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Wahl in Rußland - Zeichen an der Wand
Rußland hat ein neues Parlament gewählt. Zwei Punkte stellen die deutschen Medien in diesen Stunden in das Zentrum ihrer Kommentierung: Erstens, Jelzin habe mit der Annahme seines Verfassungsentwurfs einen wichtigen Erfolg errungen. Zweitens, das schwache Abschneiden der "demokratischen Kräfte" und der unerwartete Erfolg der rechtsextremen Partei von Schirinowski seien besorgniserregend. Die gute Nachricht wiegt die schlechte auf, denn die neue Verfassung ist so auf Jelzins Bedürfnisse zugeschnitten, daß ihm die Zusammensetzung des Parlaments von vornherein ziemlich egal sein kann: alle Macht liegt beim Präsidenten - solange die tatsächlichen Zentren der militärischen und wirtschaftlichen Macht sie ihm lassen.
So betrachtet ändert sich durch die russische Wahl kaum etwas. Jelzin hat ohnehin seit mehr als einem Jahr, auch ohne die neue Verfassung, mit Sondervollmachten total am Parlament vorbeiregiert. Auch die von Jelzin eingesetzten Regierungen hatten keine parlamentarische Mehrheit, sondern konnten sich nur auf etwa 10 bis 15 Prozent der Abgeordneten einigermaßen zuverlässig stützen. Der Block der "entschiedenen Opposition" war im alten Parlament wahrscheinlich sogar größer als im neuen.
Allerdings fällt eine propagandistische Legitimation weg, die bisher als Rechtfertigung für die selbstherrliche Machtausübung Jelzins herhalten mußte: das alte Parlament sei nicht frei gewählt gewesen. Das wird dem neuen Gremium wohl niemand nachsagen wollen. Es stimmte aber auch vorher schon nicht. Das vom Präsidenten im September in eindeutig verfassungswidriger Weise aufgelöste Parlament war zwar, 1990, noch weitgehend nach sowjetischen Spielregeln gewählt worden, aber in seiner pluralistischen Realität war es ein Spiegelbild der kontroversen politischen Strömungen Rußlands gewesen. Offenbar entsprach dieses Parlament nicht mehr genau den gewandelten Kräfteverhältnissen im Jahre 1993, aber das gilt beispielsweise für den deutschen Bundestag genauso, ohne daß ernsthaft erwogen wird, man müsse ihn mit Panzern auseinanderjagen.
Die bisherigen Angaben zu den Ergebnissen der Wahl vom 12. Dezember lassen darauf schließen, daß das neue Parlament in seiner Zusammensetzung dem alten sehr viel mehr ähneln wird, als Jelzin und seine westlichen Sponsoren gehofft hatten. Was sie überhaupt zur Hoffnung veranlaßt hatte, durch die putschistisch erzwungene Neuwahl eine breite parlamentarische Basis für Jelzin und seine vom internationalen Finanzkapital vorgezeichnete "Schocktherapie" zu gewinnen, bleibt rätselhaft. Die bekanntgewordenen Prognosen sprachen von vornherein dagegen. Auch das starke Abschneiden Schirinowskis, das nun von deutschen Medien im jähen Katzenjammer zum "Wahlsieg" überhöht wird, war keineswegs so absolut unerwartet, wie nun behauptet wird.
Erstens hatte der rechtsextreme Demagoge schon bei der Präsidentenwahl im Juni 1991 aus dem Stand annähernd acht Prozent der Stimmen geholt und war damit auf Platz drei gelandet, hinter Jelzin (57,3 Prozent) und dem von Gorbatschow favorisierten Ryschkow (16,85).
Zweitens ist durch die Zerschlagung der zentristischen Führungsgruppe um Ruzkoj und Chasbulatow sowie durch das Verbot zahlreicher radikaloppositioneller Organisationen und Zeitungen ein enormer Wettbewerbsvorteil für Schirinowski geschaffen worden: Er, der sich mit seiner Partei klug aus dem Konflikt um das Parlament herausgehalten hatte, hat dank Jelzin bei dieser Wahl fast eine Monopolstellung für das radikalnationalistische Spektrum bekommen. Jelzin hat, unter heftigem Antrieb und Applaus der kapitalistischen Großmächte, vergleichsweise gemäßigte Oppositionsvertreter wie Ruzkoj und Chasbulatow einsperren lassen und damit zugleich dem schlimmsten Demagogen von allen freie Bahn geschaffen. Wieso ausgerechnet eine Partei zur Kandidatur zugelassen wurde, die u.a. übelste antisemitische Paranoia verbreitet - die Welt werde von 28 jüdischen Familien beherrscht, zu deren zentralen Zielen die Vernichtung Rußlands gehöre - bleibt unerklärt. Jelzins westliche Sponsoren, die heute über den "Sieg des neuen Hitler" schreien, schienen vor der Wahl keinen Anstoß daran zu nehmen.
Schirinowskis faschistische Liberaldemokraten haben mit dieser Wahl ihre Rolle als hegemoniale Kraft der Opposition gegen Jelzin und gegen die Gängelung Rußlands durch IWF, Weltbank usw. eindeutig bescheinigt bekommen. Es ist zu fürchten, daß sich die Subalternität der Kommunistischen Partei Sjuganows nicht darauf beschränken wird, daß sie im Wahlergebnis weit hinter den Liberaldemokraten liegt, sondern daß sie noch mehr als bisher schon in deren Fahrwasser segeln wird - sofern sie nicht teilweise den Lockungen Gajdars erliegt, "Regierungsverantwortung zu übernehmen", was vermutlich schnell zu einer Spaltung der Partei führen würde.
Schirinowski beschwört die Grenzen des Zarenreichs (wozu außer den Bestandteilen der UdSSR auch Finnland und drei Viertel von Polen gehörte) und macht aus der territorialen Wiederherstellung der Sowjetunion (ohne Sowjets) geradezu ein Minimalprogramm. Er spricht davon, daß Rußland und Deutschland wieder eine gemeinsame Grenze haben sollten, und meint damit die fünfte Teilung Polens. Überhaupt sollten die beiden Länder nach Ansicht Schirinowskis Partner statt Gegner sein, und er gibt dieser im Prinzip sehr sympathischen Parole einen aggressiven Sinn, der eindeutig ist. Zur DVU des rechtsextremen Verlegers Frey unterhält Schirinowski besonders enge Beziehungen, aber auch die Kontakte zur deutschen "neuen Rechten" werden nicht vernachlässigt.
Ein ökonomisches und soziales Gegenprogramm der russischen Rechtsextremisten gegen den Kurs Jelzins und Gajdars ist nicht zu erkennen. Sie entwickeln keine Alternativen gegen De-Industrialisierung, Verelendung, Massenarbeitslosigkeit, was zugegebenermaßen auch ein äußerst schwieriges Unterfangen wäre. Ihre Propaganda beschränkt sich darauf, die Probleme Rußlands und deren Auswirkungen für das alltägliche Leben der "kleinen Leute" als Resultate eines internationalen Vernichtungsfeldzugs gegen Rußland darzustellen, hinter dem an erster Stelle "die Juden" ausgemacht werden. Das verspricht zwar absolut keinen Ausweg aus den akuten Problemen, bietet aber einen probaten Sündenbock und sorgt dadurch für Ablenkung. Die Beschwörung der historischen Größe Rußlands und seiner kulturellen Mission hilft über manche Unerfreulichkeiten des Alltags hinweg. Schirinowskis "Versprechen", mit vollem Einsatz der Staatsmacht gegen die Kriminalität vorzugehen, entspricht einem breit empfundenen Bedürfnis.
Zum Teil berühren sich die Ziele der Liberaldemokraten und anderer Rechtsextremer sowie der Kommunisten mit denen der Jelzin-Administration. Die Rekonstruktion eines starken imperialen Rußlands, das mehr oder weniger das gesamte Territorium der früheren Sowjetunion wirtschaftlich und militärisch dominiert, ist ein überragendes gemeinsames Interesse. Jelzin steht diesbezüglich den Extremisten zwar in der Schärfe des Tons und im Ausmaß der öffentlich verkündeten Ambitionen nach, hat dafür aber die realpolitischen Erfolge auf seiner Seite. Die Ausnutzung nationaler Konflikte in den früheren Sowjetrepubliken hat die Jelzin-Administration sehr erfolgreich betrieben, praktisch in allen sind noch oder schon wieder russische Truppen stationiert. Abgesehen von den baltischen Staaten sind alle Teile der ehemaligen UdSSR in die GUS zurückgekehrt. Das ist sehr viel weniger, als Schirinowski & Co. fordern, aber bei realistischer Betrachtung ist es wohl das Maximum dessen, was sich ohne großen Krieg erreichen ließ.
Ein zentraler Punkt, wo die "Reformer" und die rechtsextreme Opposition sehr weit auseinander liegen, ist die Haltung Rußlands zum Westen. Jelzin agiert in seiner Wirtschaftspolitik ebenso wie in der Außenpolitik sehr angepaßt, akzeptiert praktisch die führende Rolle des Westens. Sein Widerspruch gegen eine ganz schnelle Integration der postsozialistischen Staaten Osteuropas in die NATO ist das Äußerste, was er sich bisher an Dissens geleistet hat. Die Politik der Rechtsextremen hingegen müßte auf eine scharfe Konfrontation mit dem Westen hinauslaufen, wenn sie sich nicht als leere Rhetorik blamieren will. Das würde beispielsweise auch bedeuten, daß Rußland sich darauf orientieren müßte, seine Wirtschaftsprobleme in erster Linie aus eigener Kraft zu bewältigen und selbst Sanktionen, die der Westen als Druckmittel verhängen könnte, nicht zu scheuen. Ebenso würde eine rechtsextreme Politik die Rückkehr zum Wettrüsten und zur militärischen Konfrontation implizieren.
Dies erklärt die westliche Aufregung über Schirinowskis "Wahlsieg", der ja in Wirklichkeit so alles überragend wohl gar nicht sein wird und der jedenfalls per se keine wirklichen Probleme für Jelzin schafft: Der Präsident hat bisher schon selbstherrlich gegen die parlamentarische Mehrheit regiert, und könnte damit im Prinzip auch künftig fortfahren, zumal gestärkt durch das Votum für die neue Verfassung - auch wenn sich real nur weniger als 30 Prozent der Wahlberechtigten dafür ausgesprochen haben.
Nein, Jelzin wird auch künftig wohl nicht an parlamentarischen Mehrheiten scheitern, sowenig wie in der Vergangenheit. Er kann aber sehr leicht und schnell darüber stürzen, daß ihm die Zentren der realen militärischen und ökonomischen Macht ihre Unterstützung entziehen, wenn sie seine Politik als gescheitert ansehen. Man weiß inzwischen, daß schon die Entscheidung der militärischen Führung zugunsten Jelzins am 3./4. Oktober nur zögernd fiel und daß die Sache einige Stunden lang "auf Messers Schneide" stand.
Das wirkliche Risiko des Wahlergebnisses, vor allem des guten Abschneidens der Rechtsextremen, liegt also darin, daß hier ein alternatives Politikangebot gemacht wird, das einigen maßgeblichen Trägern der realen Macht attraktiver erscheinen könnte als die weitere Unterstützung Jelzins. Ein Angebot zudem, das sich auf breite - und mit der weiteren Verschärfung der Krise voraussichtlich noch wachsende - Zustimmung in der Bevölkerung stützen kann. So wird beispielsweise auch behauptet, Schirinowski habe bei Soldaten und Offizieren besonders viel Zuspruch gefunden. Ob sich diese erste Einschätzung bestätigt, bleibt abzuwarten. Die Wahrscheinlichkeit spricht dafür, weil die Armee besonders stark mit den materiellen und psychologischen Problemen konfrontiert ist, die sich aus dem Zusammenbruch der Sowjetunion und dem Verlust des Weltmacht-Status ergeben. Hinter dem "Wahlsieg" Schirinowskis zeigt sich der drohende Schatten einer mit rechtsextremer Ideologie unterfütterten Militärdiktatur. Dabei könnten Schirinowski und die Seinen eher zu den Opfern als zu den Vollstreckern einer solchen Diktatur gehören: Das Argument, einer faschistischen Machtergreifung zuvorkommen zu müssen, verspräche internationale Akzeptanz für einen Putsch und ein rechtsautoritäres Regime.
Knut Mellenthin
analyse & kritik, 15. Dezember 1993