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"Rußlands Südgrenze" - Kampffront gegen den Islam

Seit Anfang Juli wird fast täglich über Kämpfe im Grenzgebiet zwischen der früheren Sowjetrepublik Tadschikistan und Afghanistan berichtet. Beteiligt sind, neben der noch im Aufbau befindlichen tadschikischen Armee, in erster Linie russische Grenztruppen; diese werden verstärkt durch Einheiten aus den zentralasiatischen Nachbarrepubliken Usbekistan, Kasachstan und Kyrgysstan. Seit einem besonders schweren Angriff am 14. Juli, bei dem 25 Grenzsoldaten getötet wurden, sind auch reguläre russische Armee-Einheiten mit Panzern, Hubschraubern und Flugzeugen ins Grenzgebiet verlegt worden. Insgesamt stehen in Tadschikistan derzeit über 15.000 Mann ausländische Truppen im Kampfeinsatz.

Die Benennung der Gegenseite ist uneinheitlich. Gelegentlich finden sich vergleichsweise sachliche Begriffe wie "Moslemrebellen", "islamische Rebellen" oder "bewaffnete Opposition". Bevorzugt wird aber von FAZ bis Neues Deutschland die offizielle Moskauer Sprachregelung: "islamische Fundamentalisten". Die beliebig wechselnde Handhabung der Bezeichnungen macht deutlich, daß es nicht um sachliche Differenzierung, sondern um ein aggressives Feindbild geht: "Islamisch" und "fundamentalistisch" werden zu frei austauschbaren Begriffen, als gäbe es zwischen ihnen überhaupt keinen Unterschied.

Aus dieser Einstellung heraus ergibt sich, daß das militärische Vorgehen Rußlands mehr oder weniger explizit als zivilisatorisches Friedenswerk begrüßt wird. Problemlos geschieht das im Neuen Deutschland, dessen Autoren vermutlich schon die sowjetische Afghanistan-Intervention mit lebhaftem Applaus begleitet hatten. Etwas mehr muß sich beispielsweise der Kommentator der Süddeutschen Zeitung bemühen: "Auf den ersten Blick sieht der russische Militäreinsatz also wie ein Stück klassischer Kolonialpolitik aus (...) Doch auf den zweiten Blick spricht vieles dafür, daß ohne das Moskauer Engagement in Tadschikistan Stammeskriege ausbrächen, die die ganze Region destabilisieren könnten." Schließlich warnen doch nicht nur "Altkommunisten", sondern auch der "reformfreudige" kasachische Präsident Nasarbajew "vor einer Machtergreifung durch Moslemfundamentalisten". (SZ, 9.8.93)

Von der Koalitionsregierung zum Oppositionsverbot

Um über Logik, Zweck und Nutzen des russischen Militäreinsatzes zu diskutieren, muß man zunächst die Vorgeschichte des bewaffneten Konflikts vergegenwärtigen. (1)

Im Unterschied zu den übrigen Republiken des sowjetischen Zentralasien, die ungebrochen autoritär bis diktatorisch regiert werden, hatte sich in Tadschikistan Ende der 80er Jahre eine differenzierte Parteienlandschaft entwickelt. Die Präsidentenwahl im November 1991 gewann zwar der frühere KP-Vorsitzende Nabijew, aber nur mit 57 Prozent der Stimmen, während sein Gegenkandidat von 37 Prozent gewählt wurde. Das hob sich deutlich ab von den übrigen zentralasiatischen Republiken, wo die jeweiligen Präsidenten, ob nun KP-Leute (Usbekistan, Turkmenistan) oder dem Westen wohlgefällige "Demokraten" (Kasachstan, Kyrgysstan), auf verdächtige Rekordergebnisse zwischen 95 und 99 Prozent kamen.

Im März 1992 begannen, vor allem in der Hauptstadt Duschanbe, Massendemonstrationen gegen Nabijew, die schließlich auch die Form bewaffneter Kämpfe um die Macht annahmen. Militärisch behielten dabei die Oppositionsparteien die Oberhand. Aus dieser Position der Stärke heraus akzeptierten sie das Angebot, als Minderheit (8 von 24 Ministerien) in die Regierung einzutreten.

Es zeigte sich jedoch, daß beide Hauptblöcke - die alten KP-Strukturen einerseits, das Bündnis von drei Oppositionsparteien andererseits - alles andere als einheitlich und stabil waren. Auf beiden Seiten gab es starke Kräfte, die den politischen Kompromiß nicht akzeptierten. In Teilen des Landes, vor allem im Süden, kam es zum Bürgerkrieg, mit Verwüstung ganzer Regionen, etwa 100.000 Toten und Verletzten, Massenflucht von 600.000 Menschen, davon mehr als 50.000 nach Afghanistan. Nachdem im Oktober und November zwei Versuche der "alten Garde" gescheitert waren, auf Duschanbe zu marschieren, waren ihre Milizen im Dezember 1992 schließlich erfolgreich. Bis Februar 1993 waren die bewaffneten Kräfte der Opposition im wesentlichen zerschlagen oder nach Afghanistan abgedrängt. Dort fanden sie, in erster Linie wohl bei dortigen Tadschiken, Aufnahme. (In Afghanistan leben mehrere Millionen Tadschiken)

Die wieder zur vollen Macht gekommene "alte Garde" vollzog eine totale und Berichten zufolge äußerst brutale Abrechnung mit der gesamten Opposition. Alle ihre Strömungen, von denen nur Teile als islamistisch zu bezeichnen waren, wurden verboten - in einem Verfahren, in dem es nicht einmal einen Anwalt der Verteidigung gab. (2) Alle Oppositionsführer, soweit man ihrer habhaft werden konnte, wurden verhaftet. Das galt ebenso für alle, die mit der Opposition in Verbindung gestanden hatten, wie etwa Journalisten. Gegen die bekanntesten Führer der Oppositionsparteien - die zumeist rechtzeitig vor dem Zugriff fliehen konnten - wurde Anklage erhoben.

Es scheint sich dabei aber nur um die "Spitze des Eisbergs" zu handeln. Aus Berichten von amnesty international, Helsinki Watch und Reporter ohne Grenzen ergibt sich, daß in Tadschikistan seit dem Sieg der "Alten Garde" ein massenhafter Terror gegen alle Oppositionellen und ihre UnterstützerInnen in der Bevölkerung praktiziert wird. Der neuen Regierung nahestehende Milizen hätten zahlreiche Menschen ohne Prozeß "hingerichtet", es habe eine "massive Verhaftungswelle" gegeben, viele Menschen seien "verschwunden" oder grausam verstümmelt tot aufgefunden worden, in den Gefängnissen werde gefoltert. (3) Eine wesentliche Rolle spielte dabei wohl auch, daß sich die "alte Garde" bei ihrem Sieg auf äußerst fragwürdige bewaffnete Banden stützte, die sich zeitweise weitgehend verselbständigten.

Daß es im Bürgerkrieg auch von der anderen Seite Grausamkeiten gegeben hat, mag sein und kann vermutet werden. Gesicherter Fakt ist allerdings, daß die Oppositionsparteien, als sie mehrere Monate lang die reale Macht in Duschanbe hatten, nicht einmal annähernd so diktatorisch und brutal gegen ihre Gegner aus der "alten Garde" vorgegangen sind. Genauer gesagt: Eine Verfolgung der "alten Garde" scheint es in dieser Zeit überhaupt nicht gegeben zu haben, außer der Umbesetzung von Posten.

Eine innere Angelegenheit Rußlands

Neuerdings haben, wenn die Berichte zutreffen, die Präsidenten Kasachstans und Usbekistans dem Regime in Duschanbe den klugen Ratschlag gegeben, Kontakte mit der Opposition aufzunehmen und "Neuwahlen auf demokratischer Grundlage" anzusetzen. (4) Das trifft sich mit der Empfehlung Afghanistans: "Es ist der tadschikischen Regierung zu raten, jetzt Verhandlungen mit den Oppositionsparteien zu beginnen und nicht viele Jahre zu warten, wie es Najibullah tat." (5)

Skeptisch muß allerdings schon stimmen, daß von solchen Ratschlägen zur politischen Lösung des Konflikts beim Gipfeltreffen der zentralasiatischen Präsidenten mit Boris Jelzin Anfang August in Moskau anscheinend überhaupt nicht mehr die Rede war. Da gibt es nur offizielle Bekanntmachungen über Truppenverstärkungen, über allseitige militärische Zusammenarbeit, über die Notwendigkeit der Frontbildung gegen den "islamischen Fundamentalismus" und über die ebenso notwendige Stärkung des russischen Einflusses in der Region. Von russischer Seite ist ohnehin noch kein einziges vernünftiges Wort zur politischen Lösung dieses Konflikts laut geworden - was selbstverständlich nicht ausschließt, daß hinter verschlossenen Türen auch Sinnvolleres ausgesprochen wird als vor der internationalen Medienöffentlichkeit.

Selbst daran muß man allerdings zweifeln. Man betrachte beispielsweise folgenden Satz des russischen Sicherheitsministers Barannikow: "Es ist meine feste Überzeugung, daß wir mit dem Schutz des tadschikischen Abschnitts der Grenze den strategischen Zugriff auf das Rückgrat Rußlands zurückschlagen." (6) Verglichen mit einer solchen hysterischen Militarisierung und Übersteigerung eines begrenzten, im Kern politischen Problems kann die seinerzeitige sowjetische Begründung für die Militärintervention in Afghanistan als geradezu maßvoll und rational gelten.

Anscheinend erfreut sich heute die unselige amerikanische "Domino-Theorie" (7) der sechziger Jahre in Rußland großer Beliebtheit. In den Worten eines russischen Diplomaten ausgedrückt: "Was die Fundamentalisten in Nord-Afghanistan wollen, ist nicht nur die tadschikische Opposition zurück an die Macht zu bringen, sondern sie wollen sich auch in anderen Ländern Zentralasiens ausbreiten, diese Gegenden destabilisieren, die Regierungen durch islamische ersetzen, und das auch in Rußland selbst." (8)

Überhaupt ist die These, Rußland an der tadschikischen Grenze verteidigen zu müssen (und zu können), weitverbreitet. So spricht Jelzins Präsidialamt von einer "Bedrohung für die nationale Sicherheit Rußlands" (9), und Jelzins selbst treibt die Sache noch auf die Spitze: "diese Grenze sei de facto eine ,russische Grenze` und nicht die Grenze Tadschikistans" (10). Absolut logisch ist demnach auch die Schlußfolgerung des Moskauer Verteidigungsministers Gratschow: die Angriffe der Rebellen im tadschikisch-afghanischen Grenzgebiet bezeichnet er als "Bedrohung und Einmischung in die inneren Angelegenheiten Rußlands" und als einen "nicht erklärten Krieg einzelner bewaffneter Gruppen gegen Rußland". (11)

Nicht nur wird das Ende der Sowjetunion schlichtweg ignoriert, sondern es kann endlich auch die Gleichsetzung des gesamten Unionsgebiets mit Rußland öffentlich ausgesprochen werden. Mögen sich Rußlands Rechtsradikale angesichts so ernsthafter und eifriger Konkurrenz Gedanken um ihr politisches Profil machen!

Wieweit die Warnungen vor dem Vormarsch des islamischen Fundamentalismus ernstgemeint oder nur vorgeschoben sind, um die Fortführung imperialer Politik neu zu legitimieren, kann nicht beurteilt werden. Auch kann nicht eingeschätzt werden, wieweit die beschworenen Gefahren real sind. Auf Rußland bezogen sind sie sicher eine Fiktion, die nur geeignet ist, von sehr viel größeren Problemen für den Bestand des einheitlichen Staates abzulenken. Selbst da, wo islamisch geprägte Völker Rußlands sezessionistische Neigungen zeigen (Tataren, Tschetschenen), hat das mit dem Islam nur wenig und mit Fundamentalismus wohl gar nichts zu tun. Es mag allerdings sein, daß die Dinge in Teilen Zentralasiens anders liegen.

Mit Sicherheit falsch und verhängnisvoll ist aber die Annahme, man müsse und könne die Risiken einer fundamentalistischen Islamisierung Zentralasiens in militärischer Schlachtordnung an der tadschikisch-afghanischen Grenze stoppen. Alle Versuche des Iran, seine extreme Version des Islam zu verbreiten, haben bewiesen, was aus anderen Zusammenhängen auch schon klar sein konnte: Ideologie ist kein Exportartikel, und schon gar nicht kann sie mit militärischen Mitteln weiterverbreitet oder aufgehalten werden.

Der Nährboden für das Entstehen islamistischer Massenbewegungen sind unerträglich gewordene soziale und politische Verhältnisse, Armut und Massenarbeitslosigkeit ohne Perspektive, wie etwa in Algerien zu beobachten. Wenn es unter diesen Gesichtspunkten in Zentralasien künftigen religiösen Sprengstoff gibt - was nicht a priori auszuschließen ist, aber auch nicht einfach undiskutiert vorausgesetzt werden sollte -, dann müßte damit an erster Stelle auf der sozialen und politischen Ebene umgegangen werden. Die strikte militärische Logik der "Grenzverteidigung" leistet eher das Gegenteil, zumal sie durch die von Moskau bewußt betriebene Internationalisierung des Konflikts auch die Nachbarstaaten Tadschikistans in eine unvorhersehbare Entwicklung hineinzieht.

Zudem ist es eine klassische imperiale Fiktion, wenn so getan wird, als würden die russischen, kasachischen usw. Truppen einfach nur in Ausübung ihrer Bündnispflicht die Grenze Tadschikistans gegen eine äußere Aggression verteidigen. Es mag sein, daß - wie von russischer Seite stets behauptet - Afghanen auf der Seite der bewaffneten tadschikischen Oppositionskräfte mitkämpfen, daß es Ausbilder aus Pakistan und Saudi-Arabien gibt, usw.. Allerdings gehören solche Behauptungen zum Standardrepertoire jeder Kriegslegitimierung und sollten auch nicht ohne Beweismittel als wahr unterstellt werden. So oder so handelt es sich in der Hauptsache eben nicht um einen "afghanisch-tadschikischen Grenzkonflikt", sondern um die Fortsetzung des tadschikischen Bürgerkriegs, in dem russische und andere ausländische Soldaten parteiisch für die "alte Garde" mitkämpfen. Es ist noch einmal der Versuch, mit Waffengewalt zu konservieren, was auf politischer und sozialer Ebene langfristig vermutlich ohnehin nicht mehr zu retten sein dürfte. Daß dieser Versuch sich maßgeblich auf russische Streitkräfte stützt, setzt negative Vorzeichen auch für die weitere Entwicklung in Rußland und allgemein im Bereich der früheren Sowjetunion. Besonders gilt das für Zentralasien, dessen autoritäre Regimes sich total auf die überkommenen Strukturen der "Sowjetmacht" stützen und die an der tadschikischen Grenze ihre eigene Existenz zu verteidigen glauben.

"Schutz der russischen Bevölkerung"

Ein häufig gebrauchtes Argument für die russische Militärintervention in Tadschikistan ist der Schutz der russischen Bevölkerung dort und allgemein in Zentralasien. So lautet beispielsweise auch die Begründung in einer Resolution des Obersten Sowjet, mit der Jelzin zur Verstärkung des Militäreinsatzes ermächtigt wurde. (12)

Vorausgesetzt wird dabei automatisch, daß die "Islamisierung" eine existentielle Bedrohung der russischen Bevölkerung darstellen würde, die mit allen Mitteln abgewendet werden muß. Auch dies ist mehr eine ideologische Fiktion, die durch die Erfahrungen während der faktischen Herrschaft der tadschikischen Oppositionsparteien im Sommer/Herbst 1992 nicht bestätigt wird. Im Gegenteil besteht Grund zur Annahme, daß die Moskauer Militärintervention die Situation der russischen Volksgruppen in Zentralasien eher problematischer gestalten wird, da sie den Gegensatz Russen einerseits, Moslems andererseits militärisch und ideologisch verschärft.

Tatsächlich ist eine massenhafte Emigration von Russen besonders aus Zentralasien zu konstatieren. In einer traditionell parteilich engagierten Zeitung wie dem Neuen Deutschland werden daraus schnell einmal Hunderttausende russische "Flüchtlinge", die aufgrund einer angeblichen "radikalen Islamisierung" angstvoll das Weite suchen. (13) Regierungsstellen in Duschanbe geben die Zahl der Auswanderer 1989-92 mit rund 200.000 an, davon die Hälfte Russen. In der gleichen Zeit sind allerdings auch aus dem recht ruhigen Kyrgysstan 170.000 Menschen ausgewandert. (14)

Solche Zahlen sind, unkommentiert genommen, selbstverständlich für die Moskauer Propaganda benutzbar. Jedoch, der erste Eindruck einer aktuell verursachten Massen"flucht" ist trügerisch. Zweifellos wirken die ungewisse Entwicklung seit dem Zerfall der Union, diskriminierende Gesetzgebung in einigen Republiken (jedoch nicht in Zentralasien), die teilweise Ersetzung russischer Kader durch "Einheimische", die gerade in Zentralasien extrem perspektivlose Wirtschaftslage, als zusätzliche Migrationsmotive. Doch verstärkt dies nur einen schon seit fast zwanzig Jahren registrierten Trend.

Rußland war schon im 19. Jahrhundert ein Auswanderungsland und ist es bis in die 70er Jahre unseres Jahrhunderts geblieben. Richtete sich die Migration während der Zarenzeit zu einem erheblichen Teil nach Westen, so seit der Oktoberrevolution praktisch ausschließlich in andere Teile der Sowjetunion - was auch mit einer "kulturellen Kolonialisierung" verbunden war. Die Netto-Emigration (d.h. Auswanderung mit Einwanderung verrechnet) aus Rußland lag in den Jahren 1966-70 bei 600.000, im folgenden Vierjahres-Zeitraum 1971-75 nur noch bei knapp 200.000, worin sich die Trendwende bereits andeutete. 1976-80 wanderten 725.000 Menschen mehr nach Rußland ein als aus. Von 1979 bis 1988 betrug die Netto-Einwanderung nach Rußland 1,77 Millionen. Im gleichen Zeitraum lag die Netto-Emigration aus Zentralasien (einschließlich Kasachstan) bei 1,63 Millionen. (15)

Wie diese Umkehr der innersowjetischen Migrationsströme von Wissenschaftlern begründet wird, ist mir nicht bekannt. Jedenfalls kann sie offenbar nicht ursächlich auf den Zerfall der UdSSR zurückgeführt werden. Für die nochmalige Zunahme der russischen "Rückwanderung" in den allerletzten Jahren ist ein ganzes Mosaik von Motiven maßgeblich, wobei die Nationalitätenkonflikte nur ein Punkt unter mehreren anderen sind.
Imperiale Militärpolitik

Die Sowjetunion hat sich im Herbst 1991 in 15 souveräne Staaten aufgelöst. Daß dies jedoch noch nicht der endgültige Stand der Dinge sein muß, wird an der anhaltenden Präsenz russischer Streitkräfte an vielen Brennpunkten außerhalb des eigentlichen Rußlands, nicht nur in Tadschikistan, deutlich:

In der überwiegend von Rumänen bewohnten Republik Moldova schirmt eine russische Division die Sezession des Dnjestr-Gebiets ab, in dem Russen und Ukrainer die Mehrheit bilden. In dieser Region befindet sich fast die gesamte Industrie Moldovas.

Im Konflikt zwischen Georgien und seiner abtrünnigen Provinz Abchasien treten russische Soldaten jetzt als "Friedenstruppe" in Erscheinung. Sie sollen einen "Friedensplan" garantieren, der de facto auf einen politischen Sieg der abchasischen Unabhängigkeitsbewegung hinausläuft. Materielle Basis dieses Erfolgs ist die militärische Überlegenheit der abchasischen Kräfte, die sie - neben anderen Faktoren - russischer Waffenhilfe verdankt. (Es gibt insgesamt in Georgien nicht mehr als 100.000 Abchasen. Selbst in ihrer eigenen Region stellen sie nur eine Minderheit von etwa 18 Prozent dar. Dennoch konnten sie die georgischen Truppen in die Defensive drängen.)

In den drei baltischen Republiken sind noch etwa 30.-35.000 russische Soldaten stationiert. Ihr planmäßiger und verbindlich zugesagter Abzug wird immer wieder hinausgezögert. Wurde anfangs mit materiellen Problemen argumentiert - Rußland sei noch nicht in der Lage, die Soldaten und ihre Familien aufzunehmen -, ist mittlerweile offensichtlich, daß Moskau mit dem Verbleib dieser Truppen ein Druckmittel in der Hand behalten will, um den Status der russischen Volksgruppen in den drei Republiken zu verbessern. (16)

Im Hintergrund lauert allerdings ein noch komplizierteres Problem: Die strategisch hochbedeutende, vor allem für die russische Flotte unentbehrliche Region von Kaliningrad (ehemals Ostpreußen) ist durch die Auflösung der UdSSR von allen Landverbindungen mit Rußland abgeschnitten. Ohne logistische Zusammenarbeit mit den baltischen Republiken ist diese vorgeschobene Militärposition Rußlands gefährdet, vermutlich auf Dauer sogar unhaltbar und auf jeden Fall strategisch stark abgewertet.

Einen ähnlichen militärischen Hintergrund hat der nationalistisch eingefärbte Konflikt um die Krim. Aus politischem Kalkül wurde sie Anfang der 50er Jahre der Ukraine gewissermaßen zum Geschenk gemacht. Zweifellos ist die Halbinsel rein geographisch betrachtet ein Anhängsel der Ukraine, ohne Landverbindung mit Rußland. Sie ist auch wirtschaftlich, in der Energieversorgung usw., völlig von der Ukraine abhängig. Andererseits ist die Bevölkerung überwiegend russisch (etwa 70 Prozent) und würde sich bei einer Abstimmung höchstwahrscheinlich für die Zugehörigkeit zu Rußland entscheiden. (17) Russische Nationalisten fordern den Anschluß der Krim, und der Oberste Sowjet in Moskau hat dies mit einer Resolution unterstützt. Das wurde jedoch von Präsident Jelzin ebenso verurteilt wie vom UNO-Sicherheitsrat.

Realpolitisch geht es vor allem um den Hauptkriegshafen der Schwarzmeer-Flotte, Sewastopol. Auf den will selbstverständlich auch Jelzin nicht verzichten. Er bevorzugt aber die gemäßigte Lösung einer langfristigen Pachtung des Hafens, die besser geeignet scheint, sich eine weitergehende Kooperation mit der Ukraine offenzuhalten. Dabei geht es, in militärischer Hinsicht, nicht bloß um Sewastopol, sondern insgesamt um die Nutzung der zahlreichen Stützpunkte und anderen Einrichtungen der Flotte, die zum allergrößten Teil auf ukrainischem Gebiet liegen.

Die Rückkehr der Kosaken

Ergänzt sei dieser kurze, nicht vollständige Rundblick durch ein besonderes "Meisterstück" von Boris Jelzin: Die politische Rehabilitierung und militärische Neuformierung der Kosaken! Dieser Name verbindet sich von der Zarenzeit und vom Bürgerkrieg nach der Oktoberrevolution her mit einer verhaßten Elitetruppe der Reaktion und der Konterrevolution.

Ihrer Entstehung nach sind die Kosaken keine Nation, sondern eine hauptsächlich aus russischen und ukrainischen "Wehrbauern" gebildete militante Kaste. Vom 15. bis zum 17. Jahrhundert hatten sie noch oft bewaffnete Konflikte mit der Zentralmacht ausgetragen, bis diese sie im 18. Jahrhundert (unter Katharina "der Großen") endgültig in ihren Dienst nahm und in eigenen Militärverbänden organisierte.

Obwohl die Kosaken keine Nationalität oder Volksgruppe bilden, also in der UdSSR auch keinen juristischen Status, keine spezifischen Rechte hatten und offiziell geradezu verschwunden schienen, haben sie den Sozialismus offenbar ausgezeichnet überlebt. Ihre Zahl in ganz Rußland wird heute mit vier Millionen angegeben. Die größten Gruppen, etwa die Hälfte der Gesamtzahl, leben im südwestlichen Rußland, nördlich des Kaukasus und zwischen Don und Wolga. Insgesamt stehen sie politisch der makabren Allianz aus Nationalkonservativen, Rechtsextremisten und "Neo-Kommunisten" nahe, die sich in Rußland schon zu Zeiten Gorbatschows zu formieren begann. Innerhalb dieses Spektrums scheinen ihre Präferenzen jedoch uneinheitlich zu sein. Die Kosaken sind in eine Vielzahl regionaler Gruppen mit jeweils eigener Tradition und Autonomie aufgesplittert und daher auch politisch alles andere als homogen - außer in dem Kernpunkt der Verteidigung des großen und einheitlichen Rußland.

Jelzin ist nun auf die Idee gekommen, die Kosaken wieder mit eigenen Verbänden und besonderen Funktionen in die russische Armee einzufügen. Eine entsprechende Verfügung erließ er am 15. März dieses Jahres. Ihr Hauptquartier soll in Stawropol, nördlich des Kaukasus, liegen. Eine besondere Rolle soll den Kosaken, laut Jelzins Dekret, "bei der Verteidigung der südlichen Landesgrenzen" zufallen - wobei dieser Begriff bekanntlich sehr weit auslegbar ist. Als vordringlich ist der Aufbau einer "Schnellen Eingreiftruppe" aus Kosaken geplant. Inzwischen sind auch Vorbereitungen für die Bildung einer autonomen Kosaken-Republik am Don (mit Rostow als Hauptstadt) in Gang gekommen.

Formaljuristisch ist Jelzins Dekret steckengeblieben, da es auf dem parlamentarischen Weg gestoppt und zur Prüfung ans oberste Verfassungsgericht verwiesen wurde. Doch pflegt sich Jelzin im allgemeinen um solchen rechtsstaatlichen Kleinkram nicht zu kümmern, so daß vermutlich auch in diesem Fall die praktische Umsetzung des Dekrets schon begonnen hat.

Für die Frontbildung gegen die "islamische Gefahr" hat die Wiederherstellung der Kosakenverbände eine besondere Funktion und Signalwirkung. Als hundertprozentige Anhänger der russischen Orthodoxie steht ihre extreme Verachtung und Feindseligkeit gegen alle Moslems historisch und aktuell außer Zweifel. Im Nordkaukasus und an der mittleren Wolga, wo viele moslemisch geprägte Völker Rußlands leben, wird man den Affront wohl bemerkt haben.

Anmerkungen
1) Hierzu gab es im AK die Artikel "Zentralasien - eine Region ,am Ende der Welt`" (353) und "Tadschikistan und die russische Armee" (354).
2) SZ, 23.6.93
3) SZ vom 4.1.93 und 6.5.93, gestützt vor allem auf den Bericht von amnesty international.
4) ND, FAZ und SZ vom 30.7.93.
5) FAZ, 29.7.93. Najibullah war der letzte von der Sowjetunion unterstützte Präsident Afghanistans.
6) SZ, 27.7.93
7) Die Domino-Theorie besagte kurzgefaßt: "Wenn wir die Kommunisten nicht in Vietnam militärisch stoppen, dann fällt als nächstes Thailand, danach Indonesien und Indien, usw." - so, wie in einer Kette von Dominosteinen ein Stein im Fallen den nächsten umreißt.
8) SZ, 9.8.93. Ähnlich der usbekische Präsident Karimow, der mit seinen Kollegen in Duschanbe die Neigung zur diktatorischen Ausschaltung jedweder Opposition teilt: "Man will Tadschikistan als Brückenkopf benutzen, um die Situation in Zentralasien zu sprengen." (ND, 10.8.93)
9) SZ, 16.7.93
10) ND, 28.7.93
11) SZ, 17.7.93
12) Die Aufforderung des Obersten Sowjet lautete, "alles zu unternehmen, um die Sicherheit der russischen Bürger in Tadschikistan zu gewährleisten". Konkret diente die Resolution dazu, die von Jelzin nach dem Zwischenfall vom 14. Juli angeordnete Verstärkung der russischen Truppen zu unterstützen. (SZ, 16.7.93) Ähnlich Verteidigungsminister Gratschow: "Rußland werde seine Bürger auch dann schützen, wenn diese gezwungen sind, außerhalb der Föderationsgrenzen zu leben." (ND, 20.7.93)
13) So schreibt z.B. Elke Windisch, Moskauer Korrespondentin, im ND vom 20.7.93: "Allein 1992 registrierte man über 600.000 russischstämmige Flüchtlinge aus anderen GUS-Staaten." Nebenbei leistet sie sich den erstaunlichen Irrtum, die Zahl der Russen in Zentralasien mit 30 Millionen anzugeben, was mehr als die Hälfte der dortigen Gesamtbevölkerung wäre. Tatsächlich handelt es sich bei den 30 Millionen um die Gesamtzahl aller außerhalb Rußlands lebenden Russen im Bereich der früheren Sowjetunion. Maximal 15 Millionen davon dürften auf Zentralasien entfallen, und zwar zum größten Teil auf Kasachstan, wo von einer "Islamisierung" kaum die Rede sein kann.
14) SZ, 2.6.93
15) Nations & Politics in the Soviet Successor States. Hrg. von Ian Bremmer und Ray Taras, 1993. S. 47.
16) Ende März gab Moskau die "vorübergehende Unterbrechung" des Truppenabzugs bekannt und begründete das mit "sozialen und wirtschaftlichen Problemen", "insbesondere die Schwierigkeiten bei der Unterbringung der rückkehrenden Truppen und ihrer Familien". (NZZ, 31.3.93) Im August deutete Außenminister Kosyrew jedoch an, "daß es zu einem Abzug der russischen Truppen ... nur bei einer vertraglichen Einigung über den Abzug kommen könne" und stellte ein Junktim mit der unbefriedigenden rechtlichen Situation der russischen Volksgruppen her. (FAZ, 17.8.93) - Dieser Punkt trifft aber nur auf Estland und Lettland zu, doch ist auch der Truppenabzug aus Litauen "vorübergehend unterbrochen". Vielleicht deshalb, weil die angestrebten Landwege zur Militärregion Kaliningrad in erster Linie durch Litauen führen?
17) Russisch dominierte Gremien der Krim proklamierten im Mai 1992 die Selbständigkeit und bereiteten für den August gleichen Jahres eine Volksabstimmung darüber vor. Diese wurde jedoch kurz darauf abgesagt. Das wurde mit ukrainischem Druck begründet, war aber real mindestens ebenso darauf zurückzuführen, daß maßgebliche Kreise in Moskau, u.a. Jelzin, keine Zuspitzung des Konflikts wünschten.

Knut Mellenthin

analyse & kritik, 25. August 1993