatte - vertritt in erster Linie die Liste Eintracht für Lettland/Wiedergeburt für die Volkswirtschaft. Auf sie entfielen 12 Prozent der Stimmen. Die Partei gilt als sozialliberal.
Überwiegend russische Stimmen gewann auch die Liste Gleichberechtigung, Nachfolgeorganisation des "orthodoxen" Flügels der alten KP. 5,8 Prozent der Stimmen - vor allem aus den überwiegend russischsprachigen Gebieten Ostlettlands - verhalfen ihr zu sieben Mandaten.
Von den übrigen Parteien erreichte der dem Zentrum nahestehende Bauernbund 10,6 Prozent; auf die Zentrumspartei selbst entfielen 4,8 Prozent und auf die Christdemokraten 5 Prozent. Die Volksfront scheiterte an der Vier-Prozent-Klausel.
Die Regierung wird von einer Koalition aus Latvija Cels und Bauernbund gebildet. Bruchlinien sind vorprogrammiert: Die um den Bauernbund gebildete heterogene Wahlallianz enthält eine starke antikommunistische Komponente, die sich nur schwer oder gar nicht damit abfinden kann, daß führende Politiker der Vergangenheit wie Gorbunow immer noch eine einflußreiche Rolle spielen. Andererseits sind die mehr protektionistischen Interessen der Bauernbund-Klientel nicht unbedingt mit der stramm marktwirtschaftlichen Orientierung zu vereinbaren, die im Lettischen Weg vorherrscht und gerade auch von angepaßten Exkommunisten vertreten wird.
Hochgradigen Sprengstoff enthält nach wie vor die "nationale Frage", was auch daran deutlich wird, daß mehr als 20 Prozent der WählerInnen für Parteien votiert haben, die die Vertreibung der russischsprachigen Bevölkerung als Hauptprogrammpunkt fordern.
Im ethnischen Sinn gelten nur etwa 52 Prozent der Bevölkerung als Letten, 34 Prozent sind Russen, 5,4 Prozent Weißrussen, 3,4 Prozent Ukrainer usw. Allerdings können im Prinzip auch Nicht-Letten Staatsbürger Lettlands sein. Für die Parlamentswahl im Juni 1993 galt als Stichjahr 1940, das Jahr der Annexion durch die Sowjetunion. Demzufolge galten von den rund 2,6 Millionen Einwohnern Lettlands nur etwa 1,7 Millionen als Staatsbürger und Wahlberechtigte. Von diesen waren gut ein Fünftel, etwas über 20 Prozent, keine Letten im ethnischen Sinn. Das bedeutete andererseits, daß mehreren hunderttausend erwachsenen Letten das Wahlrecht vorenthalten wurde.
Im November 1993 wurde vom Parlament ein modifiziertes Staatsbürgergesetz beschlossen. Staatsbürger kann danach nur werden, wer mindestens zehn Jahre im Land lebt, gut lettisch spricht, sich selbst erhalten kann und einen Loyalitätseid auf den Staat ablegt. Ehemalige Offiziere der sowjetischen Armee sollen kategorisch von einer Einbürgerung ausgeschlossen sein.
Entsprechend groß ist die Unzufriedenheit und Unruhe im russischsprachigen Bevölkerungsteil, von denen viele 1990/91 noch guten Willens für die staatliche Unabhängigkeit Lettlands votiert hatten. Hier ähnlich wie im benachbarten Estland hat bei den russischen Wahlen im Dezember Schirinowskij mit weit überdurchschnittlichen Ergebnissen die Ernte der Verunsicherung einfahren können.
Estland
In der nördlichsten der drei baltischen Republiken fanden im September 1992 vorgezogene Neuwahlen statt. Aufgrund des Staatsbürgerschaftsgesetzes durften von 1,1 Millionen Bewohnern im Wahlalter nur 660.000 teilnehmen.
Stärkste Partei wurde die Isamaa (Vaterland) mit knapp 21 Prozent und 29 Mandaten. Es handelt sich um ein Bündnis von fünf konservativen Parteien, die nicht nur stramme Verfechter der unsozialen Marktwirtschaft sind, sondern sich allgemein am Vorbild der CDU/CSU orientieren.
Die zweitstärkste Liste, Kindel Kodu (Sichere Heimat), ist ebenfalls ein heterogenes Bündnis, das vor allem unter Russischsprachigen und Exkommunisten seine WählerInnen fand. Sie erreichte knapp 14 Prozent und 18 Mandate. Die Rahvarinne (Volksfront), führende Kraft des Unabhängigkeitskampfs 1988-91, kam nur noch auf 12,5 Prozent. Knapp 10 Prozent wählten die Moodukad (Gemäßigte), eine Allianz, zu der u.a. die Sozialdemokraten gehören. 7 Prozent entfielen auf den rechtsextremen Esti Kodanik (Bürgerblock). Weit rechts steht auch die Nationale Unabhängigkeitspartei, für die sich 8,3 Prozent entschieden. 7,2 Prozent gaben der royalistischen Partei ihre Stimme. Estland war allerdings nie eine Monarchie; die Partei gedenkt diese Ehre dem schwedischen Königshaus anzutragen.
Die Regierung wird von der Isamaa in Koalition mit der Nationalen Unabhängigkeitspartei und den Gemäßigten gebildet. Außerdem kann sich die Regierung in der Regel auf die Stimmen der Rechtsextremisten und Monarchisten stützen.
Das Bürgerschaftsgesetz wurde inzwischen - wohl aufgrund des Drucks nicht nur aus Rußland, sondern auch aus westeuropäischen Regierungen - deutlich liberalisiert. Danach soll nicht als Ausländer gelten, wer schon vor dem 1. Juli 1990 im Lande lebte. Die nach diesem Recht durchgeführten Kommunalwahlen im Oktober 1993 ergaben mancherorts ein Debakel für die regierende Isamaa. In der Hauptstadt Tallinn langte es nur noch zu fünf von insgesamt 64 Mandaten. Zusammen 27 Sitze entfielen dort auf zwei russische Parteien, darunter 10 auf die "nationalkommunistische" Liste Reval. In der überwiegend von Russen bewohnten Stadt Narwa gewannen zwei exkommunistische Listen über zwei Drittel der Mandate.
In wirtschaftlicher Hinsicht gilt Estland als "Musterländle" der ehemals sozialistischen Staaten: niedrige Inflationsrate, stabile und voll konvertierbare Währung, erfolgreiche Umorientierung der Exporte nach Westen, vergleichsweise hohe Attraktivität für ausländische Investoren. Allerdings "trotzdem" sinkende Reallöhne und steigende Arbeitslosigkeit. Zu berücksichtigen ist bei den Erfolgsmeldungen auch, daß dies nicht primär mit speziellen politischen Entscheidungen zu tun hat: Estland war schon vor der Revolution von 1917 eines der am besten entwickelten Gebiete des Zarenreichs, mit deutlichem Abstand vor Lettland und Litauen.
Ein Erster und elf Gleiche
Ende 1991 endete offiziell die Existenz der UdSSR. Die 15 früheren Sozialistischen Sowjetrepubliken sind zu souveränen Staaten geworden. Ihr territorialer Umfang bewegt sich in einer enormen Bandbreite zwischen Rußland, das mit über 17 Millionen Quadratkilometern immer noch bei weitem der größte Flächenstaat der Erde ist, und Armenien, das mit 30.000 qkm ungefähr die Größe der Schweiz hat. Rußland zählt heute annähernd 300 Mio. Einwohner - mehr als Deutschland, Großbritannien, Frankreich und Italien zusammen. Aber 10 der 15 Nachfolgestaaten der Sowjetunion haben jeweils weniger Einwohner als Österreich (7,6 Mio.). Über die Dimensionen von "Kleinstaaten" ragen eigentlich außer Rußland nur noch drei Republiken heraus:
- Die Ukraine, die annähernd die Größe und Bevölkerungszahl Frankreichs hat.
- Kasachstan, das mit knapp 18 Mio. zwar nicht wesentlich mehr Einwohner hat als die Niederlande, aber mehr als sieben mal so groß ist wie Deutschland.
- Usbekistan mit rund 21 Mio. Einwohnern und einem Territorium, das um etwa ein Viertel größer ist als Deutschland.
Die gleichzeitig mit der Auflösung der UdSSR gegründete GUS soll, soweit möglich, die wirtschaftlichen und politischen - sowie zum Teil auch die militärischen - Verbindungen zwischen den früheren Unionsrepubliken aufrechterhalten.
Daß Rußland in diesem Staatenbund in jeder Hinsicht das absolute Übergewicht hat, versteht sich aus den Gegebenheiten heraus von selbst. Sich selbst betrachtet Rußland ausdrücklich als "Ersten unter gleichen" und beansprucht das "benachbarte Ausland" - d.h. die ehemalige UdSSR, wobei unklar bleibt, wieweit die baltischen Republiken mitgemeint sind - als unmittelbare Einflußsphäre, in der es seine Interessen als Großmacht und als Beschützerin von 25 Mio. Auslandsrussen nötigenfalls auch gewaltsam wahrzunehmen hat.
In mancher Hinsicht wird diese Position von den westlichen Großmächten nicht nur toleriert, sondern auch unterstützt. In relevanten Fragen gilt ihnen ausschließlich Rußland, und nicht etwa die GUS oder die Gesamtheit der einzelnen Republiken, als Nachfolgerin der UdSSR.
Am deutlichsten ist das in der Frage der ehemals sowjetischen Atomwaffen: Selbstverständlich waren sie über das gesamte Territorium der Union verteilt gewesen. Sog. taktische (Kurzstrecken-) Atomwaffen gab es wohl in allen oder fast allen Sowjetrepubliken. Strategische Waffen, vor allem Interkontinentalraketen, waren außer in Rußland auch in der Ukraine, Belarus (Weißrußland) und Kasachstan stationiert. Aus westlicher Perspektive stand von Anfang an fest, daß ausschließlich Rußland Atommacht bleiben darf und alle anderen Nachfolgestaaten der UdSSR atomwaffenfrei werden müssen. Wer sich widersetzte, und sei es auch nur, um den finanziellen und politischen Preis für den Atomverzicht höherzutreiben, wie die Ukraine, wurde von den USA unter massiven finanziellen und diplomatischen Druck genommen.
Zwischen Re-Integration...
Außer den drei baltischen Staaten, die von Anfang an auf entschiedene Distanz zur GUS gegangen sind, gehören dem Staatenbund heute alle anderen aus dem Zerfall der UdSSR hervorgegangenen Republiken an. Auch Moldova, Aserbaidschan und Georgien, die zeitweise außerhalb der GUS-Strukturen standen, sind in den letzten Monaten reumütig "heimgekehrt": Bürgerkriege, zwischenstaatliche Konflikte, wirtschaftliche Notlagen und Abhängigkeit von Rußland ließen ihnen kaum einen anderen Ausweg.
Die teilweise als Befürwortung einer militärischen Eroberungspolitik mißverstandene, in Wirklichkeit einfach nur zynische Prognose des Faschisten Schirinowskij, man müsse die anderen Republiken nur sich selbst überlassen, dann würden sie eines Tages hungrig und heruntergekommen "angekrochen" kommen und um Anschluß an Rußland bitten, ist so unrealistisch wirklich nicht.
Weitere Punkte wären in diesem Zusammenhang zu erwähnen. So der Sturz des weißrussischen Präsidenten durch das Parlament im Januar, der zu einer weiteren Annäherung der Republik an Rußland, möglicherweise sogar tatsächlich zur Verschmelzung, führen dürfte. Die zentralasiatischen Republiken legen aufgrund ihrer eigenen Schwäche und Rückständigkeit sogar selbst Wert darauf, daß Rußland seine Führungsrolle in der GUS stärker wahrnimmt. Nicht nur sind in sämtlichen Republiken der ehem. UdSSR, mit der einzigen Ausnahme Litauens, noch russische Truppen stationiert, sondern die Zahl der Schauplätze, an denen sie im Einsatz sind, wird eher größer als kleiner.
...und weiterem Zerfall
Insofern könnte man urteilen, daß der seit 1991 anscheinend zu erwartende völlige Zerfall der Sowjetunion nicht eingetreten ist, sondern im Gegenteil eine Rückkehr zu intensiveren Beziehungen untereinander, insbesondere allerdings eine Stärkung der bilateralen Beziehungen Rußlands zu den anderen Republiken, stattfindet.
Indessen, die meisten Ansprüche, die sich die GUS selbst stellt, erweisen sich vorerst als nicht realisierbar. Keine Rede kann davon sein, wie in der GUS-Charta schriftlich niedergelegt, daß supra-nationale Institutionen, ein gemeinsames GUS-Parlament und ein effektives Präsidentenamt an der Spitze, geschaffen worden wären. Das höchste Gremium der GUS, die in unregelmäßigen Abständen einberufene Konferenz der 12 Staatsoberhäupter, hat keine Entscheidungs- und Weisungsbefugnis. Jede Republik entscheidet für sich selbst den Grad ihrer Integration in gemeinsame Vorhaben, ebenso wie auch jede Republik allein Herr darüber ist, welche Beschlüsse der Gipfelkonferenzen und welche Staatsverträge sie mittragen will und welche nicht.
Daß die GUS zur politischen Lösung ethnischer und zwischenstaatlicher Konflikte zwischen ihren Mitgliedern keinen wirklichen Beitrag leisten kann, versteht sich fast von selbst, schon wegen der Unterschiedlichkeit der Interessen. Aber auch auf dem Gebiet der wirtschaftlichen Beziehungen können Unmengen von Verträgen, Vereinbarungen und Deklarationen nicht darüber hinwegtäuschen, daß nicht Re-Integration, sondern weiterer Zerfall das Bild bestimmt.
Ein Beispiel für mehrere totgeborene Wunschprojekte ist die "Wirtschaftsunion", die auf dem neunten Gipfeltreffen der GUS-Staatschefs im Mai 1993 von der Mehrheit der Teilnehmer beschlossen und unterzeichnet wurde. Zu recht führte Boris Jelzin damals aus, eine Wirtschaftsunion sei nicht denkbar ohne einen gemeinsamen Wirtschaftsraum und eine abgestimmte Strategie der Wirtschaftsreformen, gemeinsame und verbindliche Finanz- und Kreditpolitik, Zollunion, gemeinsame Preispolitik und, nicht zu vergessen, eine gemeinsame Leitwährung.
Damit ist genug gesagt: es funktioniert praktisch so gut wie nichts von alledem. "Der Warenaustausch Rußlands mit den Partnern der GUS ist 1993 weiter geschrumpft und macht nur noch 56 Prozent des Niveaus von 1991 aus. Öl - und Erdgaslieferungen wurden weiter drastisch verringert. Die Handelspartner des ,nahen Auslands` (...) stehen bei Rußland mit fast 300 Millionen Dollar in der Kreide. Außerdem behindern ständig wachsende Zollbarrieren den Handel." (SZ, 28.12.93) Dazu ist lediglich korrigierend anzumerken, daß die Verschuldung der anderen Republiken bei Rußland weitaus höher ist; allein die der Ukraine wird mit über zwei Milliarden Dollar beziffert.
Die Rubelzone neuen Typs, gerade erst Anfang September 1993 unter Fanfarenschall proklamiert, war wenige Wochen später schon wieder auseinandergefallen. Damit platzte auch die Seifenblase des im August 1993 zwischen Rußland, Kasachstan und Usbekistan vereinbarten "gemeinsamen Wirtschaftsraum ohne Schranken".
Zum Geltungsbereich des Rubels gehört momentan außer Rußland nur noch Tadjikistan; was mit Belarus werden soll, ist umstritten. Rußland akzeptiert seit seiner Währungsreform im Juli 1993 nur noch neugedruckte Rubel. Die will es den anderen GUS-Staaten aber nur zur Verfügung stellen, wenn sie dafür ihre Gold- und Devisenreserven verpfänden; außerdem müßten sie der Kontrolle ihres Finanz- und Bankensystems durch Moskau zustimmen. Dieser russische Standpunkt ist einerseits verständlich, da man anderenfalls Nationalwirtschaften unterstützen müßte, die in noch schlechterem Zustand sind als die eigene. Andererseits ist nachvollziehbar, daß die meisten GUS-Staaten es ablehnen, sich in eine solche neue Unterordnung zu begeben und sich praktisch der Moskauer Geldpolitik total auszuliefern, die auch aus Sicht der russischen Bevölkerung oft unberechenbar und schlecht durchdacht erscheint.
Ein vorerst kaum lösbares Problem stellt für viele der neuen Republiken ihre starke oder totale Abhängigkeit von den Erdöl- und Erdgaslieferungen Rußlands dar. Aufgrund der Ansammlung hoher Zahlungsrückstände kam es mehrfach zur zeitweisen Einstellung der Lieferungen - so gegenüber Litauen, Weißrußland und der Ukraine. "Die Versorgung der energiearmen Republiken mit billiger Energie kostete Rußland, Schätzungen zufolge, allein 1992 rund 9,5 Milliarden Dollar." (SZ, 16.4.93)
Es ist keineswegs so, daß die russische Seite einfach einheitliche Weltmarktpreise verlangt, sondern sie berechnet erstens für einzelne Staaten jeweils unterschiedliche Preise, auch unter politischen Gesichtspunkten, und sie benutzt zweitens die Zahlungsprobleme ihrer Partner, um Zugeständnisse auf anderen Gebieten zu erreichen. Hauptbeispiel: Der Versuch, die ukrainische Hälfte der Schwarzmeerflotte zu erwerben in Verrechnung gegen die aufgelaufenen Energie-Schulden dieser Republik. Entgegen damaligen Presseberichten ist darüber bisher anscheinend kein Abkommen unterzeichnet worden, sondern nur zwischen den Staatsoberhäuptern gesprochen worden. Im ukrainischen Parlament wäre diese Idee wahrscheinlich genauso wenig mehrheitsfähig wie der von Präsident Krawtschuk ausgesprochene Verzicht auf die in der Republik stationierten atomaren Interkontinental-Raketen.
Auch mit seinen Einfuhrzöllen macht Moskau gezielt Politik. So wurde die Rückkehr Moldovas in die GUS im Herbst 1993 u.a. mit der Drohung erpreßt, anderenfalls die russischen Zollbarrieren für die Hauptexportartikel der kleinen, überwiegend landwirtschaftlich orientierten Republik - Wein, Cognac und Tabak - so drastisch zu erhöhen, daß sie praktisch nicht mehr absetzbar gewesen wären.
Die Auflösung der Sowjetarmee
Ein zentrales Anliegen Moskaus ist die Anbindung der GUS-Staaten an Rußlands militärstrategische Interessen wie auch an seine konkrete Militärpolitik. Verwunderlich oder unverständlich ist das überhaupt nicht: Durch die osteuropäischen Umbrüche 1989 hat Rußland nicht nur auf einen Schlag seine gesamte sicherheitspolitische Pufferzone verloren, die von den verbündeten Staaten gebildet wurde. Es büßte darüber hinaus auch im "eigenen" Land, im Rahmen der Sowjetunion, wichtige Elemente seiner Verteidigungsstrukturen ein.
Die Tatsache beispielsweise, daß die drei baltischen Republiken unwiederbringlich verloren scheinen, bedeutet den Verlust wichtiger Zugänge zur Ostsee, von Teilen des Frühwarnsystems sowie sämtlicher Landverbindungen zum Gebiet von Kaliningrad, das immer noch ein wichtiger vorgeschobener Stützpunkt Rußlands ist. Die Unabhängigkeit der Ukraine bedeutet für Rußland, daß es kaum noch über eigene Zugänge zum Schwarzen Meer verfügt und auf Zusammenarbeit mit einem unberechenbaren Partner angewiesen ist. Daher das strategische Interesse an der Krim, wo sich die Hauptstützpunkte der Schwarzmeer-Flotte befinden.
Rußland hat nicht nur innerhalb kürzester Zeit hunderttausende Soldaten völlig neu unterzubringen, die aus den ehemals verbündeten Ländern Mittelosteuropas und aus dem "benachbarten Ausland" zurückgezogen wurden. Es muß überdies erhebliche Teile seiner militärischen Positionen neu aufbauen, Verlorenes zu ersetzen oder zu kompensieren versuchen. Das bedeutet enorme zusätzliche Lasten für den militärischen Etat, den Rußland aus wirtschaftlichen Gesichtspunkten eigentlich stark zusammenstreichen müßte. Dies zu tun, würde allerdings die Verteidigungsfähigkeit - Ausstattung mit moderneren Waffen usw. - einschränken, was gegen die Militärs nicht durchzusetzen wäre, selbst wenn es die Politiker für wünschenswert halten würden.
Als Ende 1991 die UdSSR aufgelöst und die GUS gegründet wurde, ging man noch von dem Plan aus, die sowjetische Armee zumindest für eine mehrjährige Übergangszeit als Einheit zu bewahren und einem gemeinsamen Kommando der GUS zu unterstellen. Den Posten des Oberkommandierenden der GUS-Streitkräfte bekam der frühere sowjetische Verteidigungsminister Schaposchnikow - ein Kaiser ohne Reich, wie sich schnell herausstellte. Im Juni 1993 wurde er abgelöst, und im Dezember wurde das nur auf dem Papier stehende GUS-Oberkommando offiziell aufgelöst. An seine Stelle soll nun ein anspruchsloserer Koordinierungsstab für militärtechnische Zusammenarbeit der GUS treten.
Rußland, von dem der Vorschlag gemeinsamer Streitkräfte ursprünglich ausging, war in Wirklichkeit nicht daran interessiert. Selbstverständlich nicht, denn in der Praxis hätte es allen Nachfolgestaaten der UdSSR gleiche Mitsprache-Rechte gegeben. Was das bedeutet hätte, wird besonders daran deutlich, daß auch für die atomaren und anderen Massenvernichtungswaffen eine gemeinsame Kontrolle und Befehlsgewalt aller GUS-Staaten vorgesehen war. Rußland aber strebte selbstverständlich das ungeteilte Monopol über diese Waffen an, und wurde darin von den westlichen Großmächten nicht nur unterstützt, sondern geradezu vorangepeitscht.
So kam es bald zu einer, teilweise spontanen und unkontrollierten, kontrovers verlaufenden Aufteilung der sowjetischen Streitkräfte unter die 12 Staaten der GUS. Einige besonders heikle Punkten blieben dabei zunächst noch offen, wie etwa die Aufteilung der Schwarzmeer-Flotte. Die ukrainische Ausgangsposition war, daß ihr die Flotte insgesamt - mit Ausnahme der gesondert zu behandelnden atomaren Waffen - gehören müsse. Moskaus Gegenposition war: die Flotte sei immer russisch gewesen, höchstens 20% davon könnten der Ukraine überlassen werden. Vertraglich einigte man sich später auf eine Aufteilung je zur Hälfte. Realistisch und praktisch wirksam ist das nicht: Erstens sind die Besatzungen der Flotte tatsächlich überwiegend russischer Nationalität und lehnen ein ukrainisches Kommando schärfstens ab, bis hin zur Meuterei. Zweitens verfügt die Ukraine absolut nicht über die finanziellen Mittel, um einen so großen Bestand an Kriegsschiffen zu unterhalten.
Ein wesentlicher - noch nicht wirklich abschließend geregelter - Punkt bei der Auflösung der sowjetischen Armee ist der Umgang mit den Atomwaffen: Sie blieben von der Aufteilung ausgenommen und sollen komplett nach Rußland geschafft werden, großenteils zur Unschädlichmachung. Für die sog. taktischen Waffen ist dieser Rückzug schon vollständig abgeschlossen. Interkontinental-Raketen sind noch in Belarus, Kasachstan und in der Ukraine stationiert. Nur Weißrußland ist bisher definitiv entschlossen, seine Raketen bis 1996 an Rußland abzuliefern. In der Ukraine widersetzt sich das Parlament immer noch einer solchen Regelung. Die Gründe dafür sind unterschiedlich: sie reichen von der Hoffnung, mehr finanzielle Entschädigung und verbindlichere Sicherheitsgarantien durch die USA aushandeln zu können, bis hin zu der Position nationalistischer Kreise, die sich ihr Land gut als Atommacht vorstellen könnten. Kasachstan, wo eigentlich schon alles klar zum Abzug der Raketen schien, macht neuerdings ebenfalls Schwierigkeiten; vermutlich in erster Linie gleichfalls mit Blick auf mehr Entschädigung und Garantien.
Übrigens wäre, aber nur rein theoretisch, für die Atomwaffen insgesamt das Oberkommando der Streitkräfte der GUS zuständig gewesen, solange es noch existierte. Die Praxis sah selbstverständlich immer anders aus. Dem Phantom "gemeinsame Streitkräfte" erteilten Moskaus Militärs schon im Mai 1993 eine klare Absage: Nur in Kriegszeiten sinnvoll, ansonsten viel zu teuer. Klar, Rußland hätte die Truppen fast allein zu finanzieren, müßte sich aber in die Kontrolle mit 11 theoretisch gleichgestellten Staaten teilen. Wer würde so etwas schon mit sich machen lassen? Wohl aus gleichem Grund ist die im März 1992 auf dem vierten GUS-Gipfel vereinbarte Aufstellung einer gemeinsamen Friedenstruppe nach dem Vorbild der UN-Blauhelme nicht in die Praxis umgesetzt worden. Wo "Friedenstruppen" heute im Einsatz sind, handelt es sich überwiegend um Russen; von Fall zu Fall kommen kleine Kontingente anderer Republiken hinzu.
"Kollektive Sicherheit"
Auf dem fünften GUS-Gipfel im Mai 1992, der ausschließlich militärpolitischen Fragen gewidmet war, wurde ein Vertrag über kollektive Sicherheit und militärischen Beistand unterzeichnet. Von den 12 GUS-Republiken traten dem Abkommen allerdings nur Rußland, Armenien, Kasachstan, Usbekistan, Tadschikistan und Turkmenistan bei. Um genau zu sein: Die Staatschefs dieser Republiken setzten ihre Unterschriften unter das Papier. Parlamentarisch ratifiziert wurde der Vertrag schließlich aber nur von Armenien. Das weißrussische Parlament beschloß, gegen heftigen Protest von Präsident Schuschkjewitsch und gegen die nicht sehr zahlreiche nationalistische und liberale Opposition, im April 1993 den Beitritt zu dem Sicherheitspakt.
Der Vertrag enthält u.a. folgende Bestimmungen: Die Teilnehmer verzichten auf Gewalt oder Gewaltandrohung gegeneinander. Sie werden keine anderen Militärbündnisse eingehen oder sich an sonstigen Staatenblöcken beteiligen, die gegen andere Pakt-Mitglieder gerichtet sind. Sie werden sich in allen Fragen der internationalen Sicherheit konsultieren, insbesondere im Fall einer Bedrohung für den internationalen Frieden und die Sicherheit oder einer Bedrohung für einen Mitgliedsstaat.
Brisant ist in diesem Vertragswerk nur der Punkt über den gegenseitigen Beistand. Er besagt, daß jede Aggression gegen einen der Pakt-Staaten von den anderen als Angriff gegen sich selbst behandelt werden wird. Alle Unterzeichnenden, so heißt es weiter, würden dem angegriffenen Partner die notwendige Unterstützung, einschließlich militärischer Hilfe geben, und unter Umständen auch von dem Recht auf kollektive Verteidigung nach Artikel 51 der UNO-Charta Gebrauch machen.
Armenien hat, selbstverständlich ohne Erfolgsaussichten, die anderen Pakt-Mitglieder unter Berufung auf diesen Punkt zum Beistand gegen Aserbaidschan im Karabach-Konflikt aufgefordert. Über dieses provokante Ansinnen im Kreis der beteiligten Staaten - vier von sechs Mitgliedern sind islamisch wie Aserbaidschan - auch nur ernsthaft verhandeln zu wollen, hätte den Pakt wahrscheinlich gleich gesprengt. Umgekehrt hatte Aserbaidschan, im Herbst 1993 in die GUS zurückgekehrt, genauso wenig Glück, als es nun seinerseits zur militärischen Unterstützung aufforderte.
Die Wahrscheinlichkeit, daß ein GUS-Staat durch ein Land angegriffen wird, das nicht zur GUS gehört, ist realistisch betrachtet derzeit gering. Die Möglichkeit, daß sich GUS-Staaten untereinander bekriegen oder separatistische Bewegungen in einer Nachbar-Republik militärisch unterstützen, ist jedenfalls sehr viel größer. Daher stand das Pakt-Projekt in dieser Form von Anfang an auf tönernen Füssen. So wurde schließlich auf dem GUS-Gipfel im Dezember 1993 das Vertragswerk in seiner bisherigen Form zu Grabe getragen, das heißt, es soll "verbessert", neu formuliert werden. Es gibt mehrere konkurrierende Entwürfe, je nach Interessenlage. Rußland möchte die Beistandspflicht am liebsten ganz fallenlassen oder sie so zurechtbiegen, daß sie in den konkreten Fällen GUS-interner Konflikte nicht anwendbar wäre.
Das vorläufige Ergebnis ist, daß auf der Ebene kollektiver militärischer Koordination in der GUS nichts mehr läuft, dafür aber die meisten Republiken bilaterale Militärverträge mit Rußland abgeschlossen haben. In erster Linie geht es dabei um Waffenlieferungen, Wartungs- und Bedienungshilfe, Unterstützung beim Aufbau eigener Armeen durch Ausbilder u.ä., sowie um die Stationierung russischer Truppen und die Benutzung von Stützpunkten.
Großes Konfliktpotential
Knapp die Hälfte der annähernd 300 Millionen Einwohner der ehemaligen UdSSR sind Russen. Durch die Auflösung der Sowjetunion wurden etwa ein Sechstel von ihnen, 25 Millionen Menschen, zu Ausländern in den neu entstandenen Staaten, die man in Rußland "das benachbarte Ausland" zu nennen pflegt. Andererseits gibt es in Rußland aber auch annähernd 30 Millionen Nicht-Russen. Die Gesamtzahl der ehemaligen Sowjetbürger, die außerhalb ihres eigenen nationalen Territoriums - frühere Unionsrepubliken, autonome Republiken und Bezirke - lebten, wurde in den letzten Jahren der UdSSR mit einem Fünftel der Gesamtbevölkerung angegeben, damals rund 55 Millionen Menschen. Diese Zahl verfälscht die Realität aber nach unten: Beispielsweise wäre ein in Rußland lebender Tatar nur dann in diese Kategorie gerechnet worden, wenn er außerhalb der Tatarischen Autonomen Republik der RSFSR lebte.
Aus dem Zerfall und der Selbstauflösung der Sowjetunion ergeben sich zahlreiche und vielfältige Probleme der Minderheitenrechte, der Grenzziehung sowie auch der Selbstbestimmungsforderungen von Ethnien, die sich entweder einem anderem Staat anschließen wollen oder volle Selbständigkeit für sich beanspruchen.
Das Konfliktpotential innerhalb der GUS ist dementsprechend groß. Zwei ihrer Mitglieder, Armenien und Aserbaidschan, führen seit Jahren Krieg gegeneinander, ohne daß die GUS in der Lage ist, sich dazu in irgendeiner Weise politisch und praktisch wirksam zu verhalten. Rußland und die Ukraine befinden sich in einem Streit um die Aufteilung der Schwarzmeer-Flotte und die noch in der Ukraine stationierten Atomraketen. Ein brisantes Territorialproblem stellt die Krim dar, die zwar zur Ukraine gehört, aber mehrheitlich von Russen bewohnt wird, die den "Anschluß ans Mutterland" anstreben. In Moldova wird die Lostrennung des mehrheitlich von Russen und Ukrainern bewohnten östlichen Landesdrittels kaum noch rückgängig zu machen sein. Im georgischen Bürgerkrieg zwischen der Regierung in Tiflis und der abchasischen Minorität haben erfolgreich tausende von freiwilligen Kämpfern aus den Völkern des (zu Rußland gehörenden) Nordkaukasus auf Seiten der Separatisten eingegriffen. In Rußland widersetzen sich mehrere Autonome Republiken dem Einfluß der Moskauer Zentralmacht. Am weitesten geht dabei die Republik der Tschetschenen, die sich im Herbst 1991 für unabhängig erklärt hat. Die Reaktion Jelzins, über das Gebiet den Ausnahmezustand zu verhängen, wurde damals sofort vom Parlament aufgehoben - und seither hat es keinen russischen Versuch gegeben, die Lostrennung gewaltsam zu beenden. Besonders starke Tendenzen zur Eigenständigkeit gegenüber Moskau gibt es außerdem in den Autonomen Republiken der Tataren, Baschkiren und Tuwinen.
Nur teilweise sind die Widersprüche und Konflikte im Bereich der früheren UdSSR ethnisch begründet. Zu einem erheblichem Teil reproduzieren die Konfliktsituationen alte Gegensätze zwischen der Zentralregierung einerseits und den Sonderinteressen der Regionen des riesigen Landes andererseits. Der russisch-ukrainische Machtkampf um die Schwarzmeer-Flotte und die noch in der Ukraine stationierten Atomraketen beispielsweise ist nicht als Nationalitätenkonflikt im eigentlichen Sinn des Wortes zu interpretieren, sondern als Konkurrenz zwischen zwei Staaten. Allerdings ist zu befürchten, daß die Verschlechterung der zwischenstaatlichen Beziehungen belastend auf das Verhältnis zwischen den beiden Völkern zurückwirkt. Immerhin sind ein Fünftel der Einwohner der Ukraine Russen, und da sie regional die Mehrheit bilden (Krim, Donez-Gebiet), kann jederzeit auch die Fragen der Grenzziehung neu ins Spiel gebracht werden. Ähnlich stehen die Dinge in Kasachstan.
Zur russischen Nationalität gehören 38% der Bewohner Kasachstans, 20% in der Ukraine, 21% in Kyrgystan (ehem. Kirgisien) und jeweils rund ein Drittel in Estland und Lettland. Mit den 25 Millionen Russen im "benachbarten Ausland" ist vermutlich das gefährlichste Konfliktpotential im Bereich der früheren Sowjetunion verbunden: Erstens handelt es sich um die zahlenmäßig stärkste Gruppe unter allen Diaspora-Ethnien der früheren UdSSR. Zweitens verfügen sie über einen starken Rückhalt in Rußland selbst. Das beinhaltet sowohl informelle Unterstützung - etwa durch militärische Freiwillige wie in Moldova oder durch nationalistische Parteien wie die von Schirinowskij, wie aber auch Maßnahmen der Moskauer Regierung und - tendenziell - durch die russischen Streitkräfte, die in sämtlichen früheren Sowjetrepubliken, mit Ausnahme Litauens, noch präsent sind.
Der Wahlerfolg des rechtsextremen Demagogen Schirinowskij, der bei den Russen im "benachbarten Ausland" zum Teil weit überdurchschnittliche Ergebnisse einfahren konnte, zeigt, wie breit derzeit die Akzeptanz für aggressive nationalistische Parolen ist. Zusammengenommen mit chauvinistischen, anti-russischen Tendenzen in anderen Republiken ist ein Prozeß in Gang gekommen, bei dem sich beide Seiten jeweils ihre Ressentiments bestätigen, das gegenseitige Mißtrauen anheizen und die Konfliktbereitschaft der Gegenseite verschärfen. Der Schutz der Russen im "benachbarten Ausland", unter Umständen auch mit militärischen Mitteln, ist keineswegs nur ein Propagandathema der extremen Nationalisten, sondern Teil der offiziellen russischen Staats- und Militärdoktrin.
Moskauer Regierungspolitiker scheuten sich denn auch keineswegs, den rechtsextremen Wahlerfolg als Drohmittel einzusetzen: Bisher hätten die anderen Republiken die russische Politik ihnen gegenüber für übertrieben hart gehalten. Jetzt könnten sie sehen, daß sie äußerst moderat gewesen sei - verglichen mit Schirinowskij, wäre hinzuzufügen.
Das Risiko besteht tatsächlich, daß sich im Bereich der früheren Sowjetunion ein "engeres Wiederzusammenrücken" der Republiken vollzieht, das diesen Namen nicht verdienen würde, weil es nicht auf echter, allseitiger Integration und Interessenausgleich, sondern auf militärischen und ökonomischen Abhängigkeiten der übrigen von Rußland beruhen würde. Also auf dem, was man bereits hatte. Die Gefahr bestünde, daß eine solche Zwangsunion irgendwann ein weniger zivilisiertes und unblutiges Ende fände als die UdSSR 1991.
Knut Mellenthin
analyse & kritik, 9. Februar 1994